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Jonas hat es gut

Jonas öffnete ein Auge und schielte zum Fenster hin. Es sah aus, als würde es ein schöner Tag werden. Noch war es gar nicht richtig hell, aber Jonas ist ja immer lange vor den anderen Familienmitgliedern wach.
Zu der vierköpfigen Familie gehören: Eva, Frau des Hauses, auch ‚Maus’ genannt; Fred, ihr Mann (kein Kosename), dann Lisa, zu der sie einfach Töchterchen sagen, und schließlich Jonas, das Bengelchen. Eine überaus normale Familie: Gehobene Haushälfte, größerer Mittelklassewagen, eher schwache Besuchsfrequenz, keine aufregenden Hobbys.
Neben Evas Bett schrillte der Wecker. Rasch stellte sie das wacklige Ding ab. Mist, dass ihr Uhrenradio kaputt war; mit ein bisschen Softpop erwacht es sich halt netter. Sie setzte sich in ihrem breiten Bett auf, das ehemals für zwei gedacht war, schaute zum weit geöffneten Fenster hinaus und dachte dasselbe wie Jonas: Es wird ein schöner Tag. Für das Wetter traf das dann ja auch zu, aber sonst …
Eva Marholm war Lehrerin — gewesen. Entnervt hatte sie den Beruf an den Nagel gehängt, als Töchterchen Lisa vor elf Jahren auf die Welt kam. Jetzt machte sie zu Hause Übersetzungen und gab Sprachkurse an der Volkshochschule — na ja.
Jonas begrüßte die ‚Maus’ wie jeden Morgen. Das war immer eine Szene strömender Herzlichkeit. Überhaupt benahm sich Jonas viel liebevoller als Lisa. Vielleicht lag das am Alter.
Im Gegensatz zu Jonas war Eva ein Morgenmuffel. Nur mit Überwindung kam sie aus dem Bett, während Jonas es gar nicht erwarten konnte. Sie strich dem Kleinen über den Kopf und sagte: „Du hast es gut, mein Bengelchen“.
Jonas ging zu Freds Zimmer gleich nebenan. Die Tür war zu! Pennte der etwa noch? Er öffnete so leise es ging. Stickig war’s in dem Raum. Die Vorhänge, wie immer ganz zugezogen, ließen keinen Sonnenstrahl herein. Jonas machte absichtlich ein bisschen Lärm, und schon stürzte Fred purzelbaumartig aus dem Bett, das nur halb so breit war wie Evas Grandlit.
Fred wankte ins Bad. Lieber Himmel! Heute hatte er ja die große Präsentation bei dem Pharmakonzern — es ging um neunzig Millionen! Er schaltete sämtliches Licht an, das es in ihrem Marmortempel von Badezimmer gab: zweimal acht Glühbirnen an den beiden Spiegeln, vier Deckenstrahler und den weiß leuchtenden künstlichen Hinkelstein neben der Dreieckswanne. Trotz der blendenden Helle riss er gewaltsam die Augen auf — er musste einfach wach werden!
Jonas liebte es, seine Morgentoilette gleichzeitig mit Fred zu verrichten, unter Männern sozusagen. Also begleitete er ihn ins Bad.
Das Ritual, das nun begann, war jeden Morgen haargenau das Gleiche. Bei Fred hieß es: „Wasser Marsch!“ — erst im Waschbecken, dann unter der Schwallbrause. Außerdem bediente er mehrere Apparate, um seinen Mund und seine Zähne zu pflegen, seinen Bart zu beseitigen und seine Haare zu trocknen. Stark riechende Wässerchen kamen zum Einsatz und die Sprühdose mit dem scharfen Zischgeräusch.
Jonas war, ehrlich gesagt, ziemlich wasserscheu. Und außerdem ein Anhänger möglichst einfacher Verrichtungen. Zunächst saß er faul auf dem Rattanstuhl bei der Badezimmerpalme. Dann reckte er sich, gähnte gewaltig und wandte sich schließlich betont langsam seiner höchst wassersparenden Gesichtspflege zu, vergaß auch Brust und Bauch nicht, begab sich nebenan auf die Toilette — fertig.
„Du hast es gut, Bengelchen“, rief Fred, als er aus dem Bad stürmte.
‚Was ist eigentlich mit Lisa?’, fiel Jonas ein. Die Tür zu ihrem Zimmer stand einen Spaltbreit offen, und so ging er vorsichtig hinein. Oh, er wusste, wie man Leute sanft aufweckt ... „He, mein Junge, ein Glück, dass du kommst!“ Lisa schmuste schlaftrunken mit dem Kleinen. „Ohne dich hätt’ ich wahrscheinlich bis zehn geschlafen — Matheprüfung ade!“ Seufzend stieg sie aus ihrem geliebten Bett und dachte mit leichtem Nervenzittern an das, was ihr in der Schule bevorstand.
Des Tages zweite Hürde nach dem Aufstehen war das Frühstück. Jonas gehörte zu denen, die es lieben, wenn alle gleichzeitig ihren Appetit stillen. Aber das war in seiner komischen Familie einfach nicht hinzukriegen. Er fand auch, dass die Dauer der Frühstücksvorbereitungen in keinem Verhältnis zu den paar Augenblicken stand, in denen die Kalorien dann verfrühstückt wurden: Ein Ei kochen — fünf Minuten. Ein Ei abschrecken, aufschlagen, salzen, auslöffeln und die Schale entsorgen — anderthalb Minuten!
Lisa war die Schnellste: Fünf Löffel Nutella, ein Knäckebrot, ein Glas Milch — ab in die Schule! Im Hinausrennen rief sie noch: „Ach, Jungchen, du hast es gut!“
Bei Fred kam nach dem erwähnten Ei und einem Schwarzbrot mit dick Butter noch eine große Tasse Kaffee, pechschwarz, und dann — so viel Zeit muss sein! — die erste Zigarette des Tages. Die erste von etwa dreißig, leider. Heute konnten es allerdings auch vierzig Filterlose werden. Wegen der millionenschweren Präsentation.
Fred war Werbefachmann, Senior Marketing Executive — die Branche liebt solche Titel. Mit anderen Worten: Er war ein bewährter, langsam in die Jahre kommender Handlanger steinreicher Firmenbosse, die zwar protzige Villen, sündteure Mega-Yachten und Straßenkreuzer im Dutzend besitzen, aber nicht genug Kreativität haben, um sich ihre banale Reklame selbst auszudenken! Andererseits sind sie clever genug, ihre Manager und Funktionäre mit Rang und Reichtum zu bestechen, sodass diese lächerlich überdotierten Opportunisten die verbrecherischen Machenschaften, kriminellen Verwicklungen, menschenverachtenden Methoden oder umweltzerstörenden Einflüsse, die mit ihren Geschäften einhergehen, eisern geheimhalten und sogar bestmöglich ins Gegenteil schönreden. Sich in der Sonne ihrer Macht räkelnd, lassen sie die Werbefritzen antanzen, um dann mithilfe ihrer dumpfen Hirne jede einigermaßen intelligente Idee abzuschmettern, denn sie haben nur Sinn für das Plumpe und Abgeschmackte. Und der Erfolg gibt ihnen ja Recht! Weshalb denn auch die Reklameheinis jedes Mal reumütig vor ihnen in den Staub fallen und genau das machen, was die Herren der Welt von ihnen verlangen: Scheiße! Ja, so etwa sah Fred seinen Job bei der hochgepriesenen Werbeagentur MORE FOR LIFE.
Er musste los! Die ‚Maus’ drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Jonas begleitete ihn bis zum Wagen und sah ihn aufmunternd an — sozusagen: ‚Mach’s gut, Alter!’
„Danke, mein Junge!“
Endlich hatte nun auch Jonas Zeit, seine Frühstücksportion zu vertilgen, recht gemütlich sogar, gemeinsam mit Eva. Die kaute — immer noch im Morgenrock und mit der Zeitung vor der Nase — eine große Schale Mehrfrucht-Nuss-Mandel-Müsli mit viel Milch, trank ihren frisch gepressten Orangensaft und gönnte sich zum Abschluss ein Weißbrot mit Käse, französischem.
Jonas war in den rundum verglasten Wintergarten geschlendert und sah nun der Sonne zu, wie sie schien. Er war eben anders als andere Bengelchen, aber für Fred, für die ‚Maus’ und das Töchterchen war er — da gab’s gar nichts! — ein ganz normales Familienmitglied.
Nach ihrem ausgeruhten Frühstück verteilte Eva wieder einmal zehn verschiedene Salben auf sich, da grellte die Türklingel. Eva riss den Morgenrock um ihre Schultern; Jonas begab sich vorsichtshalber ins Obergeschoss. Ein Mann stürmte herein und schlenkerte wild mit den Armen.
„Ecco, Signora, was Sie gemacht haben aus meinem Text — mamma mia, das ist nicht Übersetzung, das ist ein catastrofo! Sie haben gemacht mein Werk kaputt! Madonna, ich schreibe Romane per cuore, für das Herz von Frau. Sie haben daraus gemacht Lyrik, poesia! Das ist Quatsch! Non parlo tedesco, ma capisco: Impossibile! Keine Lire zahle ich Ihnen. S i e müssten mir geben Geld per questo scandalo e tempo perduto!“ Bei diesen Worten warf er Eva Marholm ein Bündel computer-bedruckter Blätter vor die Füße — immerhin mit elegantem Schwung.
Eva holte tief Luft. Um nicht loszuheulen, griff sie an: „Was? Ich soll Ihren Schund verschlimmert haben? Mann, ich habe daraus ein lesbares Buch gemacht! Sie sollten mir die Füße küssen — nein, lieber nicht. Sie wollen für Frauenherzen schreiben? Dass ich nicht lache, Mann! Gerade, weil ich ein Herz habe, habe, habe ich — — “ Nun kamen ihr doch die Tränen.
Jonas hatte oben mitgehört, aber kaum etwas verstanden. Der schreckliche Kerl rief nur noch: „Mich sehen Sie nicht wieder!“, und weg war er. Jonas rannte die Treppe runter und versuchte, Eva zu trösten. Trauer und Mitgefühl lagen in seinem Blick, und jede seiner Bewegungen schien zu sagen: Mach dir nichts draus, für mich bist du die Größte. Eva war gerührt. „Ja ja, mein Junge, so etwas kann dir nicht passieren!“
Jonas wollte wieder in den Wintergarten gehen, da hörte er Schritte auf dem Kiesweg. Wer kam denn da angerannt? Es war Lisa, viel zu früh! Die Sonne stand ja noch nicht mal hinter der großen Kastanie. Als ihr Jonas, noch etwas flinker als sonst, entgegenlief, sah er: Die heult ja auch! Ohne ihn anzuschauen, stürzte sie in ihr Zimmer, warf die Schultasche und sich selbst aufs Bett und kickte die Tür mit dem Absatz geräuschvoll zu.
Nur Sekunden später war Eva da, und Jonas drückte sich hinter ihr in Lisas Zimmer. „Mensch, Töchterchen, was ist los? Die Matheprüfung?“ Lisa nickte und machte einen kleinen Schluchzer. Das ganze Ausmaß der Tragödie kam aber erst bruchstückweise im Laufe des Nachmittags heraus. Ja, sie hatte die Prüfung total verhauen, war vor versammelter Klasse ausgerastet, und alle hatten gelacht — gelacht! Die Lehrerin, die blöde Kuh, wollte ihr („Meine liebe Lisa, hör mal ...“) erklären, warum ihre Arbeit — da hatte Lisa einen Weinkrampf bekommen und sich panisch in die Mädchentoilette geflüchtet. Nach ein paar Minuten war die Direktorin mit einem Generalschlüssel gekommen, hatte die verriegelte Kabinentür aufgemacht, Lisa herausgezerrt und sie von einem der größeren Schüler (ausgerechnet Michi, den Lisa heimlich anhimmelte — und wie!) vorzeitig nach Hause bringen lassen, als wäre sie krank. Eine absolute Imagekatastrophe!
Jonas blieb bei ihr; sie brauchte jetzt die Wärme eines mitfühlenden Herzens. Selbst als er mit halbem Ohr wahrnahm, dass Eva sich anschickte, Gartenarbeit zu machen, verließ er das Töchterchen nicht. Dabei liebte er Gartenarbeit über alles, genauer gesagt: das Zuschauen.
Eva dagegen packte kräftig an, wie immer, wenn sie ihren Frust niederkämpfen wollte: „Dieser minderbemittelte Spaghettidichter“ — Spatenstich! — „keine Ahnung von Sprache und Ausdruck“ — Grasnabe weggeschleudert! — „kein ehrliches Wort kann der schreiben, nur Kitsch“— zwei dicke Steine ausgehoben! — „und wirft mir vor, ich verhunze seinen Schund“ — doppelter Spatenstoß! — „so einen Mist würde ich gar nicht zustande bringen, wenn ich Schriftstellerin wäre“ — plötzliches Innehalten. „Ja, vielleicht hätte ich Schriftstellerin werden sollen!“
Lisa rappelte sich schließlich auf und schaltete den Computer ein, um ein bisschen zu chatten. Da ging Jonas indigniert aus dem Zimmer. Denn an ihren PC ließ sie ihn einfach nicht ran — nie! Und das fand er ausgesprochen gemein.
Als er in den Garten kam, wollte die ‚Maus’ gerade den großen Wasserschlauch abrollen. Jetzt kam also der Teil der Gartenarbeit, auf den Jonas liebend gern verzichtete! Und so schlenderte er ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Fernseher. Klasse! Es lief gerade ein Tennismatch. Das war genau nach seinem Geschmack: Rechts plopp, links plopp, rechts plopp. Er selbst spielte natürlich nicht Tennis, kannte auch die Regeln nicht, wie die meisten Zuschauer, aber dieses Hin und Her, Hin und Her fand er äußerst spannend, wie die meisten Zuschauer. Nur mit halbem Ohr registrierte er, dass das Telefon gedüdelt, Eva abgenommen und ein paar aufgeregte Worte gesagt hatte.
Da stürzte sie auch schon ins Wohnzimmer und zappte, ohne Jonas zu fragen, auf den Nachrichtenkanal: „Attentat auf ein britisches Atomkraftwerk … noch nicht bekannt, ob Radioaktivität ausgetreten … wurde die Bevölkerung der Region vorsorglich gebeten, die Fenster und Türen … völlig unklar, wie es trotz schärfster Sicherheitsvorkehrungen“ … Jonas trollte sich beleidigt. Er fand Tennis schöner.
Zur Abwechslung begab er sich in die Küche, um etwas zu trinken. Mit versteinertem Gesicht folgte ihm Eva. So hatte Jonas sie noch nie gesehen: völlig verkrampft, dabei fahrig, als wäre sie mit ihren Gedanken sonst wo. War sie auch, nämlich in der britischen Provinz, wo wahrscheinlich eine Katastrophe passiert war, gegen die ihre kleinen Probleme — was wollte sie eigentlich hier in der Küche? Ach so, natürlich: das Abendmenü vorbereiten! Nur mit Mühe hatte sie sich vom Fernseher losreißen können, aber in knapp zwei Stunden kamen die Gäste. Zu blöd, ausgerechnet heute hatten sie zu einem ‚Biodinner’ eingeladen.
Interessiert schaute Jonas zu. Die Vorbereitung einer Mahlzeit war erfahrungsgemäß mit einer Reihe faszinierender Tätigkeiten und reizvoller Gerüche verbunden. Aber diesmal konnte die ‚Maus’ gar nicht wieder aufhören, zu schneiden, zu schälen, zu schaben und zu hacken. Essen war ja wichtig und angenehm. Trotzdem hatte Jonas keinerlei Verständnis dafür, dass bei der Zubereitung der Mahlzeiten ein solcher Aufwand an Zeit und Material betrieben wurde. Warum musste diese Familie nur immer alles so kompliziert machen?
Für Eva dagegen war Kochen eine Form der Selbstverwirklichung. Sie wusste, dass die Banausen um sie herum ihre Hingabe kaum zu würdigen verstanden, aber das war ihr egal. Heute allerdings hoffte sie schon auf ein wenig Anerkennung. Alles, was zu dem Dinner gehörte — die Gemüse, die Salate, die Kartoffeln, das Öl und vor allem der wundervolle Kalbsbraten — war ganz frisch vom Biobauern bezogen, der in einem Weiler vor der Stadt die Erzeugnisse seines Hofes direkt an verständige Konsumenten verkaufte. Wenn auch zu Preisen, als liefe das Geschäft über zehn Zwischenhändler!
Jonas erhob sich. Denn Eva verfiel nun in einen lautstarken Aktionismus unter Verwendung bösartig klingender Küchenmaschinen! ‚Nein, das muss ich nicht haben’, dachte er und ging in Freds Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lag noch dasselbe Buch wie gestern, lesebereit aufgeschlagen. Jonas nahm davor Platz. Er betrachtete ausgiebig die Buchseiten, aber dann irrte seine Aufmerksamkeit ab zugunsten einer sehr entspannenden Meditation. Vielleicht war er auch ein wenig eingenickt. Ja, richtig! Im Unterbewusstsein hatte er Freds Auto kommen hören, aber nicht die Energie aufgebracht, dem Alten entgegenzulaufen.
Krachend flog die Tür zum Arbeitszimmer auf! Fred feuerte seinen teuren Aktenkoffer gegen die Bücherwand. Eva kam und wischte sich hektisch die Hände an ihrer Schürze ab. „Fred, wie siehst du denn aus?!“ Er war nicht ganz nüchtern, nicht mal halb. „In diesem Zustand fährst du Auto?“
Mit großer Geste antwortete er: „Totalschaden.“
„Um Gottes willen! Aber dir ist nichts passiert?“
„Mir? Mir ist eine totale Pleite passiert. Eine Neunzig-Millionen-Pleite. Der Pharmaetat ist futsch, futschicato! Hol mir einen Cognac, bitte.“
„Nein, Fred, du solltest jetzt nichts mehr trinken. In einer halben Stunde kommen die Gäste.“
„Ist mir egal.“
„Und in England hat man ein Atomkraftwerk überfallen!“
„Ist mir auch egal.“
Lisa schneite herein, mit dem Walkman auf den Ohren. Viel zu laut fragte sie: „Was ist denn hier los?“
Aus dem Fenster schauend murmelte Fred: „Ich bin im Eimer, das ganze Team ist im Eimer, wegen dieser Pharma-Ignoranten.“
Eva trat neben ihn und sah zur Auffahrt hin. „Aber das Auto, das sieht doch ganz okay aus.“
„Das Auto? Ach so, das Auto! Ja ja, das ist so ziemlich das Einzige, das nichts abgekriegt hat.“
„Gott sei Dank! Aber Fred, das Atomkraftwerk da in England — hast du...?“
„Klar, in den Nachrichten bringen sie nichts anderes.“
„Und was sagst du dazu? Was sollen wir denn bloß ...“
Er sprach jetzt etwas nüchterner: „Was ich dazu sage? Ich sage: Es geht eben alles den Bach runter. Hol mir einen Cognac.“
Jonas tippte ihn an. „Ach, da ist ja mein Junge! Komm her, Bengelchen!“ Obwohl er die Alkoholfahne grässlich fand, versuchte Jonas, den Alten ein bisschen aufzurichten — er war einfach umwerfend lieb!
Da brachte Eva den Cognac, nein, sogar zwei. Sie sah zu Jonas hin, dann hob sie das Glas, prostete Fred zu, trank und flüsterte fast: „Stimmt schon, was wir immer sagen: Jonas, der hat es gut.“
Lisa setzte endlich den Walkman ab. „Papa ich hab die Matheprüfung verhauen.“
„So? Ach, mein Kind, es kommen noch so viele Prüfungen auf uns zu...“
Ein leichter Brandgeruch stieg Eva in die Nase. Sie rannte in Richtung Küche, Jonas hinterher, Lisa auch, als letzter Fred. Die ‚Maus’ riss den Backofen auf, Fred das Küchenfenster. Alle vier standen vor dem Herd und starrten auf etwas Schwarzbraunes. Eva schlug die Hände vors Gesicht und sagte fast tonlos: „Der Kalbsbraten ist auch im Eimer.“
Lisa setzte den Walkman wieder auf und ging in ihr Zimmer. Fred nahm Evas Hand: „Bald sind wir alle verstrahlt, da kommt es auf den Kalbsbraten wirklich nicht mehr an.“
„Ha!!“, Eva schrie fast, „ ich hab ja die eingefrorenen Kalbssteaks!“ Als sie sich bei dem Biobauern eingedeckt hatte, konnte sie einfach nicht an diesen herrlichen, garantiert BSE- und antibiotika-freien Steaks vorbeigehen, die von Kälbchen stammten, die sie wahrscheinlich noch vor ein paar Wochen selbst gestreichelt hatte …
Da klingelte es an der Haustür. O nein! Sie waren noch nicht mal umgezogen! Wahrscheinlich kamen Karin und Robert wieder zu früh. So war es. Nach der üblichen wort- und gestenreichen Begrüßung — Luftküsschen links, Luftküsschen rechts — kam auch Jonas auf seine Kosten. Dann verschwanden die verfrühten Gäste mit Fred im Wohnzimmer, und Eva versuchte in der Küche, die steinhart gefrorenen Steaks in einen kulinarischen Genuss zu verwandeln.
Als sie sich zwischendurch in Windeseile schön machte, schlenderte Jonas kurz noch einmal in die Küche. Die leise brutzelnden Steaks rochen verführerisch. Aber er probierte lieber ein Häppchen von dem missachteten Kalbsbraten. Der hatte zwar eine etwas harte Kruste, darunter aber schmeckte er einfach gigantisch! Nach diesem schönen Erlebnis begab sich Jonas ins Bett. Genauer gesagt: in Evas Bett. Was sollte er anderes machen? Lisa saß an ihrem blöden Computer, der für ihn tabu war, und verschickte Dutzende von E-Mails. Bei den Gästen zu hocken, die nun wohl vollzählig waren, reizte ihn auch nicht; er war nun mal kein Partylöwe.
Mit dem Nachgeschmack des Kalbsbratens auf der Zunge sank er in Schlummer, so gut es ging. Die Gäste lachten und schwatzen und lachten immer lauter, je mehr Fred von seinem guten Rothschild-Wein kredenzte.
Erst lange nach Mitternacht wurde es ruhig. Erhitzt kamen Eva und Fred ins Zimmer. Hell schien der Mond herein; deshalb machten sie gar kein Licht. „Dein Chef hat immerhin gesagt: Eine Schlacht ist verloren, mein lieber Marholm, aber den Krieg führen wir weiter. Lieber Marholm, hat er gesagt, immerhin!“
„Ja, und gleich danach, typisch Werbefuzzi: ‚Wir sind eben MORE FOR LIFE!’ Als ob sein Laden irgendwas mit dem Leben zu tun hätte!“
Stumm zogen sie sich aus. Plötzlich entfuhr es Fred: „Musstest du den Boss unbedingt mit deiner Atomangst belästigen?“ Eva stand reglos. „Und musstest du unbedingt den ganzen Abend mit seiner Dritten flirten? Glaubst du, das hat ihm gefallen?“ Dann deutlich lauter: „Mir hat es jedenfalls nicht gefallen!“
Im Dunkeln konnte Fred nicht sehen, ob sie wirklich so sauer war, wie es sich angehört hatte. Als er seine Unterwäsche auszog, genierte er sich ein bisschen — vor der eigenen Frau, so weit war es also schon gekommen! Umso lässiger sagte er: „Ach Maus, jetzt ist wirklich nicht der Augenblick zu streiten. Es tut mir leid, ehrlich, es tut mir leid.“ Nackt lügt es sich schlecht, dachte Eva, darum glaubte sie ihm und ging ins Bad.
Ob es ihm leid tat, weil das Geflirte eine taktische Dummheit gewesen war oder weil er Eva damit beleidigt hatte (oder aus beiden Gründen), das wusste Fred selbst nicht genau. Er betätigte die Fernbedienung des kleinen Portables auf Evas Schreibtisch. Sondersendung! „Zur Zeit bewegt sich die eher schwach radioaktive Wolke von den Britischen Inseln ...“ Er drückte auf Off, dreimal! „Eher schwach? Na, wer’s glaubt!“
Als er zum Bett trat, das einmal das Ehebett gewesen war, bemerkte er Jonas, ganz hinten an der Wand. „He, du! Das geht jetzt aber nicht, Jungchen, du musst raus.“ Jonas machte auf Tiefschlaf.
Die ‚Maus’ schwebte ins Zimmer. Fred riss die Augen auf — tolles Nachthemd! Nun ging sie auch noch zum Fenster: Der Mond, das Gegenlicht, ihre Silhouette … auch ohne Baron Rothschild wäre er höchst animiert gewesen! Sie schloss die Vorhänge, dann umarmten sie sich, fast wie früher. Eva sagte leise: „Sind die Menschen nicht komisch? Was man nicht sehen, nicht riechen, nicht spüren kann, das gibt es praktisch nicht für sie. Atome können sie spalten. Aber sich die Strahlen vorzustellen und die Wolken, die alles umbringen, dazu reicht es nicht.“
In diesem Augenblick sah auch sie Jonas auf ihrem Bett. Fred kam ihr zuvor: „Ich hab ihm schon gesagt, dass er abhauen muss. Also los, du Bengel, raus mit dir, wir können dich hier jetzt nicht brauchen.“ Jonas spürte, dass er als Dritter im Bunde keine Chance hatte, räkelte sich umständlich, erhob sich betont langsam und schritt huldvoll zur Tür. Mitten auf der Schwelle blieb er stehen.
Eva schlüpfte unter die Daunendecke. „Du, Fred, wir sollten unseren Jonas nicht immer Jungchen, mein Junge, Bengelchen oder so nennen. Er ist ja schließlich kein Kind.“ Schon halb in der Diele, antwortete Fred: „Kein Kind, kein Mensch, da hat er Glück!“ Eva richtete sich auf. „Unser lieber Kater ist er, ein Kater im besten Alter, das genügt doch wohl!“ Fred streichelte Jonas. „Komm, nimm den Schwanz aus der Tür, mein — mein Freund, wir gehen noch rasch ins Bad.“
Aber Jonas tappelte schnurstracks zu Lisa, kroch an ihren Füssen unter die Decke, begann exzessiv zu schnurren und schleckte nacheinander ihre Zehen ab. Wieder mal hatte er es richtig gut. Lisa wohl auch; sie murmelte im Traum: „He, … Michi, Michi …“
Später hatten auch Eva und Fred Zeit zu träumen: Umringt von Fans, sah sich die ‚Maus’, wie sie ihr erstes Buch signierte: ‚Der Spaghettidichter’ von Eva Marholm. Fred pokerte mit dem Pharmaboss die halbe Nacht lang auf dessen atemberaubender Mega-Yacht — um neunzig Millionen.
Aber nicht mal im Traum ahnten Eva und Fred, dass sie in dieser Nacht ein fünftes Familienmitglied gezeugt hatten: Benjamin, das Nesthäkchen.
Und die Wolke, die kam Stunde für Stunde näher. Der einzige, der davon keine Ahnung hatte, haben k o n n t e — der kleine Jonas — spürte sie irgendwie in den Haarwurzeln. Als es hell wurde, schielte er einmal, zweimal, dreimal misstrauisch zum Fenster hin.
Nein, nichts Besonderes. Es sah aus, als würde es ein schöner Tag werden.


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Tag der Veröffentlichung: 06.05.2009

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