"ACH DU SCHEI... !!!"
Das war der Moment, in dem ich mir sehnlichst wünschte, dass meine Zauberkräfte stark genug wären, damit sich ein Loch im Boden auftäte, in dem ich verschwinden konnte.
Aber natürlich waren solche Tricks nur den oberen Kreisen vorbehalten und Unsereins musste sich mit billigem Budenzauber und Hexentränken zufrieden geben.
Nun würden ein paar Leute dafür büßen, auch wenn es nur Sterbliche waren, dass ich in einer Anwandlung von Hilfsbereitschaft eine gute Tat vollbringen wollte, anstatt dem Klischee der bösen Hexe zu entsprechen. Aber die Absicht machte wohl keinen Unterschied in den Konsequenzen. Die PR-Abteilung hätte sich über meinen ungewollten Beitrag zur Abschreckung der Menschlein zweifellos gefreut.
In dem kurzen Augenblick bevor die Hölle los brach, schien die Zeit plötzlich zäh wie Kaugummi zu werden und ich sah die Phiole wie in Zeitlupe auf den Beton zu schweben. Es war genug Gelegenheit, um all meine Sünden zu bereuen, auch jene die ich leider noch nicht begangen hatte.
Aber es war nicht genug Zeit, um das unabänderliche Schicksal noch in seinen letzten Atemzügen vor der Erfüllung abzuwenden.
Tatsächlich passiert alles ziemlich schnell: in einer Sekunde hatte ich die wertvolle Flüssigkeit noch wohl behütet in meinen Händen und in der nächsten verteilte sie sich schon in goldschimmernden Adern über den ohnehin bereits verdreckten Boden des "Hexenkessel". Dies war ein angesagter Szeneclub, zumindest bis zu dem folgenschweren Versehen als es sich durch mein Zutun in einen Ort des Chaos verwandelte.
Aber eigentlich hat alles schon viel früher angefangen, schief zu laufen. Ich sollte zum besseren Verständnis etwas weiter ausholen. Nicht etwa soweit, dass ich euch noch von dem ersten Schrei meiner damals halb verkümmerten Lungen in einem verschrumpelten kleinen Babykörper, vor knapp 266 Jahren, berichten müsste. Nein, das wäre dann doch etwas viel der Detailverliebtheit.
Am besten wechseln wir zunächst erst einmal die Erzählperspektive. Wer möchte sich schon mit einer tollpatschigen Hexe identifizieren, die nicht annähernd so böse war, wie die Gemeinschaft es gern hätte, und nicht annähernd so gut, wie mir selbst am liebsten gewesen wäre.
Es war ein herrlicher Morgen. Die Amseln stritten sich um die besten Bauteile für neue Nester und erfüllten die von der Frühlingssonne langsam erwärmte Luft mit ihrem Gezwitscher.
Der Müllmann pfiff ein fröhliches Liedchen vor sich hin, während er die Beweise von den Verbrechen der vergangen Nacht sorgfältig von den Straßen fegte.
Die Stadt atmete sichtlich auf, ein weiteres Mal nicht von den düsteren Machenschaften des Hexenvolkes zugrunde gerichtet worden zu sein. Zumindest redete sie sich das fleißig ein und die normalen Menschen begannen ihr Tagewerk frohgemutes.
Während weniger normale Wesen, wie die kleine Hexe Lisbeth, sich noch von den nächtlichen Ritualen zu erholen versuchte, was bei dem morgendlichen Lärm recht schwierig anmutete.
So stand sie ungewollt früh auf und ging die Liste der Notwendigkeiten danach durch, wieviel sich auf später verschieben ließe.
Leider rückte der Termin zur Prüfung ihrer Hexenlizenz in unangenehme Nähe und sie begann sich erneut darum zu sorgen, mit welchen fiesen, bösartigen Taten sie den Rat zufrieden stellen könnte, ohne sich dabei ein allzu schlechtes Gewissen einzuhandeln.
Denn zu ihrer lieben Not, war sie mit dieser recht unschönen Eigenschaft geboren und stellte damit eine Anomalie in der geordneten Welt der fiesen und bösartigen Hexen dar.
Ihr persönliches Anliegen bestand viel eher darin, die Menschen durch ihr Tun zu bereichern. Was ihr allerdings aufgrund eingeschränkter Befugnisse wegen mangelnder Boshaftigkeit recht schwer gemacht wurde.
Ganz im Gegensatz zu dem Ausweis, der sie als "kleine" und damit unbegabte Hexenanfängerin ausgab, war sie eigentlich recht groß mit ihren 1.78cm und dem Erbe eines wahrhaftig machtvollen Hexenmeisters im Blut in vierter Generation gesegnet.
Das glaubte man beim Anblick ihres zugestopften Hexenladens in der Momsenstraße natürlich nicht.
Dort hielt sie sich mit dem Verkauf von ausrangierten Haushaltsgeräten, die oft zweckentfremdet wurden und den lieben Käufern so einige Überraschungen bescherten, und einfachen Zaubertränken über Wasser.
Da sie nur ungern die gut bezahlten Aufträge der weniger vom Gewissen geplagten Mithexen annahm, musste sie sich unter den Menschen schließlich ein Einkommen sichern.
Besonders zu Halloween erhielt ihr kleiner Shop einen ungeheuren Zulauf und die übertriebene Deko bestehend aus Fledermaus, schwarzer Katze und falscher Warze erfreute sich äußerster Beliebtheit bei den vorurteil-behafteten Normalos.
Doch unter der Hand waren die illegalen Liebestränke der absolute Verkaufsschlager.
Bei den Hexen waren diese Tränke allerdings als viel zu gutmütig verpönt und man glaubte nicht, dass jemand etwas Schlimmes damit anstellen könnte - was sich durch einen Unfall noch als inkorrekt herausstellen sollte.
Denn gerade am heutigen Tag hatte Lisbeth vor, wegen steigender Nachfrage, eine größere Menge zu mixen und diese direkt bei ihren besten Kunden unter die Masse zu bringen wie ein Dealer.
Was sich einfach anhörte, war tatsächlich ein höchst komplexes Verfahren. Die schwer zu bekommenden Zutaten stellten noch die kleinere Herausforderung dar.
Winzige Fehler in der Produktion könnten die Wirkung des Trankes völlig verändern. Je nach speziellem Wunsch hatte Lisbeth etwas kreiert, was entweder dafür sorgte, dass sich die Zielperson unsterblich verliebte, völlig rasend vor Leidenschaft oder unwiderruflich a-sexuell wurde. Das Schwierigste überhaupt war das erstaunlich häufig gewünschte Entlieben-Elixier. Aber vermutlich war es auf Dauer ganz schön anstrengend, der Mittelpunkt eines Liebesuniversums zu sein.
Mit solchem Kleingedruckten gaben sich die Käufer ungern ab und wedelten die zur Sprache gebrachten Bedenken der kleinen Hexe meist rigoros ab.
So machte sie sich auch diesmal achselzuckend an ihren Großauftrag und überließ Anderen die Konsequenzen, nachdem sie den Trank tröpfchenweise an den notgeilen Mann und die frustrierte Frau verteilt hätte – was nun allerdings etwas anders als geplant geschah.
Als der flüssige Liebeszauber mit der Luft in Berührung kam und sich in wenigen Wimpernschlägen das entstandene Gas über die gesamten, beengten Räumlichkeiten des "Hexenkessel" ausbreitete, setzte deren Wirkung und die unausweichliche Kettenreaktion augenblicklich ein.
Die eben noch um Barhocker versammelten oder sich auf der vollen Tanzfläche drängenden Menschen, rissen sich plötzlich die Kleider vom Leibe, als ginge es dabei um ihr Leben.
Jeder schnappte mit Händen, Füssen und Zähnen das Nächstbeste, dessen er oder sie in dem pheromon-benebeltem Geisteszustand habhaft werden konnte.
Münder stießen auf Münder, während grobe Finger nach den weiblichen Rundungen der Frauen oder den harten Geschlechtsteilen der Männer griffen.
Ein jeder verfiel in einen Rausch der Lust, der sofort und rücksichtslos gestillt werden wollte.
Das stroboskophafte Licht ließ die Szenerie unwirklich erscheinen und die harten Beats der Technomusik bestimmten nun das Tempo der animalischen Bewegungen. Es wurde gerammelt, was das Zeug hielt.
Pärchen drückten sich gegen die Wände und wer keine Tische oder Stühle als Spielplatz finden konnte, ließ sich auf den kalten Boden fallen, um einträchtig zu kopulieren.
Die Luft war von urtierischen Lauten erfüllt und wurde schwer vom Schweiß und Duft menschlicher Ausdünstungen beim Sex.
Die Welt bestand nur noch aus zuckenden, in sich verkeilten Gliedern, bei dessen Anblick man an ein Schlachtfeld erinnert wurde.
Der einzige Zuschauer dieses Spektakels war allerdings derselbe, der auch dafür verantwortlich war und sich gern ganz weit weg gewünscht hätte.
Am Rande des großen Raumes, in der Nähe zum Ausgang, befand sich eine zur Leblosigkeit erstarrte kleine Hexe. Ihre Miene wechselte in schneller Abfolge zwischen angewidertem Ekel und ungläubiger Faszination. Dies war ein so hypnotisches Schauspiel, dass sie sich nicht dazu entschließen konnte, weg zu schauen. Hier trat der gleiche Effekt ein, wie bei einem schweren Verkehrsunfall, was es ja auch irgendwie war.
Wenn sie doch wenigstens mit Stolz hätte behaupten können, dass es sich dabei um ein gewolltes Experiment zur Erforschung des menschlichen Sexualtriebes in Extremsituationen handeln würde. Dann könnte sie das Ganze unbekümmert aus der Distanz begutachten und anschließend mit einem ausführlichen Bericht zur Akademie der Hexenkünste marschieren.
Irgendetwas Gutes musste bei dem Durcheinander doch auch für sie dabei heraus kommen.
Apropos kommen: Die Lustschreie hatten sich inzwischen eine Oktave nach oben geschraubt und spitze Schreie mischten sich mit brünstigem Gebrüll.
Es folgte eine Kakophonie der unterschiedlichsten Erlösungsrufe.
Töne völliger Glückseligkeit, das Wimmern von zahlreichen Opfern des kleinen Todes und gelegentlich enthemmtes Lachen hallten durch die vier Wände.
Nach nicht einmal zehn Minuten hatten sich sämtliche liebestollen Discogänger dermaßen verausgabt, dass bald nur noch das erschöpfte Keuchen und ein schwacher Nachhall der ausgeschütteten Endorphine zurück blieben.
Nun klebten die nackten Leiber zusammen geschweißt durch die exzessive, gemeinsam erlebte Surrealität und letzte Zuckungen durchlief das lebendige Knäuel.
Wie auf neuerlichem Kommando wagte es plötzlich niemand mehr, sich zu rühren oder jemandem in die Augen zu schauen. Die Musik stoppte, der Atem wurde angehalten und stille Gebete gesprochen, dass man doch hoffentlich bald Aufwachen möge von dem Horrortrip. Entschuldigungen waren fehl am Platz, keiner rückte vom Anderen ab. Nur langsam machte die Verwirrung einer ungekannten Scham Platz.
Die Selbst- und Fremdvorwürfe würden erst sehr viel später einsetzen, wenn jeder Einzelne an dem Versuch gescheitert wäre, sich das Phänomen zu erklären.
Diejenige unter ihnen, die hätte eine Erklärung abgeben können, machte sich mit plötzlich zurückerlangter Bewegungsfähigkeit in der eingetretenen Stille aus dem Staub, noch bevor man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
In den Nachrichten wurde freilich nicht davon berichtet, aber der "Hexenkessel" wurde ab sofort nur noch von zwielichtigen Personen frequentiert, denen die Hoffnung, einen Partner auf üblichem Wege zu finden, abhanden gekommen war.
Erstaunlicherweise ging die Zahl der Besucher dadurch nicht zurück. Es gab schließlich genug verzweifelte Seelen auf Sexentzug.
In diesem Sinne hatte die kleine Möchtegern-Samariterin vielleicht doch für einige gehemmte Personen etwas Positives vollbracht, die nun einen Zufluchtsort mit Gleichgesinnten fanden.
Die Szenedisco hatte einen neuen Ruf und ging als "Club der widerwilligen Orgie" in die Annalen der Hexengeschichte ein. Und das Amt für statistische Erhebungen registrierte einen kurzen Anstieg der Geburtenrate etwa neun Monate später.
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2017
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