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Der Hoteldetektiv, Signor Berutti, trat ehrfürchtig vor seine Chefin, die er allerdings nie so vulgär bezeichnet hätte - sie war für ihn die tief verehrte Prinzipalin des weltberühmten Luxushotels am Canale Grande. Das Haus befand sich seit sieben Generationen im Eigentum der Familie Daponte.

Signora Daponte blickte kaum auf und wies auch auf keinen der roten Samtsessel. Schief verneigte sich Berutti mit dem Ausdruck eines untröstlichen Menschen, der in das Büro der großen Dame einzudringen nicht umhin konnte, und gleich ein zweites Mal verneigte er sich - wenn auch etwas knapper - vor dem riesigen Kater auf dem Schreibtisch der Signora, vor Ulysses.

Ein wahrer Fünf-Sterne-Kater war dieser Ulysses von Herkunft und Wesen, also durchaus standesgemäß. Er hatte es nach dem Ableben des lieben Gatten Daponte bei seiner Witwe zum ständigen Begleiter und Gesellschafter in allen Lebenslagen gebracht. Deshalb war es dem edlen Tier, das die Grandezza eines italienischen Grafen, die Manieren eines britischen Kolonialoffiziers und die Schönheit eines französischen Filmstars besaß, auch erlaubt, in den Stunden, da die Signora sich nicht in ihre Privatgemächer zurückziehen konnte, die Gesellschaftsräume der Nobelherberge - von den vielen Stammgästen wie selbstverständlich toleriert, von den anderen bestaunt - majestätisch zu durchstreifen, sich auf der Terrasse am Canale zu sonnen, in der Bar sein Mittagsschläfchen zu halten und abends auf einem Sims in der pompösen Halle zu thronen, als wäre er hier der Alleinherrscher.

Nur der Speisesaal und die Küche waren für Ulysses tabu; das hatte er von Kindheit an gelernt, das heißt vor über zwölf Jahren, als der Verirrte der Signora zugelaufen war.

Berutti, der Hausdetektiv, ergriff auf einen fragenden Blick der Signora hin das Wort: „Wir haben ein Problem, gnädige Frau, für das ich persönlich keine Erklärung finde; aber auch das gesamte Personal bis hinauf zum Herrn Direktor steht vor einem Rätsel. Es begann vor einigen Wochen, als sich Lady Ashcroft - ein langjähriger Stammgast, wie Sie wissen - beim Zimmerservice beschwerte, und zwar - pardon! - mit den Worten: ‚In meiner Suite stinkt es!’ Man eilte hinzu, und tatsächlich: Ein unangenehmer Geruch war nicht zu verkennen. Und das, obwohl man die Balkontüren geschlossen fand und die Lady gerade erst von einem Ausflug zum Lido zurückgekehrt war. Nun, man lüftete gründlich und versprach, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen. Doch das Vorkommnis wiederholte sich fast täglich. Und wir mussten den hoch geschätzten Gast in eine andere Suite verlegen, noch dazu auf die Rückseite des Hauses, was die Lady ‚höchst bedauerlich’ fand. Es folgten kurz darauf mehrere ähnliche Beschwerden aus unterschiedlichen Teilen und Etagen des Hauses. Und immer ging es um diesen penetranten, süßlichen Geruch, der die Gäste belästigte. Immer waren die Gäste außer Haus gewesen. Und immer fand man die Balkontüren fest verschlossen.“ Harsch unterbrach die Signora die weitschweifige Rede des kleinen Angestellten, und ebenso harsch traf ihn ein Blick aus den stahlgrauen Augen des Katers Ulysses. „Was haben Sie unternommen?“

Mit großer Geste setzte Berutti zu einer rechtfertigenden Auskunft an: „Wir überprüften die Klimaanlage, die Wasserhähne und -abflüsse in den Bädern, die Wasch- und Pflegemittel, das Reinigungsmaterial für die Böden, das Teppich-Shampoo und das Spray zur Auffrischung der Seidentapeten, doch konnten wir keine Ausdünstung feststellen, die dem störenden Geruch auch nur nahe kam.“

Wieder dieser kurze Blick der Signora - und der noch kürzere des Katers. „Was sagt mein Hoteldirektor dazu?“ - „Er schlägt vor, Signor Borsa einzuschalten, einen sehr guten Bekannten, einen erfahrenen Kriminalisten, der letztes Jahr pensioniert wurde. Ein alter Fuchs, wie der Herr Direktor sagt.“ - „Gut.“ Damit war das Gespräch beendet. Der Kater gähnte ungeniert, ohne die Pfote vor das Maul zu halten, und Berutti trat ab.

*****

Der Hoteldirektor, Dottore Alessio, und sein Freund Borsa saßen bei einer sehr guten Flasche Chianti, der immerhin fast halb so alt war wie die beiden Herren, in einem separaten Stübchen hinter der Bar. „Ich habe die Gästelisten, die Sie mir gaben, lieber Dottore, durchgesehen, und mir fiel etwas auf: Die verpesteten Suiten waren meist von Ehepaaren belegt, in zwei Fällen von einzelnen Damen, aber nie nur von männlichen Gästen.“ - „Was schließen Sie daraus?“ - „Vorerst nichts.“ Man trank. „Gab es in der fraglichen Zeit Neueinstellungen beim Zimmerpersonal?“ - „Gute Frage, Borsa, werde ich überprüfen lassen.“ Borsa kratzte sich nachdenklich am spärlichen Haaransatz. „Wir sind einem Geruch auf der Spur - nein, das ist das falsche Wort, weil ein Geruch eben keine Spur hinterlässt. Und wir wissen nicht einmal, wie und wonach dieser leichte Gestank riecht. Ein paar Dutzend Gäste haben damit Kontakt gehabt und noch viel mehr Leute vom Personal. Und das Ergebnis? Keine brauchbare Beschreibung! ‚Süßlich’, sagen manche, ‚scharf und alkoholisch’ heißt es bei anderen. Eine griechische Reedertochter äußerte, es röche nach verfaulendem Obst, und der Gatte einer deutschen Millionärin deutete auf billigen Fusel - keine Ahnung, woher der so einen Geruch kennt.“ Man trank. „Lieber Borsa, was halten Sie davon, Hunde einzusetzen, Spürhunde, die entsprechend abgerichtet sind?“ - „Abgerichtet sind die auf Drogen, auf bestimmte Lebensmittel, auf Sprengstoff, aber nicht auf unser unbeschreibbares ‚Parfüm’. - Trotzdem: Wir können es versuchen. Ich werde mit einem Bekannten sprechen, der die Hundestaffel der Polizei trainiert. Prost, Alessio, gute Idee - und sehr guter Wein.“

Inzwischen eskalierten die Beschwerden der Gäste. Das Hotel sei ‚verseucht’, schnaubte eine spanische Flamenco-Diva, die im ungeliebten Venedig gastieren musste. Und gar von Leichengeruch sprach eine Hollywood-Schöne auf Hochzeitsreise. Sogar zwei vorzeitige Abreisen kamen vor - so etwas hatte es in diesem Haus noch nicht gegeben.

Auch von den schnüffelnden, witternden Polizeihunden wurde keine konkrete raumbezogene Quelle des Odeurs ausgemacht. Folglich musste - so schloss der Kriminalist Borsa messerscharf - etwas oder jemand von außen in die betroffenen Suiten eindringen und die Zimmerluft mit dem üblen Geruch versetzen. Aber was oder wer und - vor allem: warum? Nie war etwas gestohlen oder auch nur verändert worden - in dieser Beziehung waren die Aussagen der Gäste einhellig. Hatte es der Eindringling - falls es ihn gab - einfach darauf abgesehen, dem hoch renommierten Haus zu schaden?

Ein Betreten des Hotels über die Außenwände schloss Borsa so gut wie aus. Stets hatte man die Fenster der Suiten ja geschlossen vorgefunden. Und die immer etwas feuchten Wände auf der Wasserseite wären selbst für Weltmeister der Fassadenkletterei kaum zu überwinden gewesen. Die Hotelrückseite dagegen hatte extrem schmale, schießscharten-ähnliche Fenster, nur winzige Simse und keine Balkone.

Folglich befand sich der Feind, der ‚Geruchsterrorist’, offenbar im Haus. Wie aber war es diesem theoretischen Übeltäter möglich, die hochmoderne Schloss-Technologie der Raumtüren ohne jede Spur von Gewalt zu überwinden? Die Zeit der Dietriche und Nachschlüssel war schließlich lange vorbei!

Berutti, der Hausdetektiv rief eines Tages in seiner etwas pathetischen Art: „Es schmerzt mich, dies zu sagen: Doch es muss jemand vom Personal sein!“ Borsa sekundierte: „Ich wüsste eine Methode, die Türen der Suiten so zu präparieren, dass man erkennen kann, ob sie während der Abwesenheit des Gastes unerlaubt geöffnet wurden. Das sollten wir mal probieren.“ Alessio, der Direktor, hatte Bedenken. „Sobald der Gast wieder ins Haus kommt, jedoch bevor er sein Zimmer betreten will, müsste diese Sicherung also jedes Mal überprüft werden - wie stellen Sie sich das vor?“ - „Ganz einfach: „Sie geben der Rezeption entsprechende Order und stellen einen Pagen dafür ab.“ So wurde es gemacht.

Von diesem Tag an blieben die Suiten verschont. Doch das Übel verlagerte sich auf die Superior-Zimmer im Seitentrakt und in den unteren Etagen. „Aha“, rief Borsa begeistert, „das zeigt: Ein Insider ist am Werk.“ In den kleineren Wohneinheiten nahm sich der süßlich-scharfe Fusel- und Leichengeruch übrigens noch deutlich penetranter aus als in den sehr geräumigen Zwei-Zimmer-Suiten. Das brachte den Kriminalisten auf eine neue Idee: nämlich, einen Bekannten, einen Parfümeur, um Rat zu fragen, der für ein Weltunternehmen der Kosmetikbranche arbeitete. Der kam, sah und sagte - indem er sich die empfindliche Nase zuhielt: „Valeriana offizinalia.“

*****

Die Signora Daponte erkundigte sich angelegentlich nach dem Stand der Ermittlungen. Als sie die Expertise erfuhr, zog sie ihrem Ulysses eine Leine an - er war sehr beleidigt darüber! - und inspizierte mit dem Kater ihr ganzes Hotel. In den zuletzt vom Übelduft befallenen zwei Zimmern spielte das Tier verrückt, wälzte sich, schrie laut, hatte Wahnsinn im Blick. „Es stimmt also“, jubelte Borsa, „des Rätsels Lösung heißt schlicht und einfach: Baldrian.“

Dottore Alessio warf ein, dass man damit ja noch nicht den Verursacher kenne, um den es doch wohl eigentlich ging. In diesem Augenblick schwenkte die Signora mit dem rot angeleinten Ulysses in den Speisesaal ein - für den Kater die Premiere seines Lebens! Sogleich sprang er dort einen jungen Mann an, der gerade ein Tablett mit Gläsern balancierte, schlang seine Pfoten um dessen Beine, ließ einen lang gezogenen Schrei hören - irgendetwas zwischen Klage- und Glücksgesang - und schleckte selig die freie Hand des Ertappten ab. Der Kerl hieß Luca Freschi, ein Aushilfskellner fürs Restaurant. Der gestand sofort: „Ja, ich war in den Suiten und Zimmern.“

Man führte ihn in die Bibliothek, die um diese Tageszeit menschenleer war. Der Bursche entpuppte sich als hypernervöser und überaus redseliger Mensch. Er sprach mit rudernden Armen und flackernden Blicken - so, als hätte er schon lange das Bedürfnis gehabt, sich zu offenbaren - oder weil er sich einfach gern produzierte.

„Eigentlich bin ich Schriftsteller, und zwar einer von der realistischen, sogar naturalistischen Stilrichtung. Gerade arbeite ich an einem Roman, besser gesagt: an einer längeren Erzählung. Die Story spielt in eben diesem Hotel. Darum musste ich so viele Räumlichkeiten wie möglich persönlich kennenlernen; ich wollte sie ja absolut authentisch beschreiben.
Na, und so ließ ich mich als Aushilfe anheuern und begann sofort mit meinen Recherchen.“

Dottore Alessio unterbrach ihn: „Wie kamen Sie in die Räume der Gäste?“ Er saß unmittelbar neben dem Übeltäter und stellte fest, dass dessen Kleidung, wohl auch seine Haut und sein Haar, den bewussten Duft ausströmten, wenn auch für menschliche Nasen nur aus der Nähe wahrnehmbar. Ulysses räkelte sich lang gestreckt und ziemlich schamlos auf dem Schoß des Fremden. „Das war ganz einfach - mit diesen elektronischen Chip-Karten“, und er streichelte den flauschigen Bauch des Katers. „Der Nachtportier rauchte ab und zu draußen eine Zigarette, und in dieser Zeit habe ich mir eben an der Rezeption Duplikate gemacht.“

Berutti schäumte innerlich. „So weit, so schlecht! Aber was hat es mit diesem widerlichen Geruch auf sich?“ - „Wie? Mit welchem Geruch?“, fragte Luca Freschi. „Baldrian“, schrie der Dottore, „Sie haben unser Haus mit Baldrian-Gestank verpestet!“ - „Ach so, mein Baldrian. Sie finden den Geruch unangenehm? Ich mag ihn. Und weil ich leicht aufgeregt werde, habe ich stets“ - er zog ein bräunliches Medizinfläschchen aus der Tasche - „einen kleinen Flacon mit Baldrian-Dispert bei mir.“ Die Öffnung mit der kleinen Pumpe hielt er Ulysses hin. „Sehen Sie, bei Düften sind die Geschmäcker verschieden. Der Hauskater mag ihn auch!“

Borsa fuhr auf: „Was Sie privat mögen, ist Ihre Sache. Aber hier haben Sie sich des x-fachen Hausfriedensbruchs und der schweren Geschäftsschädigung schuldig gemacht! Eins der führenden Hotels der Welt haben Sie bei seinen Gästen in schlechten Geruch gebracht - buchstäblich!“ - „Um Himmels willen - es lag mit fern, irgendjemandem zu schaden. Ich habe auch nie etwas angerührt oder gar mitgenommen. Allerdings war ich immer sehr erregt, wenn ich so eine fremde Luxus-Suite betrat, geradezu panisch. Und da habe ich eben fleißig mein Sprühfläschchen betätigt. Sobald ich den Baldrian-Nebel einatme, wissen Sie, werde ich ruhiger. Ich bin, glaube ich, inzwischen so an diesen Geruch gewöhnt, dass ich ihn kaum noch wahrnehme. Wenn ich geahnt hätte, dass diese Duftnote andere Menschen belästigend finden…“ Er brach ab.

Scharf fragte Signora Daponte, die höchst indigniert ihren treulosen Kater anstarrte: „Was wird das eigentlich für eine Geschichte, die Sie schreiben wollen - ausgerechnet über mein Haus?“ Dankbar für ihr Interesse verkündete Luca Freschi: „Ein Psycho-Krimi - absolut realistisch! Der Held ist ein gefährlicher, leider aber hypernervöser Serienmörder, der nur unter Einfluss von Baldrian ruhig arbeiten kann. Und die Pointe: Er wird - genau wie ich - von diesem grandiosen Kater entlarvt. Darum heißt mein Buch ‚Kommissar Ulysses’.“

Androhung schwerster Repressalien, sofortiger Rauswurf, strengstes Hausverbot! - Eine Erzählung mit obigem Titel ist nie erschienen.


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Tag der Veröffentlichung: 04.05.2009

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