Für den "Inn-Keeper" Wolf Seibert und alle Träumer!
Es war wieder einmal eine dieser Nächte, für die man sich am Morgen hasste und das Spiegelbild, das sich einem beim Zähneputzen bot, zweimal betrachten musste, bis man sich erkannte. Seit 17.00 Uhr war ich zwischen Notaufnahme, OP-Saal und den 35 Betten der Bauchchirurgie gependelt und hatte, seit es gegen Mitternacht ging, weit mehr Kaffee getrunken, als mir guttat. Nun saß ich endlich an meinem Schreibtisch, 4.45 Uhr, einen halb fertigen OP-Bericht vor mir, und die Akten, die immer neue Patienten ankündigten, deren Erkrankungen sich irgendwo zwischen Bagatelle und Lebensbedrohung einordneten, waren fürs Erste abgearbeitet. Noch einmal goss ich mir dieses braune Getränk der Munterkeit ein, als mir der Abend zuvor einfiel.
Ich hatte ein paar Stunden bei bookrix verbracht und mich durch verschiedene Machwerke unterschiedlicher Qualität geschmökert, als mir auf der Profilseite eines jungen Mannes ein Videolink aufgefallen war. Der Klick war schnell gesetzt und durch mein Arbeitszimmer war eine Woge harmonischer Gitarrenmelodien geflutet, die die Stimme eines bekannten Rappers trugen, jedoch sanft und leise, wie ein Frühlingsregen. Thugz mansion.
Was also sprach dagegen, dort noch mal reinzuhören? Ich gebe zu, ich bin kein Netzprofi und bevor ich mich bei einer profilierten social site durchklicke, geh ich lieber gleich zu bookrix zurück. Klar, dass mir der Name des auf dem Profilbild schön trainierten Schreiberlings nicht mehr einfiel. Wer weiß, wie er zehn Jahre später aussehen würde!
Sch … Doch halt, das Buch hieß doch, na klar, Bartholomew, das … ew hatte mich gestört, ich hätte ein ... eus dort hingesetzt, wo mich ein … w angrinste. Das hatte sich doch in mein Frontalhirn gedrängelt!
Gut so, das war doch ein Weg zu Thugz Mansion! Wieder die Gitarrenmusik, beruhigend, friedlich, melodisch, harmonisch. Zu schnell fand sich der Kopf auf den Händen, auf der Tischplatte. Augen zu. Atmung still und gleichmäßig.
Zu schnell war der Weg durch die sandige Ebene gegangen und ehe ich mich ´s versah, fand ich mich in dieser dunklen, rauchverhangenen Kneipe wieder, von der mir letztens grinsend ein Kollege erzählt hatte, der wie ich hier seine Dienste schrubbte. Wir hatten noch über unsere überlasteten Medizinerhirne gewitzelt. Der erste Schritt zum Wahnsinn, zur BU, zum schön entspannten Dauerschlaf in der Klapse … und schon war ich hier. Nein, das konnte gar nicht gut sein.
Eine Wendeltreppe trug ihre Stufen hinauf in den wolkenlosen, von Sternen übersäten Südhalbkugelnachthimmel. Einladend drang ein leiser melodischer Ton aus der Höhe oder Tiefe – wer wusste das schon so genau? Ich jedenfalls nahm die Stufen eine nach der anderen und gerade in dem Moment, als ich die angelehnte Tür zu der heimeligen Bar aufschob, fiel mir ein, dass ich noch immer grün in grün trug, OP-Kleidung, nicht gerade das, was ich für einen Besuch im Dreamers Inn gewählt hätte! Doch hier war ich nun und würde keinen Rückzieher machen.
Vorsichtig blickte ich in den Raum, den mir mein Kollege als verräucherte irische Kneipe geschildert hatte, was sie auch war. Doch das war nicht alles, was das Inn zu bieten hatte. Da war ebenso gemütliche Baratmosphäre, Livemusikflair, Cocktailtime … einfach der Traum eines netten Abends ohne Ansprüche. Es war nicht eben überfüllt hier, doch auch nicht auffällig leer.
Leises Stimmengemurmel trug die Musik aus der Konserve, der Barmann schenkte mir ein strahlendes Lächeln und noch ehe ich meinen Wunsch ausgesprochen hatte, stand ein herrlich pfefferminziger Mochito vor mir. Eiskalt, beschlagenes Glas, frische Marokkominze am Zweig. Best off! Ich griff nach dem Glas, kostete, schenkte dem Keeper ein Lächeln und klemmte mich auf einen der knallrot bezogenen Barhocker.
Doch hoppla, wo war das Grün geblieben? Statt Baumwolle trug ich mein seidiges kleines Schwarzes, was mich gleich deutlich zufriedener stimmte. Den Mochito in der Hand schaute ich zur Bühne. Hier tat sich ganz offensichtlich etwas, eine Band bereitete ihren Auftritt vor.
Als sich eine Hand auf meine Schulter verirrte, zuckte ich merklich zusammen. Hinter mir hörte ich ein leises Auflachen. Erstaunt drehte ich mich zu dem Typen um, meine Meinung schon auf den Lippen, als es mir plötzlich die Sprache verschlug. Das war er, eindeutig! Tupac Shakur! Jener Ghettomusiker, der meine Nachtschicht so angenehm gemacht hatte, obwohl er schon nicht mehr in diesen Gefilden weilte.
„Hey, Babe!“, lachte er. „Wer wird denn so schreckhaft sein? Du hast uns doch erst eingeladen, nun genieß es auch.“
Was, wie bitte? Ich hatte hier keinen eingeladen, wusste noch nicht einmal genau, welche Synapse meiner überspannten Fantasie die Tür hierher geöffnet hatte …
Doch Tupac schien das ganz anders zu sehen. Mit einer witzig, spöttischen Verbeugung reichte er mir eine Hand und zog mich näher zur Bühne, wo sich seine Band inzwischen fertig machte, die Session zu beginnen. Hier rückte er mir einen Stuhl zurecht, winkte dem Barkeeper nach einem neuen Drink und sprang dann leichtfüßig auf die Bühne. Und dann war es soweit.
„I want you to close your eyes
And vision the most beautiful place in the world
If you in the hood on the ghetto street corner
Come on this journey
The best journey
Thugz Mansion
Acres of land and swimming pools and all that
Check it out”
Dazu der herrlich volle Klang einer zwölfsaitigen Konzertgitarre, sanfte Akkorde, leise treibender Rhythmus …
„Dear momma don't cry, your baby boy's doin good
Tell the homies I'm in heaven and they ain't got hoods
Seen a show with Marvin Gaye last night, it had me shook
Drippin peppermint Schnapps, with Jackie Wilson, and Sam Cooke
Then some lady named Billie Holiday
Sang sittin there kickin it with Malcolm, 'til the day came
Little LaTasha sho' grown”
Hier hätte ich noch stundenlang, nächtelang sitzen können, Tupac lauschen, Thugz Mansion.
Doch dann drang ein eindringlich jammernder, nerv tötender Ton an mein Ohr. Ein eindringliches Piepen, ohne jeglichen Zusammenhang zu den leise flüsternden Rhythmen der Akkustikgitarre. Piep, piep, piep, piep, immer weiter, endlos, nerv tötend, jeden Schlaf raubend….
Und da war ich wieder, Notaufnahme, 5.10 Uhr und der Pieper, die Hundepfeife für Ärzte, die nervigste Erfindung nach der Fernsehwerbung im Krimi, rief mich wieder zur Ordnung. Weit weg war das Dreamers Inn, fort auch Tupac und Thugz Mansion. Der nächste Fall wartete schon.
Und dennoch, inzwischen weiß ich, wie ich wieder dorthin komme, in den Inn, auf meinen knallroten Barhocker. Ein Lächeln dem Keeper, der kennt den Weg schließlich auch. Morgen Nacht gegen 4.30 Uhr? Ach ja, ich hätte gern mal jemanden ganz anderes, wie wäre es mit Louis Armstrong?
Die Hitze des Sommers drang durch die geschlossenen Fensterläden seines Hauses in Isfahan, als sich Abū Alī al-Husayn ibn Abdullāh ibn Sīnā, der später als Avicenna bekannt werden sollte, nach einer Überdosis an Abführmittel, verabreicht von einem seiner Schüler, entkräftet und ausgedörrt zum Sterben niederlegte.
„Ich habe lieber ein kurzes Leben in Fülle als ein karges langes Leben“, so hatte er es gesagt und so würde nun sein Wunsch in Erfüllung gehen. Mit 57 Jahren an Darmkrebs unheilbar erkrankt, würde er dem Diesseits den Rücken kehren und nichts gäbe es, was ihn noch von den Toren des Paradieses abhalten konnte, wäre da nicht seine rastlose Sorge um das Fortbestehen der Medizin gewesen, der er sich voll und ganz verschrieben hatte.
Würde sein Freund al-Juzjaniv das endlose Werk fortsetzen, würde die Medizinschule in Isfahan Bestand haben, würde das Wissen weitergegeben, das er in langen Jahren erarbeitet hatte? Das waren seine Zweifel, als er erschöpft die Augen schloss und den Beginn der Ewigkeit vor sich sah.
Angetan mit dem Turban des Hakim und einem wertvollen Burnus trat er hinaus in die ewige sandige Wüste, geleitet von dem Gefühl, in einer Blase dahinzutreiben. Schon nahm er die Weite und Endlosigkeit der Ebene wahr, als sich vor ihm ein Wall aus stacheligen, trockenen Sträuchern auftat. Ohne darüber nachzudenken, eilte der Hakim durch den lebenden Zaun hindurch und fand sich vor einer golden glänzenden Wendeltreppe wieder, die in die Unendlichkeit nach oben zu führen schien.
„Allahu akbar“ murmelte Ibn Sina, als er zögernd die Treppe betrat. Er folgte den endlosen Stufen und fand sich schließlich überraschend vor einer alten, angeschlagenen Holztür wieder, die er langsam öffnete. Dahinter lag ein niedriger Raum, dessen Tische und Stühle in ein dämmriges Licht getaucht waren. Leises Murmeln hob an, als der berühmte Arzt den Dreamers Inn betrat.
„Das ist er.“
„Das muss Avicenna sein.“
„Er ist tatsächlich gekommen!“ hörte Ibn Sina die Stimmen flüstern.
Dann erhob sich ein stattlicher hellhäutiger Mann mit dunklem Haar und kam würdig auf ihn zu. Er trug eine weiße Toga, die seine in Sandalen gekleideten Füße nicht völlig verdeckte und hielt einen mannshohen Stab in der Hand, der von einer bronzenen Schlange umfasst wurde.
„Tritt ein, edler Hakim, der du unsere Tradition fortgesetzt hast.“ begrüßte ihn der Grieche. „Nimm Platz an unserem Tisch.“
Er wies auf eine Tafel, an der sich ein Dutzend Männer und Frauen verschiedenster Hautfarbe und in malerischen Gewändern niedergelassen hatten.
„Mein Name ist Hippokrates. Hier siehst du die Angehörigen deines Standes, die in den kommenden Jahrhunderten dein Wissen und Können weitergeben werden. Sei willkommen.“
Hippokrates bat den persischen Hakim zu Tisch, wo für den Orientalen auf einem erhöhten Podest weiche Sitzkissen vorbereitet waren. Ibn Sina sah, dass er den Ehrenplatz am Kopfende des Tisches einnehmen sollte und runzelte die Stirn. Ein klassisch in schwarzes Tuch gekleideter, bebrillter hellhäutiger Mann im mittleren Alter mit Neigung zur Glatze erhob sich, stellte sich als Ferdinand Sauerbruch vor und deutete lächelnd auf Avicennas Platz.
„Sie haben uns heute zusammengerufen, um über die Zukunft der Medizin zu diskutieren. Wir sind gekommen. Nun nehmen Sie bitte auch Ihren Platz ein.“
Nachdem sich der alte Arzt umständlich niedergelassen hatte, stellte ihm Hippokrates die Runde nach und nach vor. Müßig ist es, all die berühmten Namen aufzuzählen, doch nach geraumer Zeit, als Avicenna sein erstes Glas Pfefferminztee getrunken hatte, begannen die Damen und Herren über dies und das aus dem weiten Gebiet der Medizin zu sprechen. Der alte Hakim hörte nun gespannt, von Ambrose Paré beispielsweise, wie jener das barbarische Ausbrennen von Amputationswunden zur Blutstillung abgeschafft hatte und statt dessen dazu übergegangen war, die Gefäße mit Fäden zu verschließen.
Er ließ sich von Albert Schweitzer Geschichten von seinem Krankenhaus in Afrika berichten und lauschte andächtig Robert Koch, als dieser begann, über seine Infektionslehre zu dozieren. Der Abend schritt voran und Avicenna verstand sehr wohl, was ihn in den Dreamers Inn geführt hatte. Hier waren sie, jene Männer und Frauen, die die Zukunft der Medizin darstellten. Sie würden sein Werk fortsetzen und er brauchte sich keine Sorgen um das Fortbestehen des von ihm erarbeiteten Wissens zu machen.
Auch wenn er manches noch nicht verstand, was seine neu gefundenen Kollegen ihm zu beschreiben suchten, wie zum Beispiel die Entdeckung der radioaktiven Strahlung von Marie Curie, einer ausgesprochen attraktiven braunhaarigen Schönheit; so sah er doch ihren Forschergeist und ihr hohes Verantwortungsbewusstsein.
Sie saßen noch lange bis in die Nacht hinein und scherzten und erzählten. Das Werk würde weitergehen, immer weiter, bis Gesundheit kein Privileg mehr war und allen zustand, wie Speise und Schlaf.
Avicenna lächelte. Gerne hätte er in dieser Zukunft gelebt, gerne sich das Wissen der kommenden Generationen angeeignet.
Doch wir wären nicht im Dreamers Inn, wenn unmögliches nicht möglich wäre. Alexander Fleming, der Erfinder des Penicillins schließlich führte Avicenna unter geheimnisvollen Andeutungen in einen kleinen versteckten Nebenraum. Hier sah der alte Arzt ein merkwürdiges Gerät, einer Art Kapsel gleichend. Flemming bat Ibn Sina, auf einem Stuhl innerhalb des Mechanismus Platz zu nehmen.
„Dies ist der Ort, an dem Wünsche erfüllt werden.“ lächelte er und bediente einige Knöpfe und Rädchen.
Und während der Hakim noch verwundert zuschaute, wurde er durch Raum und Zeit gerissen und fand sich wieder…. Ja, wo meinen Sie, könnte ein solch leidenschaftlicher Forscher gelandet sein?
Gewiss, in einem Genlabor. Und er wird dort tatsächlich für uns weiter arbeiten und seiner größten Passion nachgehen, der Medizin. Mag sein, dass er uns in einigen Jahren bei der Verleihung des Nobelpreises für Medizin wieder begegnet. Unter anderem Namen und mit jüngerem Gesicht, doch er ist immer noch Avicenna, der Hakim von Isfahan.
Und er hat ein Hobby gefunden, oder wie er es nennen würde, eine freundliche Zerstreuung. Was er tut? Nun schauen Sie es sich selbst an. Star Trek, das kennen Sie doch! Nun nehmen Sie eine Folge von Raumschiff Voyager her und sehen Sie sich das Medizinisch-holografische Notfallprogramm an. Erkennen Sie ihn? Ich glaube, das ist Avicenna, in seiner neuesten Rolle…
"Dup dor a'az Mubster!"
Von Avicenna bis Tupac Shakur beinhaltet zwei Geschichten, die ich zu einem alten Gemeinschaftsprojekt beigetragen habe.
In der Community "Unsere eigene Fantasy" hat Wolf Seibert eine "Kneipe" eröffnet, den Dreamers Inn. Hier könnt Ihr meine Beiträge zu dem fiktiven Traumprojekt noch mal nachlesen, auch wenn ihr keine Communitymitglieder seid.
"The Dreamers Inn" wurde uns zur Nutzung von Wolf Seibert ausdrücklich zur Verfügung gestellt.
Viel Spaß mit seinen und meinen Ideen!
Sophie
Texte: Die Grundidee zum "Dreamers Inn" stammt von Wolfgang Seibert, der eingeladen hat, seine Welt mit eigenen Charakteren zu füllen - was ich gern gemacht habe.
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für den Innkeeper und alle Träumer
Ein dickes Dankeschön an "thehappiestgirl" für den genialen Schlusssatz zu "Avicenna".
Community: "Unsere eigene Fantasy"
Beitrag: "The Dreamers Inn"