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Aurelia

 

 

 

 

 

 

Aurelia

Tochter eines Lanista

 

Magdalena Steinkogler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Magdalena Steinkogler wurde 1989 in Wien geboren und lebt auch heute noch dort mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Wenn sie nicht gerade neue Geschichten schreibt, liebt sie es, lange Waldspaziergänge mit ihrem Hund zu machen oder in ihrem Garten zu arbeiten.

 

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@autorin.steinkoglermagdalena

teilt sie Einblicke in ihren Autorenalltag und über weitere Projekte.

 

 

 

 

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält sensible Szenen. Eine Liste der Themen befindet sich am Ende des Buches.

 

Glossar

Ein ausführliches Glossar zu den verwendeten lateinischen Begriffen befindet sich am Ende des Buches in alphabetischer Anordnung, ebenso die lateinischen Sprüche mit Übersetzung und ggf. Urheber in der Reihenfolge ihres Auftretens.

 

 

 

 

Aurelia

Tochter eines Lanista

 

 

 

 

Von Magdalena Steinkogler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel: Aurelia

Autorin: Magdalena Steinkogler

ISBN: 978-3-98942-207-0

© 2023 Lycrow Verlag

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omnia vincit amor

I. Das Mädchen

I. Das Mädchen

 

„Euer Vater hat es befohlen. Wehrt Euch nicht.“ Eine Hand Schloss sich fest um Aurelias Oberarm.

„Nein! Ihr könnt mich nicht zwingen!“, rief das kleine Mädchen unter Tränen. „Das ist mein Heim! Ich werde nicht gehen.“ Ihre Stimme glich einem verzweifelten Schluchzen. Mit aller Kraft versuchte sie, dem Griff der Dienerin zu entkommen. Die dünnen Finger der Sklavin hatten sich unnachgiebig um ihr zartes Handgelenk geschlossen, und so sehr sie es auch versuchte, er lockerte sich nicht.

Ungeachtet ihres Widerstands zerrte die Dienerin das Kind hinter sich durch die Gänge der Villa. „Nun stellt Euch nicht so an. Euer Vater weiß, was das Beste für Euch ist. Ihr habt ihm zu gehorchen“, zischte ihr die Frau ungeduldig entgegen.

Aurelia starrte sie entsetzt an. All das war zu viel für das kleine Mädchen.

Der Tod ihrer Mutter lag erst einige Tage zurück. Sie hatte Tag und Nacht nur geweint, stundenlang vor der Türe ihres Vaters gesessen und gehofft, er würde sie zu sich hereinholen, doch sie wurde bitter enttäuscht. Eine eisige Kälte hatte ihr aus seinen Augen entgegengeblickt. Eine Kälte, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er gab ihr keinerlei Halt, spendete ihr keinerlei Trost. Und nun hatte er beschlossen, seine eigene Tochter zu verstoßen. Er schickte sie fort von allem, was sie kannte, von allem, was sie liebte.

Mit geballter Kraft riss sie sich los und spuckte der Sklavin ins Gesicht. „Ihr könnt mich nicht zwingen!“ Aufgelöst rannte sie, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, zurück in die Villa. Im Innenhof angekommen stieß sie mit ihrem Vater zusammen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihm ins Gesicht sah. Für einen kurzen Augenblick schien es ihr, als würde sie eine Gefühlsregung in seinem Blick erkennen, doch schon nach einem Wimpernschlag war diese verschwunden.

Streng blickte er auf seine Tochter herab. „Wieso bist du noch nicht beim Tor?“ Seine Stimme ließ in diesem Moment keinerlei Zuneigung spüren.

„Das kannst du nicht machen, Vater!“, flehte sie. „Ich habe schon Mutter verloren. Ich kann nicht dich auch noch verlieren!“ Verzweifelt klammerte sie sich an ihm fest. Sie konnte nicht verstehen, weshalb er sich in dieser schweren Zeit von ihr abwandte.

Sein Gesicht blieb unnachgiebig und hart. Weder Trauer noch Verständnis lagen in seinem Blick. Er sah aus völlig kalten Augen auf sie herab. Seine Kiefermuskulatur spannte sich an und er schnaubte. „Ich habe es dir bereits mehrfach gesagt. Du wirst zu Ephilia aufs Land fahren und dort wirst du die nächsten Jahre verbringen ...“

„Wieso tust du das? Wieso stößt du mich von dir? Das hier ist mein Zuhause, du kannst mich nicht einfach fortschicken!“, unterbrach sie ihn schluchzend.

Lucius hatte genug von der langen Diskussion. Grob packte er seine widerspenstige Tochter am Oberarm. „Ich kann und ich werde“, knurrte er sie an. „Wenn du dich weiter so anstellst, werde ich andere Saiten aufziehen.“

In seiner Stimme schwang unbändiger Zorn mit.

Aurelia blickte ihn verständnislos aus ihren großen Augen an.

„Wo ist die Dienerin, die dich zur Kutsche bringen sollte?“, fragte er und zog seine Tochter hinter sich her. Das Kind weinte und schrie. Mit aller Kraft versuchte sie, ihm und dem drohenden Abschied zu entfliehen. Ihr Vater beachtete diesen Umstand nicht weiter. Unbeirrt zerrte er sie weiter in Richtung Tor.

Die Sklavin eilte an seine Seite. „Dominus“, entschuldigte sie sich. „Ich bitte um Vergebung.“ Sie senkte demütig ihr Haupt. „Sie hatte sich losgerissen.“

Lucius strafte sie mit strengem Blick, legte aber keinen Wert darauf, ihr zu antworten.

Am großen Tor angekommen ließ er seine Tochter endlich los. Von Traurigkeit umhüllt rieb sich das Mädchen über den Oberarm. Noch nie zuvor hatte ihr Vater sie derart grob angefasst und in solch einem strengen Ton mit ihr gesprochen. Sie erkannte ihn nicht wieder. Wie konnte er ihr nur so etwas antun?

„Steig in die Kutsche, Aurelia“, donnerten seine Worte über den Hof. Aurelia sah sich um. Die römischen Wachen, welche neben der Kutsche Stellung bezogen hatten, wandten ihre Blicke ab. Sie rührte sich nicht von der Stelle.

„Aurelia!“, mahnte er erneut. „Wir hatten das besprochen. Zwing mich nicht, dir weh zu tun.“

Sie starrte ihren Vater an.

Plötzlich stand ein Mann, in einen bodenlangen Umhang gehüllt, neben ihr. Da seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen war, war es ihr unmöglich, sein Gesicht zu erkennen. Aurelia wusste, er war einer von Vaters Gladiatoren. Ohne auch nur ein Wort zu ihr zu sprechen, flößte er ihr allein mit seiner Erscheinung ungeheure Angst ein. Seine breiten Schultern und kräftigen Arme ließen ihn wie einen Fels erscheinen. Er überragte ihren Vater noch um mehr als einen Kopf und sein breites Kreuz hob ihn auch von den gut ausgebildeten Soldaten in den purpurroten Umhängen ab.

Fassungslosigkeit und Angst betäubte ihren jungen Körper und Tränen liefen dem aufgelösten Mädchen über die Wangen. Die Dienerin, der sie noch vor wenigen Minuten entflohen war, drängte sie indes weiter zur Kutsche. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich, dem Willen ihres Vaters nachzugeben. Jeder Muskel hatte sich verspannt und weigerte sich, einen weiteren Schritt auf die Kutsche zuzumachen.

Ohne Vorwarnung packte sie der Gladiator an den Oberarmen. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz schien vor Schreck stehengeblieben zu sein. „Nehmt Euer Schicksal an ...“, knurrte er. Seine Stimme glich einem herangrollenden Donner und ließ sie innerlich erzittern. Ihre Beine waren kurz davor unter ihr nachzugeben und eine Welle von Furcht drohte, sie mit sich zu reißen.

Sie hatte jeglichen Halt verloren.

 

 

 

Aurelia schreckte schweißgebadet hoch. Ihr Herz raste. Völlig außer Atem rang sie nach Luft. Unsicher, ob dies wirklich nur ein Traum war, strich sie sich über die Oberarme. Die Beine vor ihrer Brust angewinkelt, umschlang sie diese mit ihren zittrigen Armen.

Seit Jahren schon hatte sie keine Albträume mehr gehabt. In den ersten Monaten nach ihrer Ankunft bei Ephilia war sie jede Nacht von ihnen heimgesucht worden und sie war mit rasendem Herzen erwacht.

Immer wieder hatte sie von dem schmerzhaften Abschied und dem einschüchternden Gladiator geträumt und immer wieder hatte sie das Gesicht ihrer sterbenden Mutter aus dem Schlaf gerissen.

Doch irgendwann verschwanden diese grauenhaften Erinnerungen und mit ihnen auch das ständige Gefühl der Angst.

Nun waren ihre Träume zurück. Die Vergangenheit schien das Mädchen erneut einzuholen. Unwillkürlich begann Aurelia am gesamten Körper zu zittern. Sie wollte sich nicht vorstellen, ihrem Vater wieder gegenüberzustehen. Wie sollte sie ihm vors Angesicht treten, nachdem er sie vor so vielen Jahren verstoßen hatte? Bei dem Gedanken, in ihr einstiges Heim zurückzukehren, krampfte sich ihr Magen zusammen und ihr stiegen die Tränen in die Augen. Wie könnte sie dort jemals wieder leben? An dem Ort, an dem ihre Mutter ihr Leben und sie selbst alles verloren hatte? Wie sollte sie dort jemals glücklich werden?

Vor ihren Augen sah sie wieder den Gladiator, der sie damals aus dem ludus, der Gladiatorenschule ihres Vaters, gebracht hatte. Krampfhaft versuchte sie, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Als er sie bei Ephilia vor fünf Jahren aus der Kutsche geholt hatte, trug er keine Kapuze. Aurelia bemühte sich, wollte sich an jedes Detail erinnern. Doch ihr Blick war damals wie heute durch einen Schleier aus Tränen getrübt.

Nachdem sie ihre Tränen getrocknet und sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, hüllte sie sich in eines ihrer Laken. Traurig trat sie ans Fenster. Ihren Blick in die Sterne gerichtet, sog sie die kühle Nachtluft ein.

Es war ihr, als könnte sie den festen Griff ihres Vaters immer noch spüren. Sie erinnerte sich an sein Gesicht, als ob er direkt vor ihr stehen würde. Sein kantiges, kühles Gesicht, seine gerade Nase, seine schmalen Lippen. Seine kalten, grünen Augen, in denen keinerlei Zuneigung lag. Eine Gänsehaut überkam sie bei diesen Erinnerungen. Schließlich legte sie sich wieder ins Bett und kämpfte mit all ihrer Kraft gegen den Schlaf an, doch er übermannte sie, wie stets.

Als Aurelia am folgenden Morgen erwachte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Sie schlug das Laken zur Seite und entdeckte eine Blutlache. Zu den krampfartigen Schmerzen, die sie im Unterleib verspürte, mischte sich bei diesem Anblick und der damit verbundenen Gewissheit, in der letzten Nacht zur Frau geworden zu sein, eine lähmende Übelkeit. Ein grässliches Unbehagen bemächtigte sich ihrer.

Dies war der Moment, vor dem sie sich schon so lange Zeit gefürchtet hatte.

Dies war der Moment, der ihr Leben wie sie es bis jetzt geführt hatte, für immer verändern würde.

Sie war zur Frau geworden.

Nachdem sie sich gesäubert hatte, saß das Mädchen gedankenverloren in den Gärten ihrer Tante Ephilia. Umringt von all den blühenden Pflanzen wirkte sie wie ein kostbares Juwel. Ihr langes, braunes Haar lag in großen Locken über ihren schmalen Schultern. Das leichte, zart fallende Kleid umschmeichelte ihren zierlichen Körper.

Aurelia lebte seit fünf Jahren auf dem Landsitz ihrer Tante. Tag und Nacht umgeben von Dienern, hatte sie sich nie um etwas sorgen müssen, und jeder Wunsch wurde ihr von den Augen abgelesen. Obwohl die Tante sie wie ihr eigenes Kind behandelte, fühlte sie sich oft allein und verlassen, denn die bohrende Leere, die der Tod ihrer Mutter in ihr hinterlassen hatte, konnte nicht gefüllt werden. Wie so häufig liefen Tränen über ihre Wangen. Es schien, als würde sie keine Luft bekommen, und allein beim Gedanken, was ihre Tante zu ihrem Zustand sagen würde, krampfte sich ihr Magen zusammen.

Ihr war klar: Sie musste bald schon in den ludus ihres Vaters zurückkehren, da sie nun eine Frau war, doch wollte sie das nicht, nicht nach so vielen Jahren.

Nicht, nachdem sie hier ein zweites Heim gefunden hatte.

Ephilia konnte ihre Mutter nicht ersetzen, aber sie gab ihr Geborgenheit und das Gefühl, geliebt zu werden. Aurelia graute davor, all das hinter sich zu lassen. Sie dachte an ihren Vater und den ludus. Sie war zu jung gewesen, um sich an alles zu erinnern, oder sie hatte diese Erinnerungen ganz tief in ihrem Inneren begraben. Zu schmerzhaft waren die Dinge, die sie mit ihrem einstigen Zuhause verbanden. Sie wusste nur, hier bei Ephilia hatte sie es gut. Sie liebte ihre Tante und die farbenfrohen Gärten, die sie hier umgaben.

„Aurelia!“, rief Ephilia, als sie das Kind in den Gärten erspähte. Aurelia wischte sich rasch die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. Ihre Tante setzte sich neben das junge Mädchen und sah sie liebevoll an. „Was bedrückt dich, Liebes? Du weißt, du kannst mir alles erzählen!“ Ephilia hatte ihren Arm fürsorglich um Aurelia gelegt. „Sprich mit mir, liebes Kind“, forderte sie Ephilia auf.

Ihre Nichte sah sie mit tränengefüllten Augen an. „Ich habe heute Morgen eine fürchterliche Entdeckung gemacht.“ Ihre Stimme drohte zu versagen.

Sie hatte überlegt, es ihrer Tante zu verheimlichen, doch sie würde früher oder später dahinterkommen. „Ich blute ...“, schluchzte sie. Aurelia konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten und vergrub ihr Gesicht in ihren Handflächen. Sie war voller Sorge, Schmerz und Angst. Was, wenn Ephilia sie wieder zu Lucius zurückschicken würde? Sie hatte hier ein neues Leben begonnen. Sie könnte es nicht verkraften, erneut aus ihrem Heim gerissen und von ihrer Tante getrennt zu werden.

Ephilia nahm sie in ihre Arme. „Mein liebes Kind ...“ Sie küsste ihre Nichte zärtlich auf die Stirn. „Wir werden kein Wort darüber verlieren.“

Ephilia lächelte sie aufmunternd an. „Dein Vater weiß nur das, was ich ihm weitergebe. Ich werde schweigen. Du hast mein Wort“, versprach sie.

Aurelia drückte ihre Tante noch etwas fester.

Im ersten Jahr nach dem fürchterlichen Verlust ihrer Mutter hatte sie mehrmals versucht, von Ephilia wegzulaufen. Nichts wollte sie damals mehr als wieder zurück in ihr Zuhause.

Zurück zu ihrem Vater.

Doch mit der Zeit hatte sie es aufgegeben und akzeptiert, dass er sie nicht bei sich haben wollte. So sehr es sie auch schmerzte, hier war nun ihr Zuhause. Hier bei Ephilia hatte sie ein angenehmes Leben und wurde geliebt. Doch nun, da sie zur Frau geworden war, drohte ihre Welt erneut zu zerbrechen.

Ephilia hatte ihr kurz nach ihrer Ankunft gestanden, dass ihr Vater verkündet hatte, sobald sie zur Frau wurde, dürfte sie zurück in die Stadt.

Zurück in den ludus.

Zurück zu Lucius.

So sehr sie sich zu Beginn danach gesehnt hatte, wieder bei ihrem Vater zu sein, umso mehr fürchtete sie nun diesen Tag. Sie nahm Ephilias Hände in die ihren. „Ich habe Angst. Ich will nicht zurück“, schluchzte sie.

Ephilia atmete tief aus. Liebevoll strich sie Aurelia durch ihr langes Haar. „Ich passe auf dich auf, Aurelia. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird etwas erfahren. Wir halten zusammen. Ich verspreche es dir. Du musst dich nicht fürchten.“

Aurelia beruhigte sich langsam. Sie wusste, sie konnte sich immer auf ihre Tante verlassen. „Ich danke dir, Ephilia.“

Die beiden saßen noch stundenlang im Garten, ehe ein Unwetter aufzog. Aurelia begab sich in ihr Zimmer. Nachdenklich saß sie auf ihrem Bett. Bald schon tobte draußen ein schwerer Sturm, begleitet von heftigen Regenfällen. Die Nacht wurde durch grelle Blitze und ohrenbetäubenden Donner entzweigerissen. Genau in einer solchen Nacht war es geschehen.

Inmitten eines Unwetters verließ ihre Mutter vor fünf Jahren diese Welt.

Sie erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen.

 

 

 

Der Regen prasselte auf das Ziegeldach der Villa. Dennoch waren die Terrassentüren weit geöffnet, der aufkommende Wind riss an den Vorhängen. Ihr Vater Lucius saß an dem Bett ihrer Mutter und hielt ihre Hand. Tränen standen dem sonst so kühlen Mann in den Augen.

Diverse Bedienstete eilten herbei, stets bemüht, all den Aufforderungen ihres Herrn Folge zu leisten. Eine der Dienerinnen versuchte die Türen nach draußen zu schließen, doch der Sturm entriss ihr erneut die Vorhänge.

„Lass!“, rief Gaia. „Ich will den Regen hören. Lass sie offen.“ Ihre Kraft drohte zu schwinden. Gaia litt unter hohem Fieber und starken Schmerzen.

Eine junge Dienerin legte ihrer Herrin ein mit kühlem Wasser benetztes Tuch auf die Stirn.

„Wo bleibt der medicus?“, rief Lucius außer sich vor Sorge. Schon seit Tagen ging es seiner Gemahlin schlecht. Bisweilen halfen jedoch die Mittel, welche ihr der medicus verabreicht hatte. Heute Abend hatte sich Gaias Zustand allerdings dramatisch verschlechtert. Sie war nicht mehr in der Lage, ihr Bett zu verlassen, und sprach wirr. Lucius wich nicht von ihrer Seite. Aufgelöst versuchte er, sie zu beruhigen. „Der medicus ist auf dem Weg, liebste Gaia. Er wird dir helfen.“

Gaia sah ihn mit angstgeweiteten Augen an. Sie kannte ihren Gatten besser als er sich selbst. Sie hörte es an seiner Stimme und erkannte es in seinen Augen.

Er fürchtete um ihr Leben.

Gaia versuchte Luft zu holen. Als würde ihr Brustkorb von einer unnatürlichen Schwere bedrückt röchelte sie. „Aurelia.“ Lucius reagierte zunächst nicht.

„Aurelia, hol sie“, flüsterte seine geschwächte Frau. „Ich will sie noch ein letztes Mal sehen, bevor mich die Götter zu sich holen.“

Lucius rief sofort nach einem Diener. „Hol mir Aurelia und beeile dich!“ Voller Sorge wandte er sich wieder zu Gaia. Seine Frau schloss die Augen und wand sich vor Schmerz.

Aurelia hatte indes vor dem Zimmer ihrer Eltern gelauscht. Tränen standen ihr in den Augen.

Ebenso wie jetzt, da diese Erinnerung all den Schmerz neu entfachte. Ein ohrenbetäubender Donner zerriss die fürchterliche Stille.

Aurelia erschrak, denn in diesem Moment trat ein Diener aus dem Raum, um sie zu holen.

Als Gaia ihre Tochter erblickte, streckte sie die Hand nach ihr aus. „Komm zu mir“, hauchte sie.

Aurelia eilte zu ihrer Mutter. Gaia war kaum wiederzuerkennen. Ihr Haar war stumpf und spröde wie Stroh, ihre Haut war blass, die bläulichen Venen darunter gut sichtbar, als wollten sie sich einen Weg an die Oberfläche bahnen. Sie war abgemagert, hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Ihre Finger, welche sie nach ihrer Tochter ausstreckte, waren dünn wie abgenagte Hühnerknochen, ihre Augen dunkel und eingefallen.

Aurelia erschrak bei diesem Anblick. Zitternd trat sie näher. Ohne Kontrolle über die Gefühle, die sie überrollten, kniete sie tränenüberströmt vor ihr Bett.

„Mutter?“, fragte sie kaum hörbar.

Gaia legte ihre Hand an Aurelias Wange. „Du musst jetzt sehr stark sein, mein Liebes. Du musst für uns beide stark sein.“ Das Mädchen lehnte ihr Gesicht in Gaias Hand. „Wenn mich die Götter zu sich rufen, mein liebes Kind ...“

„Nein, Mutter! Du darfst mich nicht verlassen!“, schluchzte sie. Das kleine Mädchen vergrub ihr Gesicht in der Toga ihrer Mutter und schlang ihre Arme um den geschwächten Körper. „Bitte, Mutter! Du darfst nicht sterben!“ Tränen der Trauer und der Verzweiflung strömten unaufhaltsam über ihre Wangen.

Gaia nahm das Gesicht ihrer Tochter in ihre schwachen Hände, sodass Aurelia ihr in die Augen sehen musste. „Wenn es so weit ist, Aurelia ...“ Sie blickte ihrer Tochter tief in die Augen. „Bleib stark. Du bist so ein tapferes kleines Mädchen. Du wirst einmal eine starke junge Frau. Ich weiß es.“ Gaias Blick war voller Liebe und Zuversicht. „Und vergiss niemals, wie sehr ich dich liebe“, hauchte sie, ehe ihre Kraft völlig schwand und sie erneut die Augen schloss.

Aurelia wusste nicht, wie lange sie vor ihrer Mutter gekniet hatte, ehe sie auf die Seite gedrängt wurde. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und fühlte sich taub und leer. Von Trauer umhüllt trat sie einige Schritte zurück, als der medicus eintrat.

„Na endlich!“, schimpfte Lucius. Der Mann besah sich die geschwächte Frau und schüttelte betroffen den Kopf. Lucius erstarrte. In seinen Augen lagen Entsetzen und Trauer. Augenblicklich packte er Aurelia am Oberarm und zog sie weiter von ihrer Mutter weg.

In seiner Trauer über den drohenden Verlust seiner geliebten Frau bemerkte er nicht, wie grob er seine Tochter am Arm gepackt hatte.

 

 

 

„Mutter!“ Heute wie damals rief Aurelia verzweifelt nach ihr und rieb sich bei dieser Erinnerung über ihre Oberarme. Noch Tage später waren die bläulichen Verfärbungen an ihrem Oberarm zu erkennen gewesen, die der feste Griff ihres Vaters auf ihrer zarten Haut zurückgelassen hatte.

Sie wusste damals nicht, was für sie schlimmer war, die Tatsache, dass ihr Vater sie in dieser fürchterlichen Stunde, von ihrer geliebten Mutter getrennt hatte, oder der Schmerz, den seine grobe Berührung ausgelöst hatte.

Nun, fünf Jahre später wusste sie genau, sie wollte nie wieder dorthin zurück. Sie wollte nicht an den Ort zurück, an dem ihr die Götter ihre Mutter geraubt und der Vater ihr den letzten Halt genommen hatte.

Unter Tränen ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Kaum schloss sie ihre Augen, sah sie das verzweifelte und schmerzverzerrte Gesicht ihrer Mutter.

Aurelia krampfte sich vor Schmerz zusammen.

Bringt sie in ihr Zimmer, hallten die Worte ihres Vaters durch ihr Gedächtnis. Seine Diener hatten Aurelia gepackt und schoben das aufgelöste Mädchen zur Türe hinaus. Lucius hatte sich indes wieder zu Gaia gesetzt. Sein Blick war von Tränen getrübt. Aurelia sah sich selbst, wie sie weinend um sich schlug, um wieder zu ihrer Mutter zu kommen. Doch es war vergebens. Sie sah ihre Mutter in dieser Nacht zum allerletzten Mal.

Aurelia wurde von ihren Gefühlen übermannt und barg den Kopf in einem Kissen. Sie vermisste ihre Mutter nach wie vor sehr.

 

 

 

Die Wochen und Monate waren ins Land gezogen. Aurelia wuchs weit ab von der Stadt und den dortigen Eskapaden, von denen sie immer wieder mal von gelegentlichen Besuchern erfuhr, auf. Sie war bei Ephilia wohl behütet und sicher.

Bald wurde Aurelia siebzehn Jahre alt und zu ihrer Erleichterung hatte ihre Tante Wort gehalten und ihrem Vater bisher nichts davon erzählt, dass sie bereits zur Frau geworden war. Sie konnte daher ohne Angst in Ephilias Anwesen leben. Die Albträume hatten nachgelassen und Aurelia blühte auf und entwickelte sich zu einer fröhlichen jungen Frau.

Seit einigen Monaten traf sie sich regelmäßig mit Marcus. Er war ein junger Mann aus einer angesehenen Familie, die nicht unweit von Ephilias Anwesen lebte. Sein kurzes, blondes Haar leuchtete golden in der Sonne und sein freundliches Lächeln erfüllte Aurelia mit einer wachsenden Zuversicht. Wann immer sie bei ihm war, fühlte sie sich erwachsen. All ihre Ängste und Sorgen waren in seiner Nähe wie weggewischt. Dann dachte sie weder an die Zukunft noch an die Wünsche ihres Vaters. Sie lebte in diesem Augenblick und genoss jede Minute mit ihm.

Er gab ihr Halt und Geborgenheit. Mit ihm konnte sie über ihre Träume und Ängste sprechen.

Bei ihm konnte sie einfach sie selbst sein.

Mit ihm an ihrer Seite war sie glücklich.

 

 

 

Eines Morgens kam Aurelia aufgeregt zu ihrer Tante. „Ephilia!“, sie strahlte über das ganze Gesicht. Ephilia wurde von ihrem Lächeln angesteckt. „Ephilia“, wiederholte sie freudig. „Es ist etwas Wunderbares geschehen.“ Ihre Augen leuchteten. Sie biss sich voller Vorfreude auf die Unterlippe, als sie sich mit Ephilia an den Tisch setzte.

Ihre Tante zog interessiert die Augenbrauen hoch. „Was kann so großartig sein, dass du so außer dir bist?“, fragte sie lächelnd nach.

Aurelia nahm ihre Tante an den Händen. Sie holte tief Luft. „Marcus und ich möchten eine gemeinsame Zukunft.“

In diesem Moment erstarb Ephilias Lächeln. Aurelia bemerkte dies zunächst nicht, zu aufgeregt war sie wegen der Gefühle, welche sie für Marcus empfand. Ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust und ihre Worte überschlugen sich beinahe. „Wir haben uns verliebt. Ich möchte seine Frau werden.“

Kaum hatte die junge Frau diese Worte ausgesprochen, nahm Ephilia ihre Hände zurück. Nun bemerkte Aurelia ihre Veränderung. Verwundert zog sie die Augenbrauen zusammen. „Was hast du denn?“

Sie konnte sich die Distanziertheit ihrer Tante nicht erklären. „Freust du dich denn gar nicht für mich?“

Ephilia versuchte, ruhig zu bleiben. Sie schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich, Aurelia.“

Die junge Frau sah sie fassungslos an. „Wie meinst du das?“, fragte sie ungläubig nach.

„Es ist unmöglich“, wiederholte Ephilia. Immer noch kopfschüttelnd erhob sie sich.

Aurelia verstand nicht.

„Weshalb sollte das unmöglich sein?“ Sie versuchte, etwas im Gesicht ihrer Tante zu lesen, doch die sonst so lieblichen Züge ihrer Tante schienen in diesem Moment wie versteinert.

„Dein Vater würde das niemals gutheißen“, hauchte Ephilia beinahe betroffen.

„Mein Vater?“, Aurelia konnte es kaum fassen. „Marcus ist der Sohn einer angesehenen römischen Familie. Was sollte Vater an ihm auszusetzen haben? Er ist freundlich, ehrenwert und hat mich immer gut behandelt. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich liebe ihn ... und er liebt mich.“

Ephilia betrachtete ihre Nichte. In ihrem Blick lag so viel Mitgefühl, doch Aurelia fühlte sich übergangen. „Ich werde Marcus‘ Frau, ob es euch gefällt oder nicht!“, fuhr sie trotzig ihre Tante an. „Vater ist nicht hier. Was kümmert ihn, was aus mir wird? Was kümmert es ihn, wen ich liebe oder wen ich heirate? Er hat mich weggeworfen wie eine Toga, die er nicht mehr tragen wollte. Er kann hier nicht über mich bestimmen!“ Wütend über diese Entwicklung machte Aurelia kehrt und lief in ihr Zimmer zurück.

Ephilia sank atemlos auf den Stuhl und senkte traurig den Kopf. Hier schien das Kind endlich Frieden gefunden zu haben. Hier war sie aufgeblüht. Sie hatte sich zu einer wunderschönen, liebevollen, ehrlichen und reizenden jungen Frau entwickelt. Aurelia war klug und stur, ganz wie ihre Mutter.

Ein wehmütiges Lächeln huschte über Ephilias Gesicht, als sie an ihre geliebte Schwester dachte. Sie erkannte so viel von Gaia in Aurelia. Doch nun stand Aurelia wieder ein schmerzlicher Einschnitt in ihrem Leben bevor. Ephilia wusste um Lucius‘ Absichten und Pläne mit seiner Tochter. Ein junger Mann von niederem Stand hatte in Aurelias Zukunft keinen Platz, zumindest nicht, wenn es nach Lucius ging.

Schweren Herzens schrieb sie Lucius an diesem Abend einen Brief, in dem sie ihm über die Entwicklungen in ihrem Hause unterrichtete. Sie zögerte. Konnte sie Aurelia hintergehen und sie ihrer großen Liebe berauben?

Doch täte sie es nicht, welche Konsequenzen hätte dieses Handeln dann für sie und Aurelia? Mit Tränen in den Augen versiegelte sie das Schriftstück und übergab den Brief einem ihrer Diener.

Dieser brachte die Nachricht noch in derselben Nacht an seinen Bestimmungsort.

Ephilia liebte Aurelia wie ihre eigene Tochter, doch sie kannte Lucius gut. Er hatte sich seit dem Tod ihrer Schwester sehr verändert. Er steckte sich immer höhere Ziele und schreckte vor nichts zurück. Ephilia fürchtete schlicht seinen Zorn.

Aurelia hatte beinahe den gesamten Tag in ihrem Zimmer verbracht. Abends hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, um Marcus zu treffen.

In einem nahegelegenen Olivenhain fielen sich die beiden in die Arme. Aurelia weinte. „Marcus, was sollen wir nur tun?“

Der junge Mann drückte sie fest an sich.

Sie schluchzte. „Meine Tante sagt, mein Vater würde dieser Verbindung niemals zustimmen. Marcus, ich habe Angst. Ich will dich nicht verlieren. Ich will nicht mehr von hier weg.“ Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Ich will dich nicht aufgeben. Ich will uns nicht aufgeben.“

Er strich ihr liebevoll über die Haare. „Meine liebste Aurelia“, sprach er sanft. „Wir lieben einander, wir finden einen Weg.“ Er küsste sie zärtlich auf die Stirn.

Aurelia wurde von ihren Gefühlen überwältigt.

Die beiden saßen noch lange unter den Olivenbäumen, ehe sie zurück zu ihrer Tante ging.

Ohne viele Worte hatte ihr Marcus das Gefühl gegeben, es gäbe eine Lösung und einen Ausweg für diese so aussichtslos erscheinende Situation. Sie spürte, solange er an ihrer Seite war, brauchte sie nichts zu fürchten. Er würde sie nicht allein lassen. Er war nicht wie ihr Vater. Er war ehrlich, gütig und er liebte sie aufrichtig.

In dieser Nacht konnte Aurelia kaum ein Auge zutun. Unentwegt kreisten ihre Gedanken um Marcus, ihre Zukunft und die Worte ihrer Tante. Irgendwann übermannte sie die Müdigkeit und sie schlief ein.

Doch es war kein erholsamer Schlaf, denn bald schon wand sie sich von Albträumen geplagt im Bett.

 

Ubi bene, ibi patria

II. Die Entscheidung

II. Die Entscheidung

Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als der Bote den ludus des Lucius Tullius erreichte. Sogleich wurde er hereingebeten und durfte im großzügigen Innenhof auf Lucius warten, der kurz darauf vor den Boten trat. „Du kommst von Ephilia?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

Der Mann nickte, den Blick stets gen Boden gerichtet. „So ist es, ehrenwerter Lucius. Sie gab mir diese Nachricht für Euch.“ Er händigte Lucius den Brief seiner Herrin aus.

Dieser nickte dem Sklaven zu. „Du kannst hier warten.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Lucius den Innenhof, um sein Arbeitszimmer aufzusuchen.

Die Laune des lanista war ohnehin an diesem Tage nicht die beste, doch Ephilias Worte sollten ihn an seine Grenzen bringen. Er atmete tief ein, ehe er das Schriftstück überflog. Seine Augen weiteten sich, seine Stirn legte sich in Falten. Kaum hatte er ihre Nachricht zu Ende gelesen, zerknüllte er das Papier in seiner Faust.

Aufgebracht leerte Lucius ein Glas Wein und besann sich. So kurz vor der Erreichung seiner Ziele wollte er keinerlei Hindernisse akzeptieren. Dass sich seine Tochter in einen einfachen, jungen Römer verliebt hatte, war jedoch ein gewaltiges Hindernis. Er wusste, es war an ihm zu handeln, ehe er die Kontrolle über sie verlor. Hastig schrieb er Ephilia eine Antwort. Mit seinem Siegel verschloss er den Brief und nickte. Er spürte, er war auf dem richtigen Weg. Bald schon würden sich ihm ganz neue Möglichkeiten eröffnen.

„Hol mir Braccus“, befahl er einem seiner Sklaven. Sogleich eilte der junge Mann zu den Zellen der Gladiatoren, um Braccus zu seinem dominus zu geleiten.

Der erfahrene Gladiator folgte dem Sklaven bis in Lucius Arbeitszimmer. „Dominus“, begrüßte er seinen Herrn und nickte diesem zu.

Der Gladiator stand barfuß und in eine einfache, sandfarbene Tunika gewandet vor seinem dominus. Er hatte sich in der Arena einen Namen gemacht. Viele der anderen Gladiatoren fürchteten sich vor Braccus, ein Umstand, den sich Lucius, nur zu gerne auch außerhalb der Arena, zunutze machte. Braccus war nicht der größte oder talentierteste Gladiator, doch er glänzte mit roher Gewalt. Dieser Mann war von der Statur eher klein, aber fest gebaut, muskulös und zu allem bereit.

Lucius respektierte seine ehrliche Brutalität. Immer wenn er jemand für die Dreckarbeit außerhalb der Arena brauchte, zählte er daher auf Braccus.

Lucius hatte sich seiner Stärken nicht erst einmal bedient. Nun wollte er Ephilia, allein durch Braccus‘ Anwesenheit, einschüchtern und so dafür sorgen, dass sie seinen Anweisungen widerstandslos Folge leistete. Er konnte es sich nicht leisten, Ephilias Unterstützung zu verlieren.

Lucius lächelte schief. „Braccus!“ Er streckte die Arme von sich, als ob er den Gladiator umarmen wollte. „Ich komme gleich zum Punkt, Braccus“, begann Lucius. „In meinem Innenhof steht ein Diener meiner Schwägerin. Ich habe eine Nachricht für sie.“ Er hielt den versiegelten Brief hoch. „Ich möchte, dass dieses Schriftstück sie so rasch wie möglich erreicht.“ Braccus verstand seinen Anteil in diesem Unterfangen noch nicht. Fragend hob er die Augenbrauen.

„Hier kommst du ins Spiel, Braccus. Du sorgst mit deiner Anwesenheit dafür, dass meine Schwägerin meine Worte auch deutlich versteht.“ Lucius grinste verschlagen. „Ich dulde in diesem Belang keine Widerworte. Zieh dich um und mach dich gleich auf den Weg.“

Braccus nickte. „Wie Ihr befehlt, dominus.“ In einen braunen, bodenlangen Umhang gehüllt erhielt er am Tor eines von Lucius‘ Pferden und folgte Ephilias Boten, der voranritt.

In den Morgenstunden erreichten sie das Anwesen der ehrenwerten Ephilia. Ihre Bediensteten führten die beiden Männer sogleich in Ephilias Innenhof. Braccus kniff die Augen zusammen und versuchte aufmerksam, sich alles einzuprägen. Kurz darauf kam Ephilia herbei, um ihren Boten zu begrüßen. Als sie den Gladiator hinter einer der Säulen hervortreten sah, stockte ihr der Atem. Obwohl er nicht bewaffnet war, löste er in Ephilia eine beinahe unerträgliche Angst aus. Allein seine Erscheinung ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Tatsache, dass Lucius eine seiner Bestien mitgeschickt hatte, ängstigte die Römerin zutiefst. Verwundert sah sie sich um. Hatte Lucius diesen Barbaren gesandt, um ihr etwas anzutun? Oder wollte er gar Aurelia mit sich nehmen? Bei all diesen Gedanken schnürte sich ihr die Kehle zu. Mit zitternden Händen nahm sie den Brief. Den Gladiator ließ sie dabei nicht aus den Augen.

„Domina“, der Diener verneigte sich vor ihr und ging anschließend seiner Wege.

Ephilia zögerte, den Brief zu öffnen. Sie spürte die Blicke des Gladiators auf sich. Eine lähmende Übelkeit überkam sie, doch endlich brach sie das Siegel. Mit jedem Satz, den sie las, wurde ihr Gesicht blasser. Sie schüttelte traurig den Kopf. Lucius Worte waren schmerzlich, obgleich sie nur das aussagten, was Ephilia bereits lange wusste.

Ephilia atmete schließlich tief durch.

War es ein Fehler gewesen Lucius zu informieren?, fragte sie sich. Hätte sie es verheimlichen sollen? Doch mit welchem Ausgang?

Nein, sie hatte gar keine Wahl gehabt. Aurelia, so gerne sie auch hier war, gehörte schlussendlich zu Lucius. Er war der pater familias, das Familienoberhaupt, und sie alle hatten ihm und seinen Wünschen Folge zu leisten. Von dieser Erkenntnis tief verletzt, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass dieser Tag niemals kommen möge.

Sie hatte dieses verängstigte und verstörte Mädchen aufgenommen zu einem Zeitpunkt, an dem niemand anderer sie haben wollte, hatte sie ihr ein Heim gegeben.

Ein Zuhause.

Eine Familie.

Sie hatte ihr all ihre Liebe geschenkt und sie wie ihre Tochter behandelt.

Ephilia blickte zu Lucius‘ Gladiator hinüber. Sie liebte dieses Kind wie ihr eigenes, doch sie wusste, einer dieser Männer würde ihr Aurelia schon bald entreißen und sie von hier fortbringen. Eine schmerzliche Kälte breitete sich in Ephilia aus. Ihr Herz krampfte sich beklommen zusammen. Resigniert ließ sie den Brief mit Lucius‘ Anweisungen sinken und atmete erneut tief durch, ehe sie das Wort an den ihr unbekannten Mann richtete. „Seid Ihr nur hierhergekommen, um zu sehen, ob mich dieser Brief erreicht?“, fragte sie.

Braccus kniff die Augen zusammen. Langsam trat er näher.

Ephilia spürte, wie sich ihr gesamter Körper verspannte.

Der Gladiator sah sie eindringlich an. „Ich bin hier, damit ihr die Nachricht auch so versteht, wie sie gemeint ist.“ Einen Fußbreit vor Ephilia blieb er stehen. Seine kalte und raue Stimme ging ihr durch Mark und Bein und sie wich zurück. Bei keinem ihrer Sklaven hätte sie jemals solch ein Verhalten geduldet, doch etwas an diesem Mann ließ sie tief in ihrem Inneren erschaudern.

Ephilia schluckte schwer. Es war nicht das erste Mal, dass Lucius eine Nachricht mitsamt einem seiner Männer zu ihr schickte. Sie war sich sicher, nie würde einer dieser Gladiatoren Hand an sie legen und dennoch war sie durch die bloße Anwesenheit dieses Mannes eingeschüchtert.

Sie nickte. „Ihr könnt hier auf die Antwort warten.“ Sie wandte sich ab und verschwand in den Gängen ihres Anwesens.

 

 

 

Es brauchte den halben Tag, bis sich Ephilia wieder gesammelt hatte. Gegen Mittag berichtete sie ihrer Nichte von den Wünschen ihres Vaters und den damit verbundenen Maßnahmen. „Aurelia, bitte verstehe doch. Wir wollen nur dein Bestes“, beteuerte sie.

Doch Aurelia glaubte ihrer Tante kein Wort mehr. „Du hast mich verraten! Du hast mich hintergangen. Warum hast du es Vater erzählt?“, fuhr sie ihre Tante mit Tränen in den Augen an.

Ephilia legte ihre Hand auf Aurelias Schulter.

„Aurelia, ich will dich doch nur beschützen.“

In ihrer Stimme lag unendlich viel Sorge, aber auch Schmerz, denn sie ertrug die forsche Zurückweisung ihrer Nichte nur schwer. Alles, was sie jemals wollte, war, dass Aurelia glücklich war. Doch die starren Regeln der Familie gaben ihr in diesem Belang keinerlei Handlungsgewalt.

Die junge Frau entzog sich aufgebracht ihrer Berührung. „Wovor? Vor Marcus? Er ist die einzige Person, die mich wirklich liebt. Er steht zu mir und ich werde ihn nicht verlassen. Du hast mir all die Jahre vorgemacht, mich zu lieben. Stimmte, was du gesagt hast, dann würdest du zu mir halten. Du würdest so etwas nicht von mir verlangen! Du würdest mich nicht der Person entreißen, die ich über alles liebe! Du bist nicht besser als mein Vater!“, zischte sie, ohne sich der Tragweite ihrer Aussage im Klaren zu sein.

Ihre Tante war tief getroffen. Sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Bitte, Kind. Du hast keine Ahnung, was zu tun dein Vater imstande ist.“ In der Gewissheit, dass einer seiner Gladiatoren auf Antwort wartete, raste ihr Puls. Die Angst um ihre Zukunft nahm langsam überhand.

Aurelia fuhr sich aufgebracht durch ihr Haar. „Soll er doch kommen! Soll er seine Männer schicken!“, fauchte sie. In ihrem Blick lag plötzlich wieder so viel Kampfgeist wie an dem Tag, an dem er sie aus ihrem Heim verstoßen hatte. Sie biss die Zähne zusammen. Ihre Stimme war fest und bestimmt. „Ich werde nicht nachgeben. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich bin eine erwachsene Frau und werde bleiben. Ich werde Marcus nicht verlassen.“ Voller Wut stürmte sie aus dem Zimmer.

Ephilia sank wie betäubt auf den Stuhl zurück. Was hatte sie nur getan? War es falsch gewesen Lucius zu informieren? Doch wie hätte sie anders handeln sollen? Er war Aurelias Vater und er war das Oberhaupt der Familie. Sie hatte nicht den Mut, sich ihm entgegenzustellen. Sie konnte sich niemals gegen ihn oder seine Befehle auflehnen.

Für Aurelia tat es ihr jedoch sehr leid. Sie hatte gesehen, wie glücklich Marcus ihre Nichte in den letzten Monaten gemacht hatte. Er war ein liebenswerter und aufrichtiger junger Mann. Welch wundervolles Leben würde vor den beiden liegen. Sie senkte den Blick. In einem anderen Leben, dachte sie traurig.

Dennoch, es ließ sich nicht ändern. Diese Beziehung hatte keinerlei Zukunft. Noch bevor Aurelia achtzehn Jahre wurde, musste sie zurück in den ludus. So hatte es Lucius in seinem Brief angeordnet und seine Meinung ließ sich nicht ändern.

Ephilia war gezwungen, der bitteren Wahrheit ins Auge zu sehen: Aurelia war nicht ihre Tochter, somit musste sie tun, was Lucius befahl. Verzweifelt ließ sie den Kopf in die Handflächen sinken.

Aurelia war indes aus dem Haus gestürmt.

Aufgebracht und tränenüberströmt lief sie in die Gärten ihrer Tante. Sie brauchte einige Zeit, ehe sie wieder durchatmen konnte.

Wie konnte ihr Ephilia nur so etwas antun?

Weshalb fiel sie ihr in den Rücken?

Während die junge Frau versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, bemerkte sie eine Bewegung nahe dem Haus. Aurelia hielt den Atem an. Aufmerksam beobachtete sie eine fremde Person.

Es war ein Mann.

Nicht besonders groß gebaut, dennoch von beachtlicher Statur, breit und muskulös. Er trug einfache, braune Ledersandalen, einen Lederschurz und einen bodenlangen braunen Umhang.

Aurelia erschrak. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Es war einer der Gladiatoren aus dem ludus ihres Vaters, dessen war sie sich sicher. Er war genauso gekleidet wie der Gladiator, der sie vor so vielen Jahren hierhergebracht hatte. Es gab keinen Zweifel.

Schockiert über die Tatsache, dass ihr Vater einen seiner Männer schon so nahe bei ihr hatte, hielt sie sich die Hand vor den Mund.

Plötzlich wurde sie von einer unbeschreiblichen Angst übermannt. Wollte er sie zu ihrem Vater zurückbringen? War er hier, um sie aus ihrem Heim zu reißen?

So sehr sie auch aus dieser Situation fliehen wollte, Aurelia blieb wie angewurzelt stehen. Der Fremde schien sie nicht weiter zu beachten und verschwand schon bald hinter dem Haus.

Die junge Frau hingegen suchte kurz darauf Marcus auf. Aufgelöst fiel sie ihm in die Arme.

„Marcus!“, schluchzte sie. Sie war zu schwach, um ihre Tränen länger zurückzuhalten. „Marcus, mein Vater wird unserer Verbindung niemals zustimmen.“ Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Handflächen und ließden Tränen freien Lauf.

Marcus war ein junger Mann von friedlicher Natur. In seinen strahlend blauen Augen spiegelte sich nichts als Ehrlichkeit wider.

Er wollte sie trösten. „Liebste Aurelia, vielleicht ...“

„Nein!“, unterbrach sie ihn. „Es ist aussichtslos. Er hat Ephilia einen Brief geschickt und mit ihm kam einer seiner Gladiatoren.“

Marcus sah sie entsetzt an.

„Er hat einen dieser Männer mitgeschickt. Marcus, ich habe solche Angst. Ich will nicht wieder dorthin zurück. Ich will nicht, dass sie mich mitnehmen. Ich würde es nicht überleben, im ludus meines Vaters eingesperrt zu sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was gibt diesem Mann das Recht über mich zu bestimmen? Er hat mich verstoßen, jahrelang hat er sich nicht blicken lassen. Nun will er mich plötzlich bei sich haben, weshalb?“

Sie trocknete ihre Tränen und wandte sich wieder Marcus zu. „Laufen wir doch einfach davon.“

Hoffnungsvoll sah sie ihn mit ihren großen Augen an.

Marcus strich ihr mit den Händen zärtlich über die Arme und schüttelte traurig den Kopf. „Aurelia, wir können nicht einfach davonlaufen.“ Er atmete schwer aus. „Dein Vater würde uns suchen und bestimmt auch finden. Er oder einer seiner Männer“, gab Marcus zu bedenken.

Aurelias Augen hatten sich abermals mit Tränen gefüllt. „Willst du denn nicht mehr mit mir zusammen sein? Ich dachte, du liebst mich.“

In Marcus Augen lag so viel Schmerz. „Natürlich liebe ich dich, Aurelia. Doch welche Zukunft hätten wir?“ Er zuckte mit den Schultern. „Selbst, wenn wir davonlaufen würden und uns dein Vater nicht finden würde, würden wir ein Leben auf der Flucht führen.“ Liebevoll nahm er sie in seine Arme. „Du hast so viel mehr verdient, Aurelia.“

Aurelia konnte nicht glauben, was sie hörte. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Ich würde lieber ein Leben im Dreck führen, als noch einmal in den ludus meines Vaters zurückkehren zu müssen.“ Sie griff nach seinen Händen, hielt sie fest in den ihren. „Sag, dass du zu mir stehst. Sag, dass wir eine Lösung finden werden.“ Erwartungsvoll sah sie Marcus an. „Sag, dass mich diese Bestie nicht in den ludus zurückbringen wird.“

Er biss die Zähne zusammen. „Aurelia, dein Vater ist ein sehr einflussreicher Mann. Ich wäre mehr als töricht, ihn mir zum Feind zu machen. Du kennst die Menschen nicht, du weißt nicht, wozu sie in dieser Welt im Stande sind. Deine Tante hat dich gut behütet.“ Er lächelte sie an. „Ich liebe dich über alles. Ich muss dich beschützen und das werde ich auch. Du hast keine Ahnung, wie grausam die Welt außerhalb des Anwesens deiner Tante ist.“

Marcus versuchte mit aller Kraft, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Er war ein einfacher, junger Mann. Weder athletisch noch muskulös. Er hatte die Spiele mit seinen zwanzig Jahren bereits mehrmals besucht und dabei die Männer gesehen, die im Sand um ihr Leben und die Gunst der Zuschauer kämpften. Allein die Vorstellung, sich gegen Aurelias Vater und seine Gladiatoren zu stellen, erfüllte ihn mit Furcht. Vor Aurelia wollte er sich jedoch nichts davon anmerken lassen. Ihr zartes Gemüt würde diese bittere Wahrheit nicht aushalten, dessen war er sich sicher.

Aurelia lehnte ihren Kopf an Marcus‘ Schulter. „Lass mich nur nicht allein, Marcus. Versprich es mir.“

Er küsste sie sanft auf die Stirn. „Ich verspreche es“, flüsterte er.

 

 

 

Ephilia suchte indes krampfhaft nach den richtigen Worten, um Lucius zu antworten. Ihre Hände zitterten bei jedem Wort, welches sie zu Papier brachte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Der bloße Gedanke, Aurelia gehen lassen zu müssen, brach ihr das Herz. Noch viel schlimmer jedoch als die Trennung traf sie Aurelias abweisende Art ihr gegenüber. Ephilia wollte immer nur das Beste für ihre Nichte. All die Jahre hatte sie Unheil und Verderbtheit von ihr ferngehalten. Nun sollte all dies vorüber sein. Ephilias Herz krampfte sich bei diesen Gedanken schmerzlich zusammen. Die Schritte zum Eingang ihres Anwesens fielen ihr schwer. Mit jedem Meter, den sie voranschritt, wuchs ihre Unentschlossenheit.

Bittere Zweifel machten sich breit, doch beim Anblick des wartenden Gladiators wurde ihr klar, dass es keine andere Zukunft für sie und ihre Nichte gab.

Keine, in der Aurelia bei ihr bleiben konnte.

Keine, in der sie mit Marcus glücklich sein konnte.

Keine, in der sie sich gegen den Willen von Lucius Tullius auflehnen konnte.

Am Tor angekommen übergab sie Lucius‘ Gladiator ihren Brief. Der animalisch wirkende Mann war sich seiner Erscheinung wohl bewusst. Er brummte sie an. Ephilia hielt den Atem an, als er sich nahe zu ihrem Ohr lehnte. „Kommt nicht auf dumme Ideen, Lucius würde Euch nie verzeihen, würde seiner geliebten Tochter etwas zustoßen.“

Jeden anderen hätte Ephilia augenblicklich zurechtgewiesen.

Jeden anderen Sklaven hätte sie an seinen Platz gemahnt, doch bei Lucius‘ Männern wagte sie es nicht. Einerseits fürchtete sie die rohe Gewalt dieses Mannes, andererseits hielt Lucius seine schützende Hand über ihn. Ohne Widerworte ließ sie ihn seiner Wege ziehen.

Kaum war er außer Sichtweite brach Ephilia zusammen. Hilfesuchend legte sie ihre Handflächen vor ihre Brust. All dies war zu viel für ihre Nerven.

Wie konnte sie Aurelia nur daraus befreien?

Wie konnten sie dieser Situation bloß entkommen?

Und was sollte aus Marcus werden?

Ephilia saß am kommenden Morgen an ihrem Fenster, als sie einen Aufruhr hörte. Aufgeregt sprang sie hoch.

Aurelia wirbelte durch das Haus. „Wie kann er es wagen?“, fauchte sie. „Ich fasse es nicht!“ Empört stieß sie eine Vase um. Hinter ihr tummelten sich diverse Sklaven, um das Chaos hinter der jungen Frau zu bereinigen. Sobald sie ihre Tante erblickte, lief ihr Gesicht rot an. All die Wut und die Enttäuschung entluden sich in diesem Augenblick.

„Du willst mir mein letztes Glück nehmen!“, zischte sie Ephilia an. „Wegen dir bin ich nun auch hier eine Gefangene meines Vaters. Ich lasse mich hier nicht einsperren. Ich lasse mich nicht beschatten und kontrollieren!“ Aurelia zeigte anklagend mit dem Finger auf ihre Tante. „Das hier hast du zu verantworten!“

Ihre Stimme bebte vor Zorn. Ephilia versuchte, sich zu rechtfertigen, doch Aurelia war zu stur und ließ ihre Tante nicht zu Wort kommen.

Ephilia schnippte mit den Fingern und die Sklaven verließen den Raum.

„Ich habe genug davon. Ich bin kein kleines Kind mehr, dem man sagen kann, was es zu tun hat. Ich habe ein Recht auf mein Leben und auf mein Glück!“

Ephilia warf sich vor ihr auf die Knie. „Aurelia, bitte ...“, flehte sie ihre Nichte an. „Hör mir zu, Kind.“

Nun erkannte Aurelia, wie viel Schmerz es ihrer Tante bereitete, all dies von ihr zu verlangen. All ihre Wut verrauchte innerhalb von Sekunden und die junge Frau kniete sich zu ihr auf den Fußboden.

„Aurelia, mein Liebes ...“, begann Ephilia erneut. „Ich liebe dich wie meine eigene Tochter. Ich bin den Göttern ewig dankbar, dass sie dich zu mir gebracht haben. Das weißt du. Nichts hat sich geändert. Ich stehe zu dir, was auch immer kommt. Doch ...“, sie stockte.

Aurelia zog die Augenbrauen hoch. „Doch was?“

Ihre Tante atmete tief ein, ehe sie weitersprach. „Dein Vater ist und bleibt das Oberhaupt der Familie. Du bist beinahe achtzehn Jahre alt und es wird immer schwieriger, ihm weiszumachen, dass du noch nicht geblutet hast. Dein Vater war in seinem Brief eindeutig, was seine Vorstellungen betrifft. Sobald du zur Frau geworden bist, spätestens aber zu deinem achtzehnten Geburtstag sollst du wieder in den ludus zurückkehren und bis dahin darfst du dich keinem Mann versprechen. Seine Entscheidung steht fest und er wird seine Meinung nicht ändern.“

Aurelias Augen weiteten sich. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte.

Ephilia nahm sie an den Händen. „Ich wusste stets, dieser Tag würde kommen. Ich hatte jedoch immer gehofft, dass sich irgendetwas ändern würde. Nun da du Marcus kennengelernt hast und ihr euch verliebt habt, musste ich ihn informieren.“

Aurelias Augen füllten sich mit Tränen. „Aber wieso?“

Ephilia wischte sich die Tränen von den Wangen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Aurelia, ich versuche, dich zu beschützen.“

Die junge Frau verstand nicht. „Wovor denn? Marcus ist ein guter Mann.“ Tränen liefen ihr über die Wangen.

Ephilia schüttelte energisch den Kopf und ergriff Aurelias Hände. „Nicht vor Marcus“, hauchte sie. „Vor deinem Vater. Vor Lucius.“

Aurelia starrte sie an. Weshalb musste sie vor ihrem Vater beschützt werden? Noch mehr wunderte sie sich jedoch, warum sie dann zu ihm zurückgehen sollte.

Ephilia fuhr fort. „Dein Vater ist ein sehr schwieriger Mann, Aurelia. Er ist launisch, wütend und unberechenbar. Nach dem Tod deiner Mutter hielt ihn niemand mehr in Zaum. Sollten wir uns seinen Wünschen nicht fügen, werden wir dafür bitter bezahlen.“

Aurelia hielt sich die Hände vor die Brust. Plötzlich rang sie nach Luft. Sie erinnerte sich unwillkürlich an ihre letzte Begegnung mit ihrem Vater vor so vielen Jahren, als er sie grob am Arm gepackt hatte. „Weshalb willst du mich dann zu ihm zurückschicken? Du weißt, dass er mich nicht haben wollte. Du weißt, dass er mich nicht liebt.“

Ephilia strich ihr liebevoll durchs Haar. „Ich will dich nicht zurückschicken. Du musst mir glauben, könnte ich darüber bestimmen, würdest du hierbleiben.“ Sie senkte den Blick. „Lass uns das hier einfach aushalten“, schlug Ephilia vor. „Er verlangte in seinem Brief, dass du dich Marcus nicht versprichst. Bis zu dem Tag deiner Rückkehr in den ludus soll ich dich nicht unbeobachtet lassen.“

Aurelia wollte bereits protestieren, als ihre Tante weitersprach. „Hast du den Mann gesehen, den er mit meinem Boten mitgeschickt hatte?“

Aurelia wurde hellhörig. Verwundert sah sie ihre Tante an. „Den Gladiator?“, fragte sie leise, als ob man dies nicht laut aussprechen dürfte.

Ephilia nickte. „In dem Dienst deines Vaters stehen Dutzende solcher Männer. Es würde ein Wort von ihm genügen und wir würden morgen keinen Sonnenaufgang mehr erleben.“

Aurelia hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Aurelia, ich habe so lange versucht, dich vor all dem zu beschützen. Ich habe dir ein sicheres und behütetes Zuhause gegeben, dich vor Schmerz bewahrt und all die Verderbtheit und Maßlosigkeit der Stadt von dir ferngehalten. Ich habe versucht, dich zu einer aufrichtigen und guten Frau zu erziehen.“ Sie schüttelte betroffen den Kopf. „Doch nun habe ich keine Kontrolle mehr über die Dinge, die geschehen werden. Er wird dich noch vor deinem nächsten Geburtstag holen lassen. Ich bin machtlos dagegen und das bricht mir das Herz. Mich gegen deinen Vater zu stellen, würde meinen Untergang, im schlimmsten Fall sogar meinen Tod bedeuten.“ Ephilia brach in Tränen aus.

Aurelia war durch den Schock wie betäubt.

War ihr Vater wirklich so ein schreckliches Monster?

Weshalb hatte ihr Ephilia nicht früher davon erzählt?

Bei dem Anblick ihrer aufgelösten Tante vergaß die junge Frau all ihren Zorn und ihre Angst. Liebevoll nahm sie Ephilia in die Arme.

„Wir schaffen das“, bestärkte sie ihre Tante.

 

 

 

Spät abends lag Aurelia in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie versuchte, all ihre Eindrücke und die Worte ihrer Tante zu ordnen. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte all dies nicht verstehen. Sollte Marcus recht behalten, fragte sie sich im Stillen. Hatte sie wirklich keine Ahnung von der Welt außerhalb dieser Mauern? Wenn die Welt da draußen auch nur annähernd so verdorben war, wie ihr Marcus angedeutet hatte, wollte sie Ephilias Landgut niemals verlassen.

Hier war sie in Sicherheit.

Hier war nun ihr Zuhause.

Hier war ihr Heim und sie konnte sich nicht vorstellen, es hinter sich zu lassen.

Ebenso wenig wollte sie ihre geliebte Tante, die ihr die letzten Jahre wie eine Mutter war, verlassen.

Bald schon dachte sie an den Fremden, den sie heute hinter dem Haus gesehen hatte. Allein seine Erscheinung hatte ihr Herz kurz zum Stillstand gebracht.

Sie erinnerte sich an ihre Kindheit. An die Tage, an denen sie den Dienerinnen entwischt war und vom Balkon geschaut hatte. Wie begeistert war sie damals gewesen, all diese Kämpfer auf dem Übungsplatz zu sehen.

Sie hielt diese Männer für außerordentlich mutig.

Wie töricht, dachte sie jetzt. Nun, da sie erwachsen war, wusste sie um ihre eigentliche Aufgabe. Dachte sie früher, es wären mutige Krieger, wusste sie nun, es waren Sklaven, gezwungen, sich zur Belustigung des Pöbels, gegenseitig in der Arena abzuschlachten. Wie sehr verachtete sie die Spiele, doch waren sie schon immer Teil ihres Lebens gewesen.

Aurelia brauchte in dieser Nacht viele Stunden, ehe der Schlaf zu ihr kam.

 

 

 

Die nächsten Wochen und Monate wurde jeder von Aurelias Schritten beobachtet. Anders als im ludus ihres Vaters gab es bei Ephilia keine römischen Wachen. Es waren ihre Sklavinnen, die bei Tag und Nacht ein Auge auf die junge Frau hatten.

Sie fühlte sich erneut wie gefangen.

Jeden Abend betete sie zu den Göttern, sie mögen sie erhören und all dem ein Ende bereiten. Endlos waren ihre Bitten nach Hilfe oder einem Ausweg.

Je näher der Tag des Abschiedes kam, desto ruhiger wurde Aurelia. Die sonst so lebensfrohe junge Frau zog sich immer mehr zurück.

Marcus, den sie über alles liebte, distanzierte sich von ihr. Sie hatte ihn noch einmal gebeten, mit ihr davonzulaufen. Wieder hatte er es abgelehnt.

Wir können das nicht riskieren, hallten seine so schmerzhaften Worte in ihrem Gedächtnis nach. Allein bei der Erinnerung an diesen Moment traten ihr die Tränen in die Augen.

In wenigen Tagen wurde sie achtzehn Jahre alt.

Sie wollte Marcus nun ein letztes Mal sehen, ehe sie zu ihrem Vater zurückkehren musste. Sie hatte mit ihm vereinbart, dass sie sich im Olivenhain treffen wollten, sobald der Mond aufgegangen war.

Heimlich schlich sie sich in der Dämmerung aus dem Haus. Kurze Zeit später wartete sie unter den prächtigen Olivenbäumen. Die Zeit verging, doch Marcus erschien nicht. Aurelia wartete.

Nach einiger Zeit kam ein kühler Wind auf. Ihr wurde unbehaglich.

Weshalb hielt er sich nicht an sein Wort, sie hier zu treffen?

Hatte er bereits mit ihr abgeschlossen?

Liebte er sie doch nicht?

Enttäuscht und verunsichert durch diese Gedanken eilte sie, mit Tränen in den Augen und einem gebrochenen Herzen zu Ephilias Haus zurück. Bevor sie in ihrem Zimmer verschwand, hielt sie inne. Irgendetwas stimmte nicht. Aurelia fühlte sich beobachtet. Sie drehte sich um, konnte jedoch niemanden erkennen. Mit einem beklemmenden Gefühl schloss sie die Türe hinter sich und legte sich zu Bett.

In dieser Nacht quälten Aurelia, wie so oft in den letzten Monaten, fürchterliche Albträume. Seit einiger Zeit träumte sie immer wieder von diesem furchteinflößenden Gladiator, welchen ihr Vater mit Ephilias Boten mitgeschickt hatte.

 

 

 

„Euer Vater hat mir nicht berichtet, dass Ihr von solcher Schönheit seid“, raunte er ihr ins Ohr.

Aurelia erstarrte. Der Gladiator ihres Vaters stand nur einen Fußbreit vor ihr und lehnte sich nahe an sie heran. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch. Sie konnte seinen heißen Atem auf ihrem Hals fühlen, spürte seine Blicke auf ihrem zarten Körper. Augenblicklich überkam sie eine Gänsehaut.

„Hattet Ihr schon jemals einen Mann?“

Aurelia stieß ihn von sich weg. „Fasst mich nicht an!“, fauchte sie.

Der Gladiator jedoch lachte nur. „Sonst, was? Wollt Ihr um Hilfe schreien? Es wird Euch keiner hören. Es wird niemand kommen, um Euch zu retten. Ihr seid allein.“

Aurelia sah sich hilfesuchend um. Er hatte recht. Sie fand sich in einer der Zellen im ludus ihres Vaters wieder. Eingesperrt zwischen kalten Mauern und dicken Gitterstäben. Der Gladiator trat erneut an sie heran. „Nur ihr und ich.“

Aurelias Herz raste, als er die Hand nach ihr ausstreckte. „Wagt es nicht, mich anzufassen!“, wiederholte sie zischend.

Blitzschnell hatte er sie an der Kehle gepackt und an die Wand gedrückt. Die feuchten Steine der Zellenwand drückten sich ihr in den Rücken. Jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte in diesem Augenblick. Die Wucht, mit welcher er sie an die Wand gepresst hatte, trieb ihr die Luft aus den Lungen. „Ihr gebt hier keine Befehle. Ihr seid nur ein Weib. Ihr werdet mir nun Vergnügen bereiten, ob ihr wollt oder nicht“, knurrte er. Seine Stimme war voller Verlangen.

Tränen schossen der jungen Frau in die Augen, als er ihre Kleider hochschob und ihre Schenkel grob auseinander drückte.

 

 

 

Mit rasendem Herzen schreckte die junge Frau hoch. Aurelia bekam kaum Luft und legte ihre Hand an ihren Hals. Voller Angst kauerte sie sich am Kopfende ihres Bettes zusammen.

In welch fürchterlichen Albtraum war sie hier nur geraten?

In dieser Nacht betete sie, so wie in jeder anderen, seit sie von den Absichten ihres Vaters wusste, zu den Göttern. Sie flehte um Beistand, um ein Zeichen. In dieser Nacht hatte sie jegliche Kraft verlassen.

Mit Tränen in den Augen beschwor sie die Götter, sie von diesem Leid zu befreien. Sie wollte sich ein Leben ohne Marcus an ihrer Seite nicht ausmalen.

Zu grauenhaft war die Vorstellung, im ludus ihres Vaters eingesperrt zu sein, umringt von brutalen Gladiatoren, und dem Willen ihres Vaters schutzlos ausgeliefert.

Bald war der Tag gekommen, an dem sie genau dorthin zurückkehren musste. Marcus hatte Aurelia eine Nachricht zukommen lassen, in der er sich für sein Verhalten entschuldigte. Er hatte ihr versprochen, sie an diesem Morgen bei Ephilia aufzusuchen.

Sie hatte kaum geschlafen.

Zum einen hatten sie ihre Albträume aus dem Schlaf gerissen, zum anderen schmerzte ihr Herz bei dem Gedanken, von ihrem geliebten Marcus Abschied nehmen zu müssen. Sie wollte ihn noch ein letztes Mal bitten, mit ihr davonzulaufen und so dem Unausweichlichen zu entgehen.

Aufgeregt lief sie zu Ephilia. „Hast du ihn schon gesehen?“ Ihre Worte überschlugen sich beinahe.

Ephilia schüttelte den Kopf. „Nein, mein Liebes. Aber ich bin mir sicher, er wird rechtzeitig hier sein.“

Es brach ihr das Herz, ihre Nichte so zu sehen. Der nahende Abschied hatte auch Ephilia zugesetzt. Sie aß kaum noch, wirkte stets nervös. Seit Wochen schon graute ihr vor diesem Tag.

In den frühen Morgenstunden hatte die gute Ephilia in ihren Gärten gesessen und über all dies nachgedacht. Wie still würde es wohl ohne Aurelia hier werden.

Wie ruhig.

Ephilia kämpfte mit den Tränen. Wie einsam wäre sie, würde Aurelia wieder in den ludus zurückkehren? Seit dem Tod ihres Mannes Augustus hatte sie keinerlei Lebensfreude mehr empfunden. Mit Aurelias Eintreffen vor nun fast acht Jahren hatte sich alles geändert.

Ephilia hatte wieder eine Aufgabe, einen Grund, morgens aufzustehen. Wie dankbar war sie für ihre Anwesenheit.

Doch nun war der Tag des Abschieds gekommen.

Liebevoll nahm sie Aurelias Gesicht in ihre Hände. „Ich liebe dich so sehr.“ Sie küsste die junge Frau auf die Stirn.

Aurelia lächelte. Sie war ihrer Tante nicht mehr böse. Ephilia hatte sie aufgenommen, als sie sonst niemand wollte. Ihr verdankte sie acht wunderschöne Jahre. Daher umarmte sie ihre Tante.

„Wirst du mich besuchen kommen im ludus?“

Ephilia nickte mit Tränen in den Augen. „Natürlich, mein Liebes. Wann immer es mir möglich ist.“

Die Stunden schienen nicht verstreichen zu wollen. Aurelia saß lange in den Gärten ihrer Tante. Sie wollte jedes Detail in sich aufnehmen. Die junge Frau erinnerte sich an ihr einstiges Zuhause. Überall nur Stein und Sand. Hier lebte sie inmitten einer Oase.

Aurelia schloss die Augen und sog den Duft der Blumen ein. Für einen Moment vergaß sie all ihre Sorgen, ihren Schmerz und ihre Angst.

Die Sonne stand beinahe schon im Zenit. Marcus war noch immer nicht erschienen.

Aurelia zweifelte langsam an seinen Absichten. Traurig ging sie zu ihrem Zimmer zurück. Marcus‘ Liebe zu ihr war wohl doch nicht so unerschütterlich, wie sie gedacht hatte. Er würde nicht mehr kommen und sie müsste sich mit ihrem neuen Leben abfinden.

Resigniert schüttelte sie den Kopf. Sie hatte bereits vor Wochen erkannt, dass sie keine Zukunft miteinander haben konnten. Auf jeden ihrer Vorschläge, einen Ausweg zu suchen, hatte er mit einem Kopfschütteln geantwortet. Er hatte sich bereits damit abgefunden, sie gehen zu lassen.

Diese Erkenntnis hüllte ihr zartes Herz in einen Mantel aus undurchdringlicher Trauer.

Bevor sie die Türe zu ihrem Zimmer öffnete, blickte sie sich um. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht allein war. Auf dem Gang konnte sie jedoch niemanden sehen.

Dann endlich trat sie ein.

Was sie entdeckte, ließ ihr Herz aussetzen. Sie brach augenblicklich auf die Knie. Vor ihrem Bett lag Marcus. Er hatte Schaum vor dem Mund, seine Augen waren blutunterlaufen, die Adern in seinem Gesicht hervorgetreten. Aurelia hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Sie konnte kaum noch atmen. „Marcus?“, hauchte sie.

Er rührte sich nicht. Leblos lag er da. Seine Extremitäten hatte er verkrampft von sich gestreckt. Tränen liefen über Aurelias Wangen.

Sie zerbrach in diesem Augenblick.

Den Mann, den sie liebte, gab es nicht mehr.

Er war tot.

All ihre neu entfachten Hoffnungen und Träume waren mit einem Mal zunichtegemacht. Mit zitternden Händen berührte sie seine Wange. Erschrocken über die Kälte seiner Haut, schreckte sie zurück.

„Marcus“, weinte sie. Das war einfach nicht möglich. Marcus konnte sie hier nicht allein lassen.

Plötzlich entdeckte sie in seiner Hand eine kleine Phiole. Verwundert nahm sie diese an sich und betrachtete sie ratlos.

Dann schloss sie voller Schmerz Marcus‘ Augen.

Wieso hatte er das nur getan?

Weshalb hatte er sie verlassen?

Die junge Frau konnte es nicht begreifen. Völlig aufgelöst kniete sie auf dem Boden vor dem Leichnam.

Die Männer, welche plötzlich hinter ihr in der Türe standen, bemerkte sie nicht.

All ihre Gedanken galten nun Marcus.

„Aurelia Tullius, Ihr müsst uns jetzt begleiten“, hallten die Worte der römischen Wache wie durch eine Nebelwand, kaum hörbar an ihr Ohr.

Aurelia war nicht im Stande, darauf zu reagieren. Sie konnte sich nicht einmal bewegen. Die junge Frau war wie gelähmt, konnte den tränenverschleierten Blick nicht von Marcus lösen.

So wurde sie von den schweren Schritten des Mannes, der sie schon bald aus ihrem Zuhause reißen würde, völlig überrascht.

„Kommt mit!“ Hinter ihr hatte sich Braccus aufgebaut, der kräftige Gladiator, der vor einiger Zeit bereits mit Ephilias Boten erschienen war.

Aurelia reagierte abermals nicht. Braccus verzog das Gesicht und schnaubte. Bestimmt schloss sich seine große Hand um ihren Oberarm.

Einer der römischen Wachmänner legte seine Hand an das Heft seines Schwertes, doch ein anderer hielt ihn zurück. Er schüttelte den Kopf. „Lucius sagte, mit allen Mitteln“, flüsterte er ihm zu.

„Wir gehen jetzt“, raunte Braccus, ehe er die junge Frau unsanft hochzog.

Aurelia wehrte sich nicht. Ihre Augen stets auf Marcus‘ Leichnam gerichtet, ließ sie sich von dem Gladiator und den Männern ihres Vaters zur Kutsche hinausdrängen.

Den festen Druck von Braccus Hand nahm sie in ihrem Schmerz über den schrecklichen Verlust nicht wahr. Tränen liefen ihr über die Wangen, als der kräftige Mann sie durch Ephilias Anwesen zerrte.

Bei der Kutsche angekommen, erblickte sie ihre Tante. Aurelia wollte sich von ihr verabschieden. „Ephilia!“, rief sie unter Tränen, ehe ihre Stimme versagte.

Doch Braccus ließ dies nicht zu. „Für so etwas haben wir keine Zeit“, knurrte er sie an.

In diesem Augenblick sah ihm Aurelia zum ersten Mal ins Gesicht. In ihrem Blick lagen Schmerz und Trauer, doch auch unglaublich viel Entsetzen und Abscheu. Ihr Herz raste. Bevor sie antworten konnte, schob er sie unsanft in die Kutsche.

Ephilia war herbeigeeilt. Es genügte jedoch ein Blick von Braccus und die gute Frau trat einen Schritt zurück. Kurz darauf stiegen Lucius‘ Männer auf ihre Pferde und machten sich auf den Rückweg.

Tränenüberströmt stand Ephilia vor ihrem Anwesen und konnte nichts tun, als ihre Hand zu einem letzten Gruß zu erheben.

Aurelia dagegen war in der Kutsche weinend zusammengebrochen.

Ihr gesamtes Leben, all ihre Träume, all dies war mit einem Mal zerschlagen. Sie hatte nichts mehr.

Sie wurde aus ihrem Heim gerissen.

Fort von der Frau, die sie wie ihr eigenes Kind großgezogen hatte.

Fort von dem Mann, den sie über alles geliebt hatte.

Ihre Gedanken überschlugen sich.

Kaum schloss sie ihre Augen, sah sie Marcus leblos und bleich vor sich liegen.

Ihr gesamter Körper zitterte und sie kauerte sich tränenüberströmt zusammen.

Die Stunden zogen an ihr vorüber. Nach einiger Zeit machten die Männer eine Pause.

Aurelia wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs waren, sie traute sich nicht, aus der Kutsche zu sehen. Zu groß war die Angst, den Gladiator zu erblicken, der sie von Ephilia fortgerissen hatte.

Seine stechenden Augen hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt.

Als sie ihm in die Augen gesehen hatte, hatte sie in sein Innerstes geblickt.

Sie war sich sicher, dieser Mann war das pure Böse. Sie musste sich vor ihm in Acht nehmen. Wenn ihn ihr Vater mitgeschickt hatte, um sie von Ephilia zu holen, musste er einen hohen Stellenwert für Lucius haben. Keine Sekunde wollte sie diesen Mann aus den Augen lassen.

Traurig strich sie sich über die Arme. Erst jetzt spürte sie, wie grob er sie gepackt hatte. Auf ihrer zarten Haut erkannte sie deutlich den Abdruck seiner Finger.

All das erinnerte sie schmerzlich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6822-6

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