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Nur ein Schritt

Der Wagen hielt. Bodo öffnete sanft, fast zärtlich die Beifahrertür, schlang die Lederjacke ein wenig fester um sich und stieg behutsam aus. Unter der Jacke — etwa dort, wo das Herz ist — beulte sich das Leder ein wenig. Und genau dort lag Bodos rechte Hand auf der Jacke, eine ganz schöne Pranke. Nachdem er beide Füße auf den Asphalt gesetzt hatte, stemmte er sich langsam hoch, blieb zwei Sekunden stehen und entschloss sich dann, diesmal die Autotür nicht hinter sich zuzuschlagen. Das wäre zu laut gewesen. Und Minnie war sowieso schon ganz nervös; das Schlagen der Tür hätte sie bestimmt noch mehr verschreckt. Schon während der kurzen Autofahrt hatte sich ihrem Mäulchen ein unentwegtes Quieken entrungen, manchmal sogar ein schrilles Kreischen, dann wieder ein tiefes Jaulen. Man sagt immer: Katzen machen miau. Mi-au, das war so ziemlich die einzige Lautfolge, die Bodo noch nie bei Minnie gehört hatte.
Da hockte sie nun, unter seiner Jacke, unter seiner großen Hand, an seiner breiten Brust, hin und her gerissen zwischen warmer Geborgenheit und maßloser Angst. Ja, Katzen hassen Veränderung, jeden Ortswechsel, erst recht per Auto! Bodo wusste das. Aber: Es musste ja sein.
Der Wagen hatte genau vor der Pforte gehalten. Es war ein riesiges eisernes Tor mit Elektrodraht auf den Pfosten; wie ein Hochsicherheitstrakt sah das aus. Auch hier wollte man auf diese Weise nicht Eindringlinge abhalten, sondern Ausbrechern die Flucht vereiteln. Bodo drückte den Klingelknopf, ein Summer ertönte, und die wuchtige Tür öffnete sich automatisch, geradezu einladend. Bodo aber blieb davor stehen.
Stumm sprach er zu dem Wesen an seinem Herzen: ‚Ja, du kleine Mausekatze, das ist jetzt so eine Sache. Sollen wir weitergehen durch diese große Tür? Du weißt ja, Türen kriegt man alleine nicht wieder auf. Nur ein Schritt von draußen nach drinnen, und plötzlich ist man gefangen — manchmal sehr lange. Aber es muss sein, mein kleines Schleckerschnäuzchen.’
Bodo ist ein kräftiger Kerl, ein mächtiges Mannsbild, und hätte er diese Worte laut gesagt, wäre ein zufälliger Ohrenzeuge bestimmt irritiert gewesen — ein Schrank von Mann mit einer jungen Katze unter der Jacke redet sentimentales Zeug. Aber Bodo sprach ja nur von Herz zu Herz mit seinem Tier, niemand konnte es hören. Und niemand war da, um ihm zu helfen. So tat er den einen Schritt von draußen nach drinnen, und das Tor schloss sich hinter ihm mit einem saftigen Schmatzen.
Quer lag das Empfangsgebäude vor ihm. Im Hintergrund schlugen die Hunde an, eine Menge Hunde. Minnies Krallen gruben sich in Bodos Hemd und durch den dünnen Stoff in seine Haut. Und eine ganz neue Vokabel kam aus der Tiefe ihrer Seele: „Wiahawioh“.
Das Tierheim der Stadt lag etwas außerhalb, mitten in Wald und Wiesen, eigentlich ganz idyllisch. Es hatte auch einen guten Ruf — soweit Tierheime gut sein können. Bodo fühlte sich hier allerdings wie ausgesetzt. Dies war ganz und gar nicht sein Milieu. Er lebte mitten in der Stadt, lebte von der Stadt, von der gedankenlosen Menge in der Fußgängerzone, die, selten genug, ein paar Almosen in seine Mütze geworfen hatte. Mit diesen Massen kannte er sich aus. Sie waren blind, blöd und bar aller Gefühle. Aber seitdem sie das Kätzchen sahen, das aus seiner abgeschabten Lederjacke lugte, funktionierte die Automatik ihrer verblassten Seelen besser, und süßlich grinsend zückten sie Silbermünzen! So konnte man leben, zu zweit, ein Mann und eine Katze.
Hier draußen dagegen, fast auf dem Land, noch dazu eingeschlossen in diesen Sicherheitstrakt für Tiere, fühlte sich Bodo wie auf dem Hochseil. Aber: Es musste ja sein. Er öffnete die Tür zum Empfang so heftig, dass sie fast aus den Angeln sprang. Die Frau hinter der Theke blickte erschrocken auf.
Wie jemand, der eine äußerst wertvolle Briefmarke aus einem Umschlag klaubt, nahm Bodo seine Minnie aus der Jacke. Die Beule verschwand. „Das ist Minnie.“
Die Frau am Tresen zückte ein Formular. Es ging alles sehr schnell. Dann sagte sie: „Kommen Sie mit!“
Sie eilten durch lange hallende Gänge. Das Gebell der Hunde kam näher, wurde wütender. Minnie sträubte sich: „Wiahawiooooh!“ Bodo drückte seine große Hand noch etwas fester auf das Katzenfell. Dann sah er die hundert anderen Putzies, Fleckies, Charlies, Mickies und Peterles, eng an eng hinter Gittern, und es drehte ihm fast das Herz um. ‚Mein Schätzlein, es hilft nichts. Auch wenn du gar nichts dafür kannst, hier musst du auf mich warten.’ Und damit die Frau nicht sehen konnte, dass ihm die Tränen nur so herunterliefen, stellte er sich mit dem Rücken zu ihr, während sie die Klappe eines Käfigs öffnete. ‚In nicht mal drei Jahren komm ich wieder, meine Süße, um dich abzuholen. Aber dann bist du sicher schon lange nicht mehr hier. Sondern bei ganz anderen Menschen. Und wohnst in einem schönen Haus, mit einem großen Garten.’
Abrupt drehte er sich um. „Da!“ Und er drückte sein Tier der Frau in die Hand. Dann ging, nein, rannte er zum Ausgang, stieg durch die immer noch offene Wagentür ein und schrie dem Mann am Lenkrad zu: „Fahren Sie los!“
Es war eine lange stumme Fahrt. Bodo ging, wie schon hundert Mal, die Sache, die verdammte Sache durch den Kopf: ‚Hätte der Wachmann nicht plötzlich das Tor geöffnet und einen Schritt auf mich zu gemacht ...’
Genau vor der Gefängnispforte stoppte der Wagen. Schwerfällig stieg Bodo aus, schritt darauf zu, blieb einen Augenblick in der geöffneten Tür stehen, machte dann den einen Schritt von draußen nach drinnen und verschwand für zwei Jahre, neun Monate — diesmal wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit bewaffnetem Raubüberfall. Das Tor schloss sich hinter ihm mit einem saftigen Schmatzen.
Die kleine Katze Minnie passierte drei Wochen später ihre Schicksalspforte noch einmal. Zwar noch hinter den Gittern eines Katzenkorbs, aber, ohne dies schon zu ahnen, auf dem Weg in die Freiheit. In ein recht schmales Haus mit einem sehr kleinen Garten, aber in die Freiheit.


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Tag der Veröffentlichung: 06.05.2009

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