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Blau

Heute morgen ist mir etwas Seltsames passiert, als ich in meinem Bett erwachte.

Und ich meine nicht, im Sinne von: ich hatte einen komischen Traum, sondern in dem Sinne, dass ich meinen Augen nicht trauen wollte. Doch selbst nach mehrmaligem Blinzeln und einem Versuch, mich an ungewöhnliche Vorkommnisse des letzten Abends zu erinnern, wollte das mir bietende Bild sich nicht ändern.

Ich möchte an dieser Stelle schon betonen, dass jeglicher Restalkohol gänzlich aus meinem Blut verschwunden sein musste zu diesem Zeitpunkt. Denn ich wusste noch sehr genau, wer ich war, wo ich mich befand und was ich zuletzt konsumiert hatte.

Aber nichts davon erklärte auch nur annähernd, warum die Welt um mich herum auf einmal war, wie sie war - oder zumindest wie ich sie wahr nahm. Denn alles was ich sehen konnte, leuchtete zwar in unterschiedlichen Abstufungen und Nuancen, doch eindeutig ... BLAU!

Da war die blau-gemusterte Tapete, die in meiner Erinnerung noch braun-gemustert war; die dunkelblauen Vorhänge vor hellblauen Jalousien und ein blaumelierter Teppich.

Es kostete mehrere Minuten, mich an diesen Umstand zu gewöhnen, bevor ich mich damit beschäftigte, weitere Erkundigungen einzuholen und herauszufinden, wer für diese unangekündigte und geschmacklose Art der Umdekoration verantwortlich war.

Dann wurde mein Augenmerk allerdings von der Tatsache abgelenkt, dass meine eigene Haut (zunächst nur die Hände und nach einer gründlichen Untersuchung vor dem Spiegel auch die Haare, Augen und sogar die Zähne) bläulich schimmerte.

Wer blaue Fingernägel schon abgefahren findet, der sollte sich einmal versuchen vorzustellen, welchen Eindruck eine komplette Blaufrau machen würde. Eine Blue Men Group gibt es ja bereits und so war mein erster, irrationaler Gedanke, ob ich wohl damit zu einer Showattraktion werden könnte.

Aber dieser Anflug von Selbstironie verflog spätestens in dem Moment, als ich einen Blick auf die Welt hinter meinem Fenster warf. Dort breitete sich vor mir der in blauen Schnee gehüllte Ausläufer einer Großstadt aus.

Ich erkannte unter der normalerweise weißen, oder zumindest matschig grauen Decke, die kahlen Skelette blauer Bäume. Als wäre jemandem ein riesiger Eimer Farbe ausgekippt und Menschen sowie Autos und Tiere wären unbedacht hindurchgelaufen, zeichneten sich dunkelblaue Fuß- und Reifenspuren deutlich auf den Straßen ab.

Und damit nicht genug, strahlte eine gleißend hellblaue Sonne fröhlich auf die verkehrte Welt und ließ die Schneekristalle wie in einem bizarren, modernen Kunstwerk funkeln.

Ich trat vorsichtig auf den Balkon und auch wenn ich selbst nicht weiß, wie das möglich ist und wie man es überhaupt beschreiben kann, schien die Luft in einer kalten blauen Schwingung zu vibrieren, während der schneidende Wind mir einen Hauch von bläulichem Geschmack auf die Lippen zauberte.

Die Welt muss verrückt sein - von der normalen Frequenz ein Stück zu weit in das blaue Spektrum gerückt. Dafür gibt es sicher eine wissenschaftliche Erklärung, die hoffentlich nur darin besteht, dass etwas mit meinen Zapfen und Stäbchen im Auge nicht stimmt, was man mit der entsprechenden blauen Pille leicht beheben könnte.

Doch ein Gefühl in meinem (zweifellos blauen) Magen sagt mir, dass es hier um etwas Anderes geht, etwas Größeres und alle Sinne betreffend, nicht nur die Sehzellen.

Ich wollte mir zur Stärkung vorbeugend gegen den Schock, der sicherlich bald eintreten müsste, etwas zum Frühstück machen, doch außer vielleicht bei Blaubeeren, die sich leider nicht in meinem Besitz befinden, ließ sich mein Instinkt nicht dazu überreden, mir nicht von dem Genuss blauer Lebensmittel abzuraten.

Hat schon mal jemand geschafft eine blaue Banane zu Essen ohne sich dabei zu vergiften? Der Appetit war mir vergangen, noch bevor er richtig kommen konnte.

Einen Vorteil hatte das ungewohnte Weltbild allerdings: Beim Zusammenstellen meiner heutigen Kleidung entdeckte ich, dass selbst die unterschiedlichsten Blautöne gut zu meinem neuen Teint passen. Das machte die Wahl wesentlich unkomplizierter, die mir ansonsten viel Zeit und Unmut bereitet hätte, trotz aller Widrigkeiten einen geschäftigtüchtigen Eindruck zu machen. Die Arbeit wartete schließlich ungeachtet aller Verquickungen auf mich und so machte ich mich aus purer Gewohnheit auf den ansonsten eher tristen Weg.

 

Ein paar Menschen, von meiner Not völlig unbeeindruckt, eilen als blaue Schatten an mir vorbei. Keiner verhält sich irgendwie ungewohnt. Wobei ich so genau sonst gar nicht darauf achte, was ihre Gewohnheiten betrifft. Man sieht gelegentlich die selben Leute an den Haltestellen, doch im Schein des heutigen Blaulichts, erkenne ich sie kaum wieder. Sie tragen nichts als farbenprächtige Masken.

Keiner schaut mir ins Gesicht (wie sonst auch nicht) und gibt mir dadurch die Möglichkeit, in ihnen nach einem Zeichen zu forschen, dass ich nicht alleine mit meinem Dilemma wäre.

Nach reiflicher Überlegung entschließe ich mich zu der mir einzig logisch wirkenden Entscheidung, anstatt wie ein Möchtegern-Detektiv dem Phänomen auf den einfarbigen Grund zu gehen, mich in mein Schicksal zu fügen ... Also mache ich heute definitiv blau!

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Tag der Veröffentlichung: 10.02.2017

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