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Der alte Mann und die Katze

Erwin Funk lebte allein. Er lebte schon lange allein. Seine Frau, obwohl jünger als er, war vor über drei Jahren gestorben. Aber das altmodische Ehebett — Schleiflack weiß mit Nussbaumleisten — hatte er behalten. Die linke Hälfte war sogar noch bezogen, obwohl sie doch immer leer blieb. Jedenfalls seit letztem Herbst. Bis dahin hatte dort, auf dem dicken Kissen, Kitty geschlafen. Allerliebst hatte Erwin das gefunden, die graue Kitty auf dem geblümten Kissenbezug. Über fünfzehn Jahre alt war sie geworden; dann ging es nicht mehr: Sie konnte kaum noch laufen, und er musste sie sogar in ihre Katzentoilette tragen.
Erwin Funk weinte wie ein Kind, wenn er an ihre letzte Stunde dachte, an die Minute, in der sie einschlief für immer. Dr. Hermes, der Tierarzt, hatte versucht zu trösten: „Sie hat‘s hinter sich. Hoffentlich können wir auch mal so schmerzlos abtreten.“ Wie ein Kind weinte er, der alte Funk mit seinen sechsundsiebzig Jahren, wenn er daran dachte. Warum auch nicht? Ihn sah und hörte ja niemand. „Kittylein, Kittylein“, schluchzte er — ja, sie war nun auch schon über ein Jahr nicht mehr da.
Wie groß und leer eine Zweizimmer-Neubauwohnung sein kann, das weiß nur, wer plötzlich darin allein ist. Es hat keinen Sinn, vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer oder ins Bad oder in die Küche zu gehen, außer wenige Male am Tag. Man kann auch mal auf den Balkon treten. Aber was tut man die restlichen Stunden und Stunden?
Der Supermarkt lag gleich um die Ecke; das Einkaufen war also schnell erledigt. Zum Friseur muss man nur ein Mal im Monat. Die Post besteht fast nur aus Werbung. Erwin Funk hatte zu viel Zeit und zu wenig zu tun. Eine Zeitung hielt er sich nicht, denn lesen machte ihn müde und auch ein wenig konfus. Ein Mensch, der über vierzig Jahre lang bei den städtischen Straßenbahnwerken gearbeitet hat — an der Wand hing das goldgerahmte Treuediplom — besitzt keine Übung im Lesen. Natürlich hatte der alte Mann einen Fernseher. Doch da gab es ein Problem: Wenn er den Ton nicht voll aufdrehte, sah er immer nur die Bilder. Vierzig Jahre Schweißer — das geht aufs Gehör! Nur die Tiersendungen verfolgte er mit höchster Lautstärke; dann klopften auch schon die Nachbarn — Neubauwände eben!
Erwin Funk war sein Leben lang ein Familienmensch gewesen, nannte Kinder und Enkelkinder sein eigen, doch die wohnten alle in anderen Städten. Außer ein paar Fotos an den Wänden hatte er nichts von ihnen. Die ehemaligen Kollegen aus der Straßenbahnwerkstatt waren fast alle schon unter der Erde. Und jedes Jahr starben wieder zwei oder drei. Erwin hasste die Begräbnisse! Sie kamen ihm vor wie eine letzte Mahnung. Eine Mahnung? Ja, er fand es irgendwie sündhaft, die späten Lebensjahre so sinnlos zuzubringen. „Man lebt nur einmal“, sagte er immer, „man lebt nur einmal.“ Aber wofür?

Ab und zu kam Frau Schwenke aus dem dritten Stock zu Herrn Funk, eine resolute Matrone, die laut genug sprach, um sich ihm verständlich zu machen. Sie räumte ein wenig auf, kümmerte sich um seine Kleidung, wusch auch mal seine Gardinen mit, ja, das ging nun schon ziemlich lange so. Eines Tages, als Frau Schwenke ihm zwei Jacken aus der Reinigung zurückbrachte, öffnete er nicht auf ihr Klingeln. Doch sie hörte Geräusche in der Wohnung: ein Poltern, laute Flüche, schwere Schritte. Dann riss Funk die Wohnungstür auf. Er war total betrunken. So etwas! Der liebe alte Mann führte sich auf, wie sie ihn noch nie erlebt hatte: schrie sie an, riss ihr die Jacken aus der Hand, schubste sie grob in Richtung Tür …
Erst war Frau Schwenke tief verletzt. Dann überlegte sie, dass er sich wohl geschämt hatte, der alte Funk, in so einem Zustand erwischt worden zu sein. Ob er öfter trank? Während sie ihre Mangelwäsche penibel nachbügelte, kam sie ins Grübeln: Es tut nicht gut, wenn der Mensch allein ist — das war so ungefähr das Ergebnis.
„Herr Funk, es geht nicht, dass sie da in der Wohnung so einsam vor sich hin leben“, rief sie ihm ins Ohr, als er sich mit drei Nelken für den gestrigen Auftritt bei ihr entschuldigte. „Sie brauchen wieder eine Katze!“ Am Nachmittag wunderte sich Erwin Funk, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. „Eine neue Kitty, eine neue Kitty“, murmelte er unter Tränen — und öffnete die Lambrusco-Flasche.
Wenn er etliche Gläser, eine ganze Flasche — oder zwei — intus hatte, veränderte sich der alte Mann
fast so, wie man es aus der Geschichte von Jekyll und Hyde kennt: Alle Sanftmut und Sentimentalität fiel von ihm ab. Er fluchte wütend vor sich hin, warf die Türen ins Schloss, trat gegen die Möbel, stöhnte, rülpste, grunzte, ließ sich auf jede Weise gehen. Seine Bewegungen bekamen etwas Gewalttätiges, und einige Male schon hatte er sich selber ernsthaft verletzt. Irgendwann stürzte er dann zu Boden, und es war ihm egal, was er dabei umriss oder unter sich begrub. Worauf war er so böse? Auf sich, auf sein Leben?
Am übernächsten Tag brachte Frau Schwenke Herrn Funk in einem braunen Karton mit Löchern ein Katzentier. Er war nüchtern. Seine Augen wurden so groß, wie Frau Schwenke sie noch nie gesehen hatte. Seine Hände griffen zitternd — war es Vorfreude oder Entzugserscheinung? — in den Karton nach dem verschreckten Tier. Obwohl es nicht grau war, sondern weiß mit rötlichen Flecken, rief Erwin sogleich: „Kitty, Kitty, da bist du ja!“
„Das ist ein Kater“, sagte Frau Schwenke ausreichend laut, „er ist kastriert, vier Jahre alt und heißt Anton.“
Erwin nahm das misstrauisch blickende Wesen einigermaßen sanft auf den Arm: „Ach Kittylein, wie werden wir es gut haben!“
Frau Schwenke dachte mehr an das Praktische: „Herr Funk, Sie brauchen sofort eine Katzentoilette, einen Kratzbaum, einen Tragekorb und natürlich Katzenfutter für Anton.“
„Es ist alles noch da, von Kitty“, erwiderte Erwin, „nur kein Dosenfutter. Aber heute gibt es erstmal Hähnchenschenkel bei uns, Kittylein..."
Er küsste ihr beziehungsweise sein Köpfchen, und Anton suchte leicht überfordert das Weite. Unter dem Sofa fand er es weit genug.
Die rührende Szene nahm nach Frau Schwenkes Abgang leider eine ungute Wendung. Vor Glück, nicht mehr allein zu sein, genehmigte sich Erwin eine Flasche Lambrusco — nein, fast zwei — und geriet in den beschriebenen Zustand. Anton vertauschte seinen Platz unter dem Sofa mit einer Nische in der Küche, die Erwin Funk seit Jahren nicht mehr bemerkt hatte — zwischen Kühlschrank und Spüle.
Von Hähnchenschenkeln war nicht mehr die Rede. Die Katzentoilette wurde auch nicht hervorgeholt. Stattdessen ruderte Erwin Funk wild grölend durch die Wohnung, warf Stühle um, fegte Geschirr vom Küchentisch und schleppte sich schließlich ins Bad, wo er einschlief.
Anton hatte Durst. Und trotz der Angst, die ihn fast gelähmt hatte, kroch er irgendwann, als lange genug alles ruhig gewesen war, aus seinem Versteck hervor, sprang auf den Rand der Küchenspüle und leckte die Wassertropfen vom Hahn ab. Aus dem Bad hörte er kräftiges Schnarchen. Das kannte er; sein früheres Herrchen hatte auch immer so unmelodisch geschnurrt beim Schlafen, aber doch anders.
Katzen sind neugierig. Also schlich Anton zur Badezimmertür. Dort lag der Mann, der ihn so grässlich erschreckt hatte. Aber jetzt schien er friedlich. Anton blieb eine Weile auf Distanz sitzen, sah schließlich keinen Grund zu verduften und legte sich auf den Teppich vor der Badezimmertür. Beide schliefen.
Am nächsten Morgen fühlte sich Erwin Funk elend. Aber als er sah, was seine Katze angerichtet hatte, musste er doch lachen. Die Duschwanne war zum Katzenklo geworden, und in der Küche fehlte einer der Hähnchenschenkel. Wohlgemerkt: einer. Der andere schien unberührt.
Erwin holte die Katzentoilette aus dem Abstellraum, füllte den Rest einer großen Tüte mit Katzenstreu hinein, stellte ein Schälchen Wasser auf und knabberte dann zum Frühstück den zweiten Schenkel. Anton schaute aus angemessener Entfernung zu.
„Komm mal her, Kitty!“ Keine Reaktion. „Na, komm schon!“ Anton gähnte. „Schau mal, willst du nicht noch ein bisschen von dem Hühnerfleisch?“ Anton zog es vor, erstmal aus dem Wassernapf zu trinken und wandte Erwin sein Hinterteil zu. „Ich glaube, du bist ein ziemlich stolzer Kerl, A n t o n !“ Nach diesen Worten stand Funk auf und ging einkaufen.
Im Supermarkt gab es alles, was Katzen mögen. Und natürlich auch alles, was Menschen gern haben. Zum Beispiel Lambrusco, Liter einsfünfzig. Doch an diesem Regal ging Erwin Funk heute achtlos vorbei. Das gelang ihm nicht immer. Aber immer öfter.
Einen schweren Rückfall erlitt er nach der Beerdigung seines Freundes Fritz, der sich im Treppenhaus seines Reihenhäuschens aufgehängt hatte. Einfach aufgehängt! Es war kein schönes Begräbnis gewesen, ohne Musik, ohne Pfarrer. Und der Sohn, der Fritz gefunden hatte, schaute am Grab immer noch so drein, als ob er seinem armen Vater böse sei.
Als Frau Schwenke am Abend mal nach den beiden sehen wollte, fand sie Funks Wohnung in einem schlimmen Zustand vor. Ihn selbst fand sie neben dem Bett. Anton fand sie gar nicht.
„Die Katz is weg“, lallte Erwin Funk. Aber Anton hockte mit weit aufgerissenen Augen in seiner Geheimnische zwischen Kühlschrank und Spüle. Frau Schwenke kippte den restlichen Lambrusco einfach ins Klo, hievte Erwin Funk auf das Bett und kochte ihm einen starken Kaffee. Dann räumte sie notdürftig auf, versuchte Anton hervorzulocken, was misslang, und holte schließlich Eiswürfel aus dem Kühlschrank, die sie Herrn Funk mit einem Waschlappen auf die Stirn legte.
Nachdem er halbwegs zu sich gekommen war, hielt sie ihm eine Standpauke. Er habe jetzt keinen Grund mehr, sich so gehen zu lassen! Er sei jetzt nicht mehr allein! Und er habe jetzt eine Verantwortung - auf Jahre! Wenn er betrunken durch die Wohnung tobe, könne ja wer-weiß-was passieren! Die Nachbarn tuschelten schon über den grässlichen Lärm. Und s i e würde von jetzt an für ihn und Anton einkaufen!
Als sie aus dem Schlafzimmer trat, sah sie Anton mitten im Flur sitzen. Er schaute, als wollte er sagen: So war’s richtig!

Am nächsten Morgen schlief Erwin Funk bis in die Puppen. Den linken Arm hatte er von sich gestreckt. Irgendwann spürte er etwas an seinen Fingern. Es war Antons Zunge. Der Kater thronte auf Kittys Kissen. Aber das sah Erwin nicht. Er fühlte es nur. „Ich bin nicht mehr allein“, murmelte er im Halbschlaf, „ich muss leben, ich muss gesund bleiben, ich muss leben … man lebt nur einmal.“ Dann sank er in angenehme Träume.
Erwin Funk lebte noch gut zehn Jahre. Als Anton fünfzehn wurde — wie damals Kitty! — fand er, nun sei es genug. Sie starben beide ganz friedlich innerhalb weniger Tage, wie es öfter geschieht bei sehr engen Partnern. „Ihr Herz hörte einfach auf zu schlagen“, sagte Frau Schwenke.

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Tag der Veröffentlichung: 06.05.2009

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