Wohin das Schicksal führt
Von Claudia Fischer
Zur Autorin:
Claudia Fischer, geb. 1965, stammt aus einem kleinen Ort in Bayern. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Lange Zeit war sie Realschullehrerin und unterrichtete Englisch und Musik, wurde jedoch wegen einer Erkrankung frühpensioniert.
Seitdem ist sie Vollzeit-Autorin und Lektorin und organisiert die Buchmesse LibeRatisbona in Regensburg.
Das Schreiben begleitet sie ihr ganzes Leben. Ihre Geschichten spielen vor dem Hintergrund des amerikanischen Wilden Westens, sie ist davon fasziniert, was sich auch in den Abby-Romanen zeigt, die das Leben der Banditen Butch Cassidy und Elzy Lay thematisieren.
Ihr anderes Genre ist Thriller, etwas, das sie schon immer mit Begeisterung las.
Zu diesem Buch:
Die Geschichte spielt in einer Zeit, in der die weißen Siedler die indigenen Völker aus ihren Gebieten vertrieben. Es herrschten Feindschaft und Misstrauen auf beiden Seiten und die Ureinwohner wurden auch verächtlich als „Rothäute“ bezeichnet und „Indianer“ genannt. Ich ließ diese Begriffe, denn sie kennzeichnen die Haltung und Einstellung der Menschen damals und gehören in den historischen Kontext. Ich selbst distanziere mich davon. Entschuldigen möchte ich mich im Voraus bei den Lakota, ich habe in mühsamen Recherchen ein paar Brocken ihrer Sprache herausgefunden. Ich hoffe, ich habe nichts geschrieben, was man als Beleidigung auffassen könnte, ich wendete die Begriffe nach bestem Wissen und Gewissen an.
Triggerwarnung: Dieses Buch enthält Szenen mit Blut und Gewalt und häuslicher sowie sexueller Gewalt.
Wohin das Schicksal führt
Claudia Fischer
Titel: Wohin das Schicksal führt
Autorin: Claudia Fischer
ISBN: 978-3-98595-774-3
© 2023 Lycrow Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
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Bestellung und Vertrieb:
Nova MD GmbH, Vachendorf
Man kennt seine Grenzen erst,
wenn man über sie
hinausgewachsen ist.
Erster Teil:
Der Weg in den Westen
Flucht
Boston, März 1863
Es war eine stürmische Nacht, als Melanie Bennett in aller Eile das herrschaftliche Haus in der Beacon Street verließ und durch die dunklen Straßen Bostons rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. Sie hielt ihre Tasche fest umklammert, denn sie enthielt alles, was sie besaß. Ihre Füße lenkten sie automatisch zum Bahnhof, wo sie sehnlichst hoffte, dass um diese Zeit noch ein Zug abfahren würde, egal wohin, sie musste weg, so schnell und so weit wie möglich.
Und tatsächlich stand eine Lok unter Dampf, das konnte sie von weitem sehen, das war ihre Chance! Sie feuerte sich selbst an und war völlig außer Atem, als sie endlich das Bahnhofsgebäude erreichte. Um diese Zeit wurden keine Fahrkarten mehr verkauft, man bezahlte einfach beim Schaffner, und Melanie schrie verzweifelt auf, als sie merkte, dass gerade die Türen geschlossen wurden.
Natürlich konnte man sie bei dem Lärm nicht hören, doch zufällig drehte sich der Schaffner noch einmal um und sah das Mädchen, wie es eine schwere Tasche mit sich schleppend über den Bahnsteig rannte. Er winkte ihr zu, er würde auf sie warten und erst dann das Signal geben.
Dankbar ließ sie sich von ihm in ein Abteil helfen und sank keuchend auf eine hölzerne Bank, während der Zug langsam anfuhr. Die anderen Reisenden starrten sie zuerst neugierig an, machten es sich dann aber mit Decken und Mänteln auf ihren Sitzen bequem und versuchten, eine angenehme Position zu finden, in der sie schlafen konnten.
„Das war knapp“, meinte der Schaffner freundlich. „Sie sollten nächstes Mal etwas früher kommen.“
„Es ging nicht anders“, brachte Melanie hervor.
„Ja, Miss, und wohin wollen Sie nun?“
Sie zögerte und sprudelte dann heraus: „Wohin fährt dieser Zug?“
Er blickte sie erstaunt an. „Das ist der Zug nach St. Louis. Dort endet die Strecke.“
„Dann will ich nach St. Louis. Komme ich von dort weiter nach Westport?“
Der Schaffner wurde misstrauisch. „Ja, es gibt einen Postkutschendienst. Können Sie denn bezahlen?“
„Wie viel kostet es?“
Melanie hatte gespart, schon seit langer Zeit. Sie hatte immer gewusst, dass sie nicht ewig in dem Haus in der Beacon Street bleiben würde, daher hatte sie jeden Cent beiseitegelegt und eine schöne Summe zusammenbekommen. Doch der Fahrpreis, den der Schaffner nannte, würde beinahe alles auffressen. Sie sah den Schaffner verzweifelt an.
„Ist das wirklich so teuer? Kann ich nicht im Gepäckwagen mitfahren, ich brauche nichts, ich möchte nur nach Westport.“
Der Schaffner lachte. „Das geht leider nicht, Miss, wenn Sie nicht zahlen können, müssen Sie an der nächsten Station aussteigen.“
„Ich kann zahlen, nur dann habe ich nichts mehr.“ Der Schaffner war ein gutmütiger Mann, das Mädchen rührte ihn, sie schien vor irgendetwas davongelaufen zu sein. Sie hatte Dienstbotenkleidung an, ihre Haare steckten in einem Häubchen, durch die Lauferei hatten sie sich gelöst und hellbraune Locken hatten sich ihren Weg ins Freie gebahnt. Ihr Gesicht war erhitzt und gerötet, aber ebenmäßig mit vollen, geschwungenen Lippen und klaren blauen Augen. Sein Blick streifte ihren Rock, er war an ein paar Stellen zerrissen, was so gar nicht zu ihrer ansonsten ordentlichen Erscheinung passte. Sie war noch sehr jung und würde demnächst Probleme genug bekommen, so ganz allein.
Also beugte er sich zu ihr und raunte: „Wenn Sie mich nicht verraten, lasse ich Ihnen ein paar Dollar nach, Sie sollten ja nicht so ganz ohne Geld in die große weite Welt reisen.“
„Das würden Sie tun? Oh, vielen Dank! Das ist mehr als freundlich von Ihnen“, flüsterte sie zurück.
Sie zahlte den verlangten Preis und steckte ihr restliches Geld wieder ein. Es war nicht viel und sie machte sich große Sorgen, wie sie überleben sollte.
Nun, im Moment konnte sie nicht viel tun, sie holte eine Jacke aus ihrer Tasche und wickelte sich darin ein, so wie die anderen Reisenden versuchte sie zu schlafen. Der Schaffner hatte fast alle Lichter gelöscht, nur am Ende des Waggons brannte noch eine Petroleumlampe und warf diffuse Schatten in den schaukelnden Wagen.
Melanie beruhigte sich langsam. So ganz allmählich begann sie zu begreifen, was geschehen war. Sie dachte zurück an den Abend, der so normal begonnen hatte wie alle anderen.
Sie war Dienstmädchen im Haus der alteingesessenen Familie Robinson und hatte dort ein gutes Auskommen gehabt. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern, die beide kurz hintereinander gestorben waren, war sie um die gute Stellung froh gewesen. Die Arbeit war angenehm und sauber, mit den anderen Dienstboten hatte sie sich immer problemlos verstanden und mit der Herrschaft hatte sie wenig zu tun gehabt, denn sie war mehr für das Reinigen und Aufräumen zuständig gewesen und nicht für das Bedienen.
Doch schon vor Wochen hatte der junge Mr. Robinson begonnen, ihr nachzustellen. Sie hatte sich der Küchenmamsell anvertraut und die hatte ihr geraten, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen, er sei hinter jedem Rock her und da könne man nichts machen. Melanie hatte das befolgt, doch es wurde immer schwieriger, ihm auszuweichen. Mehrmals hatte er sie schon bedrängt, zum Glück war immer jemand gekommen oder sie hatte schnell davonlaufen können.
Aber heute Abend hatte er sie abgefangen, als sie sich gerade zurückziehen wollte. Er hatte auf der Treppe auf sie gewartet und von ihr verlangt, sie solle ihm ihr Zimmer zeigen.
Es war der freie Abend der zwei anderen Mädchen gewesen, das hatte er bestimmt gewusst, daher konnte er damit rechnen, ungestört zu bleiben. Melanie hatte fliehen wollen, doch er hielt sie fest und zerrte sie die Treppe hinauf bis zu den Dienstbotenräumen. Er stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und warf sie geradezu auf ihr Bett.
Melanie schauderte, wenn sie an seinen lüsternen Blick dachte. Er riss und zerrte an ihren Röcken, nahm keinerlei Rücksicht und es wäre ihm beinahe gelungen sie zu überwältigen, hätte Melanie nicht den Waschkrug ergreifen können, als er seine eigene Hose ausziehen wollte. Sie knallte ihm den Krug mit aller Macht an den Kopf, so dass das Porzellan in alle Richtungen zersprang. Er sank mit einer blutenden Kopfwunde nieder und war kurz bewusstlos.
Melanie wusste sofort, sie hatte keine andere Möglichkeit mehr. Er würde sie hinauswerfen und anzeigen, Gefängnis war das Mindeste, was ihr blühte, wer würde ihr glauben?
Er würde behaupten, sie hätte ihn in ihr Zimmer gelockt und ihn dann hinterrücks angegriffen.
Sein Wort gegen ihres, sie wusste, wer Recht bekommen würde.
Also hatte sie seine Benommenheit genutzt und als er wieder allmählich zu sich kam, hatte sie ihre Tasche mit ihren wenigen Habseligkeiten fertig gepackt und war aus dem Haus gerannt, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie musste aus Massachusetts verschwinden, am besten ganz untertauchen, wo niemand sie mehr suchen und finden würde. Dieser Zug nach Westen war ein Geschenk des Himmels, fürs Erste war sie uneinholbar. Bis der junge Mr. Robinson sich erholen würde, konnte noch einige Zeit vergehen, dann würde man nachforschen und irgendwann vielleicht auf den Zug kommen, doch bis dahin war sie schon meilenweit weg.
Endlich sank sie in einen unruhigen Schlaf, der mehrmals jäh unterbrochen wurde, wenn der Zug anhielt. Als die Sonne ihr Licht durch die Fenster warf, hatte sich die ganze Gegend verändert. Staunend betrachtete Melanie die Welt um sich, sie war noch nie so weit ins Landesinnere vorgedrungen und nun würde sie vielleicht sogar ganz in den Westen reisen.
St. Louis, sie wusste, dass von dort die Menschen in Kutschen weiter nach Westport gebracht wurden, von wo sie zum größten Abenteuer überhaupt aufbrachen: einem Treck ins goldene Kalifornien, wo immer die Sonne schien, wie man behauptete.
Doch dazwischen lagen hohe Berge, endlose Wüsten, feindliche Indianer, brütende Hitze, Krankheiten und viele andere Gefahren, die den Tod mit sich bringen konnten. Melanie hatte immer gedacht, wie verzweifelt Menschen sein mussten, dass sie dieses Wagnis auf sich nahmen, und nun gehörte sie vielleicht selbst dazu.
Nach drei Tagen erreichten sie St. Louis. Die meisten Passagiere reisten weiter und wurden in Kutschen verteilt, um nach Westport zu gelangen. Die Siedler, die weiter in den Westen wollten, hatten ihr Gepäck längst vorausgeschickt, es würde in Westport auf sie warten, zusammen mit den Planwagen, die sie schon im Voraus bezahlt hatten. Meistens waren es Familien, die der Armut im Osten entflohen und auf das große Glück im goldenen Kalifornien hofften.
Melanie war die Einzige, die allein unterwegs war, und fiel schon dadurch auf. Sie war im Zug mit einigen Passagieren ins Gespräch gekommen, doch niemand schien bereit, sie mitzunehmen. Einen Planwagen konnte sie sich nicht leisten, was sie eigentlich in Westport wollte, war ihr unklar.
Es erschien ihr einfach wie ein Wink des Himmels, dass sie in Boston genau den Zug bekommen hatte, der sie geradewegs in den Westen führen würde, also hatte sie beschlossen, es zu versuchen.
Nach drei weiteren unangenehmen Tagen in einer Kutsche kamen sie endlich in Westport an und waren alle froh. Dabei lag doch das Schlimmste erst vor ihnen, aber daran dachte kaum jemand, das erste Etappenziel war erreicht, nun konnte es wirklich losgehen.
Melanie staunte über das rege Treiben, das in Westport herrschte. Planwagen, so weit das Auge reichte, immer wieder brachen kleine Trecks auf, doch es schienen nicht weniger zu werden. Siedler richteten sich auf ihren Wagen ein, die Zugochsen und Pferde weideten auf riesigen Koppeln und in das Ganze hatten sich Indigene aus vielen verschiedenen Stämmen gemischt, die regen Handel trieben. In den zwei Saloons ging es hoch her und sogar Schießereien fanden statt, Tag und Nacht war man von Lärm umgeben.
Melanie wanderte verloren zwischen all den Menschen herum, als sie plötzlich von einem kleinen, etwa achtjährigen Mädchen beinahe umgerannt wurde.
„Hoppla!“, rief sie, hielt sich an einem Wagen gerade noch fest und das Mädchen grinste sie schelmisch an.
„Je suis desolé“, entschuldigte sich die Kleine und warf die langen schwarzen Haare nach hinten. Sie hatte dunkle Augen und ein schmales, etwas spitzes Gesicht.
Melanie hatte ein wenig Französisch gelernt und antwortete: „De rien!“
„Jacqueline“, ertönte eine Frauenstimme und hinter dem Mädchen tauchte eine junge Frau auf, die ebenfalls langes schwarzes Haar hatte und etwas jünger war als Melanie.
„Entschuldigen Sie“, bat die Frau mit reizendem französischem Akzent. „Meine Schwester ist wie ein Sack Flöhe. Ich soll auf sie aufpassen, aber immer sie rennt weg.“
Sie fasste das kleine Mädchen hart am Arm und schimpfte es in Französisch aus.
„Es ist doch nichts passiert“, lächelte Melanie.
Die junge Frau reichte ihr die Hand. „Mein Name ist Suzanne. Reist du auch in den Westen?“
„Ich habe es vor! Ich heiße Melanie.“
„Wo ist dein Wagen? Bist du mit deiner Familie hier?“
Melanie zögerte. „Ich bin allein.“
„Mon Dieu! Allein?“ Suzanne hielt erschrocken die Hand vor den Mund.
Der kleinen Jacqueline wurde langweilig. Sie riss sich von ihrer Schwester los und lief wieder davon. Suzanne hob resignierend die Schultern. „Sie wird schon zurückkommen. Sie bestimmt geht zu den Indianern, da will ich nicht hin.“
Sie betrachtete Melanie neugierig. „Wie willst du denn allein in den Westen gelangen?“
„Ich weiß es nicht, ich suche jemanden, der mich mitnimmt.“
„Wie soll das gehen? Leider wir sind schon so viele, unsere Familie ist groß, wir haben keinen Platz mehr.“
Melanie hob die Schultern. „Das ist doch in Ordnung, ich schaffe es schon irgendwie. Gottes Fügung hat mich hierhergeführt, er wird also dafür sorgen, dass ich den Rest auch noch bewältige.“
Suzanne lachte.
„Du gefällst mir. Wir könnten Freundinnen werden.“
„Gerne!“
Und die beiden Mädchen wanderten Arm in Arm durch die Lagerstelle und genossen den Trubel und die Geschäftigkeit.
Plötzlich tauchte die kleine Jacqueline wieder auf. Um ihren Hals hatte sie eine blaue Kette, die aus Federn und Steinen bestand.
„Woher hast du das?“, fragte Suzanne misstrauisch.
„Ich habe es eingetauscht.“
„Eingetauscht? Womit?“
Jacqueline wurde rot und wollte nicht heraus mit der Sprache. Sie zog es vor, wieder zu verschwinden.
Suzanne seufzte. „Sie ist die Jüngste. Sie tut, was sie will. Sie hat bestimmt genommen von unseren Vorräten, ich sah sie heute Morgen, wie sie bei den Dosen hantierte.“
„Sie ist ein nettes Mädchen, ich wollte, ich hätte auch so eine Schwester.“
„Glaube mir, das wünscht du dir nicht.“
„Wann werdet ihr abreisen?“
„In drei Tagen. Dann soll das Wetter besser werden. Wir sind zehn Wagen.“
„Und wo wollt ihr hin?“
„Nach Kalifornien. Dort scheint immer die Sonne. Es ist ein goldenes Land, so wie Frankreich. Wohin bist du unterwegs?“
Melanie zögerte.
„Ich denke, auch nach Kalifornien, ich weiß es noch nicht, ich werde dahin gehen, wo es mich hintreibt,“ erklärte sie schließlich.
„Aber das geht doch nicht, du brauchst einen Plan.“
„Wäre ich ein Mann, wäre es leichter.“
„Ja“, stimmte Suzanne ernsthaft zu.
Doch beiden Mädchen fiel nichts ein, nichts, was Melanie helfen konnte.
Der Abend nahte und es wurde allmählich stiller auf dem Gelände, Babys schrien, einige Tiere brüllten, nur aus den Saloons drang weiterhin Musik, Geschrei und Gelächter. Suzanne war zu ihrer Familie zurückgekehrt und Melanie suchte nach einer Unterkunft, ein Hotel konnte sie sich nicht leisten, der Himmel war bewölkt, vielleicht würde es regnen, sie hatte keine Lust im Freien zu übernachten.
Langsam und unschlüssig schlenderte sie durch die schmutzigen, schlammigen Straßen.
Sie überlegte, ob sie vielleicht Arbeit finden, Geld sparen und dann im nächsten Jahr in den Westen gehen konnte. Vorsichtig spähte sie in einen der Saloons, sah die Damen, die dort beschäftigt waren, beobachtete, wie sie mit den Männern umgingen, nein, das war nichts für Melanie, von Männern hatte sie erst einmal die Nase voll. Sie würde sich gleich am nächsten Tag in der Stadt näher umsehen und sich um eine Stelle als Dienstmagd oder vielleicht in einem der Läden bemühen, ja, das war das Einzige, das ihr blieb.
Mit neuem Mut wandte sie sich um und ging weiter, da ertönte ein lauter Schuss und das Fenster neben ihr zerklirrte. Wäre sie stehengeblieben, wäre sie jetzt tot. Erschrocken duckte sie sich. Noch mehr Schüsse waren zu hören, die Musik hatte aufgehört, aber das Geschrei hatte sich gesteigert. Einige Männer rannten auf die Straße und suchten Deckung.
Und dann war es wieder stiller, die Musik erklang und die Männer kehrten in den Saloon zurück.
Wenig später wurde ein Mann herausgetragen, er war wohl tot. Man hatte sein Gesicht zugedeckt und brachte ihn zum Haus gegenüber, das offensichtlich dem Totengräber der Stadt gehörte, zumindest waren Särge in einem Schaufenster ausgestellt. Die Tür wurde geöffnet, die Leiche hineingebracht und die Männer betraten wenig später wieder den Saloon, ohne Melanie zu beachten.
Sie sank auf die Stufen und war tief entsetzt. Jemand war erschossen worden, doch die Feier ging einfach weiter, niemanden kümmerte es, ob dieser Mann lebte oder tot war. Nein, in so eine Gesellschaft passte sie bestimmt nicht. Sie würde die Saloons auch in Zukunft meiden.
Nach einer Weile erhob sie sich und als sie sich noch einmal suchend umblickte, hellte sich ihr Gesicht auf.
Der Pferdestall! Dort war es warm und es gab Stroh, auf dem sie es sich gemütlich machen und vor dem Regen schützen konnte. Sie spürte schon die ersten Tropfen und rannte los. Vorsichtig öffnete sie die Stalltür. Die untergestellten Pferde begrüßten sie neugierig, ein paar wieherten. Melanie strich einem braunen Hengst über die Nüstern und bedauerte, dass sie keinen Leckerbissen für ihn hatte. Er war ein wirklich schönes Tier, kräftig und gesund.
„Armer Junge, du möchtest etwas Gutes, ich habe leider nichts, ich bin sogar selbst unglaublich hungrig“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Plötzlich jedoch ging hinter ihr die Tür auf.
„Hände hoch, du Pferdedieb!“, erklang eine krächzende Männerstimme.
Melanie hob erschrocken die Arme und drehte sich um. Ein älterer Mann bedrohte sie mit einem Gewehr.
„Ich wollte kein Pferd stehlen“, brachte sie hervor.
„Du bist ja ein Mädchen?“, rief der Mann erstaunt und ließ das Gewehr sinken. „Was willst du hier?“
„Ich habe Schutz vor dem Regen gesucht, ich wusste nicht, wo ich bleiben könnte, hier ist es warm und trocken, ich störe doch niemanden.“
„Bist du allein?“
„Ja!“
„Wieso?“
Melanie zögerte. Was ging den fremden Mann ihre Geschichte an. Er war etwa 50 Jahre alt, hatte graue Haare und einen Bart, trug feste Hosen aus Baumwolle, ein kariertes Hemd und eine große lederne Jacke.
„Nun rede schon“, forderte er. „Bist du irgendwo weggelaufen? Sucht man nach dir?“
„Nein, hier nicht.“
„Aber woanders. Was hast du angestellt?“
„Ich habe gar nichts angestellt.“ Melanies Stimme war voller Empörung. „Ich habe mich nur meiner Haut gewehrt. Der feine Herr wollte … er wollte … ich habe ihn niedergeschlagen und bin weg. Das Geld reichte genau bis hierher, aber leider nicht weiter. Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll, ich wollte in den Westen, aber man muss bezahlen, das kann ich nicht. Bitte, lassen Sie mich heute Nacht hier, ich werde bestimmt nichts stehlen. Ich möchte nur schlafen.“
Der Mann betrachtete das Mädchen nachdenklich. „Du hast gerade mit dem Hengst gesprochen, nicht wahr?“
„Ja! Er ist ein schönes Tier und er weiß es auch. Ich hatte leider nichts für ihn.“
„Er lässt niemanden an sich ran, er ist ein Unhold, es ist ein Wunder, dass du noch lebst.“
Melanie war sehr erstaunt und drehte sich zu dem Tier um. „Was sollst du sein? Ein Unhold? Nie im Leben“, raunte sie ihm zu und streichelte erneut über seine Nüstern.
„He! Gib ihm das!“ Der Mann warf ihr einen kleinen, verschrumpelten Apfel zu und sie fing ihn geschickt auf. Melanie hätte ihn am liebsten selbst gegessen, das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Trotzdem gab sie dem Hengst den Leckerbissen und er nahm ihn gerne und malmte ihn genussvoll mit seinen Zähnen. Die anderen Pferde wurden unruhig, sie wollten auch etwas, aber für sie gab es nichts.
Plötzlich schlug der Hengst mit dem Kopf, hob ihn drohend und scharrte mit den Hufen.
„Was ist denn?“, fragte Melanie erstaunt und versuchte, ihn zu beruhigen.
„Wie gesagt, er ist ein Unhold, er lässt niemanden an sich ran. Nur einen und jetzt anscheinend auch dich.“
Sie hatte nicht bemerkt, dass der Mann nähergetreten war. Deswegen hatte das Pferd unwillig reagiert.
„Sie sehen doch, dass er das nicht mag, warum bleiben Sie nicht weg von ihm?“, fragte Melanie zornig und wandte sich an das Pferd. „Ganz ruhig, Brauner, keiner tut dir was, ich bin doch da.“
„Das Pferd gehört seit heute Abend mir, ich habe ihn gewonnen“, lachte der Mann krächzend. „Nur mir scheint, ich werde nichts damit anfangen können.“
„Dann geben Sie ihn doch seinem Besitzer zurück“, schlug Melanie vor.
„Würde ich ja, nur hat man ihn gerade im Saloon kaltgemacht, Falschspieler sieht man dort nicht gerne und Hank hat es wieder mal versucht. Er liegt jetzt beim Totengräber und ich habe ein Pferd, das mir nicht gehorchen wird, und einen Mann zu wenig. Nun kann ich schauen, wie ich bis übermorgen Ersatz für ihn kriege. Zu dritt wird es schwer, den Treck zu begleiten. Aber in dieser kurzen Zeit noch jemanden zu finden, der diese Arbeit machen kann, ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Er wandte sich zum Gehen. „Von mir aus, bleib heute Nacht.“
Melanie nahm ihren Mut zusammen. „Warten Sie, haben Sie vielleicht noch einen Apfel? Diesmal für mich? Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen.“
„Dann ist ein Apfel nicht das Richtige. Hier nimm das.“ Er fasste in seine Tasche und holte ein Stück Brot und Käse hervor. Sie ergriff es dankbar und schlang alles hungrig hinunter.
„Vielleicht bringe ich dieses Pferd dazu, dass es Sie mag“, meinte Melanie kauend. „Es scheint mir zu vertrauen. Wie heißt es eigentlich?“
„Ich habe keine Ahnung, aber das wirst du nicht schaffen. Kannst du überhaupt reiten?“
„Natürlich!“
„Schießen auch?“
„Mit einem Gewehr?“
„Ja, oder einer Pistole, egal.“
„Leider kann ich beides nicht besonders gut, ich habe es schon ausprobiert, als mein Vater noch lebte, zeigte er mir, wie das geht, aber das ist lange her.“
„Und du willst in den Westen? Wohin?“
„Ich weiß es nicht, nach Kalifornien vielleicht. Ich dachte, ich bleibe einfach, wo es mir gefällt.“
Der Mann betrachtete sie abschätzend. Sie war jung und sah gesund und kräftig aus. Sie schien wenig Angst zu haben und wirkte, als könne sie zupacken. Sein Entschluss war schnell gefasst.
„Pass auf, Missy, morgen wirst du versuchen, diesen Teufel hier zu reiten, wenn du das schaffst, werde ich mir überlegen, dich als Ersatz für Hank zu nehmen. Du könntest mit uns reiten und würdest sogar bezahlt werden.“
Melanie starrte ihn sprachlos an.
„Traust du dir das zu?“
„Ich bin ein Mädchen, würden mich die Leute respektieren?“
„Kommt auf dich an, Missy, oder du verkleidest dich als Mann, ich werde nichts verraten.“
Melanie überlegte nur kurz. „Das könnte ich tun, ja, natürlich traue ich mir das zu.“
„Dann schlafe jetzt, ich komme morgen bei Sonnenaufgang und hole dich ab. Ich heiße übrigens Sam.“
„Ich bin Melanie.“
Er tippte zum Abschied an seinen Hut, verließ sie und Melanie machte sich ein bequemes Lager im Stroh. Ihre Gedanken jagten sich. Sie würde einen Treck begleiten, sie musste nicht mehr eine Dienstmagd sein, wieder hatte das Schicksal ihr einen Weg gewiesen. Denn dass sie den Hengst reiten konnte, stand für sie von vorneherein fest.
Sie hatte keine Angst.
Reisevorbereitungen
Am Morgen erwachte sie, als es noch dunkel war, und wusch sich an der Pumpe mit frischem Wasser. Dann ging sie zu dem Hengst, begrüßte und liebkoste ihn und warf ihm das Halfter über, das sich an einem Haken neben seiner Box befand. Als sie ihn hinausführte verstand sie auch, warum er einzeln untergebracht war, die anderen Pferde machten ihn nervös. Doch Melanie redete mit ruhiger Stimme auf ihn ein und führte ihn durch den Stall.
Wo wohl der Sattel war?
In diesem Moment öffnete sich das Tor und Sam trat ein. Das Pferd legte die Ohren zurück, aber Melanie hielt es fest, sprach leise mit ihm und so beruhigte sich das Tier wieder und entspannte sich. Zutraulich senkte es den Kopf über Melanies Schulter.
„Unglaublich“, staunte Sam. „Wie machst du das? Bereit für einen Ausritt? Ich bin früh gekommen, ich möchte nicht, dass uns jemand zusieht.“
Er reichte ihr einen Sattel, sie legte ihn auf und machte ihn fest.
Es waren vertraute Tätigkeiten und sie musste an ihren Vater denken, der so gerne geritten war.
Sam sattelte sich ebenfalls sein Pferd und folgte Melanie nach draußen. Dort saßen sie auf, es gab keine Probleme. Melanie beugte sich über den Hals des Tieres und flüsterte ihm zu: „Wenn du mich sicher trägst, werden wir beide das Abenteuer unseres Lebens haben. Vertrau mir und lass mich jetzt nicht im Stich, bitte!“
Der Hengst warf den Kopf zurück, tänzelte, und als Melanie ihn leicht antrieb und die Zügel lockerte, trabte er los. Sie lenkte ihn aus der Stadt hinaus auf die Ebene und dort ließ sie ihn einfach laufen. Er galoppierte, als ginge es um sein Leben.
Melanie jauchzte vor Begeisterung. Ihre langen Haare flogen im Wind, sie saß nach vorne gebeugt auf dem Sattel, als hätte sie nie etwas anderes getan. Schließlich kehrte sie um und sah Sam auf sich zukommen, sein Pferd hatte das Tempo nicht mithalten können.
„Und?“, fragte Melanie strahlend, sobald sie ihn erreichte.
„Reiten kannst du, Missy. Hier nimm das Gewehr, zeige mir, dass du damit umgehen kannst.“
Melanie ergriff es und betrachtete es. Dann öffnete sie das Magazin, prüfte, ob das Gewehr geladen war, und entsicherte es. Endlich gab sie einen Schuss ab. Der Hengst war felsenfest stehengeblieben, er schien Schüsse gewohnt zu sein.
„Fein“, meinte Sam. „Aber du solltest auch etwas treffen! Schieße dort auf den Stein.“
Melanie folgte der Aufforderung, die Kugel schlug einen Meter daneben ein.
„Ich sagte es ja, ich kann es nicht besonders gut“, bedauerte sie.
„Zumindest weißt du, wo vorne und hinten ist. Also gut, besorge dir ein Gewehr und eine Pistole und Munition natürlich. Übe ein wenig, bis es losgeht.“
„Dann habe ich den Job?“, freute sich Melanie.
„Ja, ich habe aber auch kaum eine andere Möglichkeit, ich werde niemand anderen mehr finden.“
„Ich werde mir Männerkleidung besorgen. Ich glaube, dass das sicherer ist.“
„Das bestimmt“, kicherte Sam. „Wie heißt du nun als Mann?“
„Ich weiß nicht …“ antwortete sie zögernd.
„Am einfachsten wird es sein, dich Mel zu nennen. Ich kannte mal einen Mel, war ein netter Kerl. Also gut, dann sehen wir uns heute Abend im Saloon, ich stelle dich den anderen vor.“
„Im Saloon?“
„Wo sonst? Und noch eins, Mel, das Pferd ist nur geliehen, wenn wir heil angekommen sind, bekomme ich es zurück.“
„Natürlich. Nur, Sam, ich habe wirklich kein Geld mehr, ich kann weder ein Gewehr noch Kleidung kaufen, ich dachte, ich würde vielleicht …“
„… einen Vorschuss bekommen. Hier sind zehn Dollar. Mehr nicht, ich zieh dir das vom Lohn ab. Einen Teil des Geldes gibt es sofort, der Rest wird bei Ankunft bezahlt, unterwegs brauchst du nichts, die Siedler versorgen uns mit.“
„Das klingt gut“, seufzte Melanie erleichtert und nahm dankbar die zehn Dollar.
Sie ritten zurück in die langsam erwachende Stadt und brachten die Pferde wieder im Stall unter. Dann überlegte Melanie, wie sie vorgehen konnte, sie brauchte Hilfe, natürlich, ihre neue Freundin vom Vortag, sie musste Suzanne suchen. Mit ein wenig Glück war das sogar der Treck, den sie begleiten würde.
Sie machte sich also auf den Weg zu den lagernden Siedlern, die auf kleinen Feuern gerade ihr Frühstück bereiteten. Nirgends fand sie Suzanne, doch dann lief ihr wieder Jacqueline in die Arme.
Melanie hielt sie auf. „Ich möchte mit deiner Schwester sprechen, wo finde ich sie?“, fragte sie und das Mädchen führte sie zu ihrem Planwagen, wo die große Familie versammelt war.
Suzanne freute sich, Melanie zu sehen. Sie sprang auf, rief ihrer Familie etwas zu, nahm Melanie am Arm und die beiden Mädchen eilten davon, bevor jemand etwas einwenden konnte.
„Hör zu, Suzanne, ich brauche deine Hilfe, ich muss zu einem Mann werden.“
„Zu einem Mann? Wie soll das gehen?“
Melanie erklärte ihr alles.
Suzanne überlegte. „Es kann nicht sein unser Treck, wir haben keinen Hank oder Sam, wir haben auch nur zwei Begleiter. Schade, es wäre schön gewesen, zu reisen mit dir. Aber wir werden uns bestimmt sehen, wenn ihr auch übermorgen losfahrt.“
„Ich würde mich freuen. Nur, wie komme ich jetzt an Männerkleidung?“
„Ich frage meinen Bruder, warte!“
Suzanne kehrte kurz darauf mit einem etwa 13-jährigen Jungen, ihrem jüngeren Bruder Jacques, zurück. Er wurde in einen Laden geschickt, um eine Hose, ein Hemd und Männerunterwäsche zu kaufen. Mehr war nicht drin für die zehn Dollar, zumal Melanie auch noch ein Gewehr und etwas zu essen benötigte. Doch auf der Straße begegnete ihnen Sam, der Melanie zuwinkte.
„Schau, Mel, ich habe Waffen für dich, Hank braucht sie nicht mehr, sie sind in meinen Besitz gegangen, er hatte noch Spielschulden bei mir.“
Er reichte ihr einen Gürtel mit einer Pistole und ein Gewehr. Am Gürtel war sogar Munition, aber Sam meinte, das wäre nicht genug, sie musste sich noch mehr besorgen.
Dafür würde das Geld reichen. Melanie war sehr dankbar, so würde sie die nächsten Tage zumindest nicht verhungern.
„Viens“, rief Suzanne sofort, nachdem Sam außer Sichtweite war. „Komm, wir müssen dich verkleiden. Und du brauchst eine Hüt.“
„Hüt?“
„Für den Kopf.“
„Ach, einen Hut, ja, das ist richtig.“
Sie gingen noch einmal in den Laden und kauften einen Lederhut. Gemeinsam begaben sie sich anschließend in den Pferdestall und Melanie zog sich um.
„Perfekt“, staunte Suzanne. Melanie sah aus wie ein junger Bursche, aber mit einem langen Zopf auf dem Rücken.
„Was machst du mit deine Haar?“, fragte Suzanne.
„Ich könnte sie in den Hut stecken“, überlegte Melanie.
„Du trägst nicht immer eine Hüt. Du musst sie abschneiden.“
Melanie war entsetzt. „Meine Haare? Abschneiden?“
Doch je intensiver sie nachdachte, desto mehr sah sie ein, dass Suzanne recht hatte. Sie würde ihre langen Haare nicht auf Dauer verbergen können.
„Sie werden wieder wachsen nach“, tröstete Suzanne.
Sie suchte eine Weile und kam dann mit einer Schere zurück. Melanie setzte sich und Suzanne zögerte nicht lange herum, ruckzuck war der Zopf abgeschnitten.
„Willst du ihn aufheben?“, fragte sie.
Melanie schüttelte den Kopf. Suzanne schnitt die Haare noch gerade und betrachtete dann verblüfft das Ergebnis.
„Es steht dir wirklich gut“, rief sie. „Wärst du ein Mann, würde ich mich verlieben.“
Sie kicherte und Melanie musste mitlachen.
„Und jetzt musst du noch lernen, wie ein Mann zu gehen“, bestimmte Suzanne.
Melanie lief breitbeinig auf und ab und Suzanne korrigierte sie, versuchte es ihr vorzumachen, sie kreischten nach einer Weile vor Lachen und die Pferde sahen ihnen verwundert zu.
„Ich hoffe, wir sehen uns unterwegs“, wünschte sich Suzanne. „Ich möchte dich als Mann erleben.“
Sie dachte nach. „Ich frage mich, warum braucht euer Treck vier Männer? Wir haben zwei und das ist mehr als gewöhnlich, die meisten Trecks haben niemanden. Aber mein Vater hat gehört von Banden und Überfällen, er sagte, er will sicher reisen.“
Melanie hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, ich wusste nicht einmal, dass Trecks Bewacher haben, aber es erschien mir dann normal, denn die Strecke ist gefährlich, wie man immer hört.“
„Vier, das ist zu viel. Da ist etwas seltsam.“
„Das ist mir egal, Suzanne, ich bin einfach nur froh, dass ich mitreiten kann.“
Sie verließen endlich den Stall und Melanie begann, sich an ihre neue Rolle zu gewöhnen. Sie hatte Suzanne höflich die Tür geöffnet und reichte ihr nun den Arm, um sie zu geleiten. Sie war barfuß, denn ihre eigenen Schuhe konnte sie nicht mehr gebrauchen.
Daher musste sie noch einmal in den Laden, um Stiefel zu kaufen. Das Geld wurde schon wieder beängstigend knapp.
Sie verabschiedeten sich für den Tag, denn Suzanne musste zurück zu ihrer Familie und Melanie kam inzwischen vor Hunger beinahe um, sie wollte endlich etwas essen.
Zögernd betrat sie eine öffentliche Küche und stellte fest, dass es tatsächlich einfacher war, wenn man ein Mann war. Niemand schaute einen neugierig oder missbilligend an, sie konnte tun und lassen, was sie wollte, keiner fragte, warum sie allein war. Also genoss sie in aller Ruhe ein einfaches, günstiges Mahl und sie wurde nicht beachtet. Als Mädchen wäre das anders gewesen.
Später holte sie ihr Pferd und ritt in eine einsame Gegend, wo sie das Schießen übte. Aber sie war nicht sehr erfolgreich, konnte nur hoffen, dass sie niemals von ihren Treffkünsten abhängen würden. So recht konnte sie sich nicht vorstellen, was vor ihr lag. Sie wusste nur, dass sie einen Treck begleiten sollte, doch was das bedeutete, davon hatte sie keine Ahnung.
Und das war vielleicht auch ganz gut so.
Am Abend wagte sie sich in den Saloon, den Sam ihr genannt hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt, war unsicher, ob die Verkleidung wirken würde. Suchend blickte sie sich um und entdeckte schließlich Sam in einer Ecke an einem Tisch zusammen mit zwei anderen Männern.
Melanie nahm sich kurz Zeit, sie zu betrachten. Sie waren beide wohl Mitte 20, also noch ziemlich jung, einer von ihnen war blond, hatte längere, gepflegte Haare und einen Schnauzbart, er wirkte eitel und von sich eingenommen. Seine blauen Augen schauten wachsam und klug, er ließ sich bestimmt nicht gerne etwas vormachen.
Der andere war ein wenig kleiner und hatte hellbraune kurze Haare, ebenfalls einen Schnauzbart und er blickte mit dunklen, lebhaften Augen vergnügt in die Welt. Es schien, als würde er alle Schwierigkeiten des Lebens im Sturmschritt und mit einem Lächeln bewältigen.
Melanie fand beide Männer sympathisch, sie hoffte, dass auch sie einen guten Eindruck machen konnte.
Sie näherte sich dem Tisch.
„Hallo, Sam“, begrüßte sie ihn mit der tiefsten Stimme, die sie aufbringen konnte.
Sam hob den Kopf und starrte sie verständnislos an.
„Ja, was willst du?“
„Sam, weißt du mich denn nicht mehr, wer ich bin? Mel Bennett, du hast mich engagiert.“
Sam blieb vor Erstaunen der Mund offen. Dann fasste er sich und grinste. „Hallo, Mel, jetzt hätte ich dich fast nicht wiedererkannt. Jungs, das ist Mel, er wird Hanks Platz einnehmen.“
Das Lächeln der zwei Männer erstarb. Verblüfft musterten sie diesen Knaben, der einen vollwertigen Mann ersetzen sollte.
„Das ist nicht dein Ernst, Sam“, rief der Blonde. „Das ist ja noch ein Kind!“
„Versuche doch mal, zwei Tage vor Abreise jemanden zu finden. Entweder Mel kommt mit, oder wir müssen es zu dritt machen. Und eins sage ich euch, Mel kann reiten, er hat Hanks Pferd genommen, es gehorcht ihm aufs Wort.“
„Hanks Pferd? Den Teufel? Machst du Witze, Sam?“, fragte der andere Mann. „Trotzdem, wir können nicht noch auf ein Kind aufpassen, dann lieber zu dritt.“
„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, entgegnete Melanie empört und setzte sich einfach auf einen freien Stuhl.
Sam sah die anderen beiden ernst an. „Ihr wisst, diese Leute bezahlen uns gut, sie haben Angst und wollen beschützt werden. Sie haben vier Männer engagiert und wir werden zu viert sein. Mel ist noch jung, ja, aber er wird schnell lernen, was zu tun ist.“
„Andernfalls überlebt er sowieso nicht“, nickte der Blonde und streckte seine Hand aus. „Ich bin Jayden Harris, nenne mich Jay.“
Mel ergriff die Hand. „Ich bin Mel Bennett. Freut mich, dich kennenzulernen, Jay.“
Auch der andere Mann begrüßte sie nun mit Handschlag. „Ich bin Stephen Douglas, Steve genügt. Dann, auf gute Zusammenarbeit, Mel.“
Er stand auf, um an der Theke Bier zu holen. Gleich darauf kehrte er mit vier vollen Gläsern zurück. Melanie wollte erschrocken ablehnen, aber sie besann sich, wenn, dann musste sie mitspielen.
Sie stießen an und nahmen alle einen tiefen Schluck. Melanie schüttelte sich unmerklich, das Bier war sehr bitter, so etwas war sie nicht gewohnt. Außerdem stieg es ihr sofort in den Kopf, die rauchige Umgebung tat ein Übriges, so dass sie das Gefühl hatte, benebelt zu sein. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und hörte den Männern zu, die alles besprachen.
Sie begriff, dass sie die nächsten Wochen im Freien übernachten würde, du lieber Himmel, sie brauchte eine Decke. Ihre Tasche würde sie zurücklassen müssen, sie würde das, was sie benötigte, in die Decke wickeln, die sie leicht am Sattel befestigen konnte. Schweren Herzens beschloss sie, alles, was sie besaß, zu verkaufen. So kam sie noch einmal zu Geld.
„Wo wohnst du hier eigentlich, Mel?“, fragte Steve. „Ich habe dich noch nie gesehen, in unserem Hotel bist du nicht.“
Sie war verlegen. „Ich habe keine richtige Unterkunft“, wich sie aus.
„Ich habe Mel im Pferdestall gefunden“, kicherte Sam. „Der Junge hat kein Geld, deswegen war er sofort bereit, bei uns mitzumachen.“
„Und wie bist du dann hierhergekommen?“, wollte Jay ruhig wissen.
„All mein Geld ging für die Fahrt hierher drauf“, antwortete Mel wahrheitsgemäß.
„Du bist also ausgerissen?“, vermutete Steve grinsend.
„Und wenn es so wäre?“, gab Mel ungerührt zurück. Sie hatte sich auf solche Fragen vorbereitet, sie musste sehr aufpassen, dass sie nicht zu viel preisgab, und sie hatte sich schon längst eine Geschichte zurechtgelegt, die sie irgendwann auf Verlangen erzählen konnte. Aber jetzt noch nicht.
„Dann wäre es auch egal“, stimmte Jay zu. „Du bist hier, das zählt. Und wir müssen uns auf dich verlassen können. Wenn du wirklich so gut reitest, wie du sagst, würde ich vorschlagen, dass du derjenige sein wirst, der mit mir zusammen die Strecke auskundschaftet, wir reiten voran und achten darauf, dass wir in keine Gefahr kommen. Wir müssen vor allem vor Rothäuten und vor den Banden auf der Hut sein, die sich dort herumtreiben. Hindernisse dürfte es kaum mehr geben, wir sind nicht der erste Treck, wir folgen einfach den Spuren.“
Melanie freute sich, das war eine schöne Aufgabe, voranreiten, einfach reiten, nur zusammen mit dem blonden Jay, das konnte nicht allzu schwierig sein und sie würde mit den Siedlern nicht allzu viel zu tun haben, so dass die Gefahr einer Aufdeckung kaum bestand.
„Einverstanden“, stimmte sie zu und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
„Du tust einfach, was ich dir sage, dann werden wir das schon hinkriegen“, meinte Jay.
„Das mache ich“, versprach Melanie. „Ich werde schnell alles lernen, ihr werdet es nicht bereuen!“
„Vielleicht ist es sogar gut, wenn Hank nun nicht mehr dabei ist“, meinte Steve. „Verdammt, ich mochte den Kerl, aber seit er hier war, hat er nur getrunken und gespielt, wer weiß, ob er noch zuverlässig gewesen wäre, kann sein, dass wir mit so einem jungen Burschen hier tatsächlich besser dran sind.“
Jay nickte dazu und Sam freute sich im Stillen. Vor allem darauf, wenn seine Freunde herausfinden würden, dass Mel ein Mädchen war.
Es war wirklich unglaublich, wie sehr sie sich verändert hatte, sie sah aus wie ein 15- oder 16-jähriger Knabe, der noch kein Mann geworden war, sogar die Haare waren kurz und nach Männerart geschnitten, wie hatte sie das nur fertiggebracht? Er würde sie fragen, das interessierte ihn. Sie saß breitbeinig auf dem Stuhl, so gar nicht wie eine Dame, anscheinend hatte sie geübt, wie ein Mann zu wirken und zu gehen.
Trotzdem sah er nicht viele Chancen, dass sie ihre Verkleidung bis zum Ende der Reise aufrechterhalten konnte. Es gab eben doch gewisse Unterschiede zwischen Frauen und Männern und die würden irgendwann offensichtlich werden.
Sie saßen noch eine Weile zusammen, dann zog Melanie es vor, sich zu verabschieden.
„Du willst wohl wieder in den Stall?“, fragte Steve amüsiert.
„Ich habe kein Geld für ein Hotel.“
„Dann kommst du mit uns, wo es für zwei reicht, reicht es auch für drei“, schlug Steve vor. „Wir haben eine Liege im Zimmer, die kannst du haben.“
Melanie überlegte nicht lange. Sie würde die nächsten Wochen mit den Männern die Nächte verbringen, also konnte sie genauso gut jetzt schon damit anfangen und so bequem war es im Pferdestall ja auch nicht.
„Ja, gut, danke, ich hole dann nur meine Sachen.“
„Tu das, wir treffen uns gleich wieder vor dem Saloon.“
Melanie verschwand, lief in den Stall und öffnete ihre Tasche. Sie entfernte und versteckte schnell alle Kleider und behielt nur die Sachen, die sie als Frau dringend brauchen würde. Nun war die Tasche ziemlich leer, aber das machte nichts, sie würde sie morgen sowieso verkaufen. Sie wusch sich noch an der Pumpe, denn das wollte sie nicht vor den Männern tun.
Gleich darauf trafen sich alle wieder vor dem Saloon und Sam schlug vor, dass Mel mit ihm gehen sollte, er hätte auch ein Zimmer und genügend Platz. Er wollte es ihr ersparen, gleich am ersten Abend aufzufliegen, und Melanie ging dankbar darauf ein. Sie hatte schon gewisse Schwierigkeiten auf sich zukommen sehen. Sam wusste Bescheid, vor ihm brauchte sie sich nicht zu verstecken.
So schlenderten sie zusammen zu dem billigen Hotel und trennten sich dort vor ihren Zimmern. Melanie schlüpfte zu Sam in den Raum und ließ sich aufatmend auf dem Bett nieder.
„Sie haben nichts gemerkt, nicht wahr?“, fragte sie stolz.
„Nein, Mel, du hast das wirklich gut gemacht. Wie hast du die Haare so geschnitten?“
„Ich hatte Hilfe von einer Freundin, sie hat mir auch beigebracht, wie ein Mann zu gehen.“
Sie kicherte. „Ich hatte heute zu tun, dass ich die Beine nicht wie sonst übereinanderschlug beim Sitzen, es war anstrengend, mich ständig daran zu erinnern und mich gleichzeitig auf euch zu konzentrieren, aber ich schätze, ich gewöhne mich daran.“
„Einen Stuhl wirst du die nächste Zeit sowieso nicht sehen und wenn du den ganzen Tag reitest, kriegst du deine Beine gar nicht mehr übereinander“, grinste Sam. „Schauen wir mal, wie lange du das aufrechthalten kannst. Und jetzt bin ich müde. Ich schlafe auf der Liege, du kannst das Bett haben.“
„Das kommt nicht in Frage, die ist viel zu klein für dich.“
Und ohne weitere Diskussion belegte Melanie die Liege und streckte sich darauf aus. „Oh, das ist das Bequemste, was ich seit Wochen hatte“, seufzte sie und war sofort eingeschlafen.
Sam blieb nichts übrig, als das Licht auszublasen und sich selbst zur Ruhe zu begeben.
Am nächsten Morgen gab es ein Frühstück im Speiseraum des Hotels und Melanie wurde von den Männern dazu eingeladen.
„Wir brauchen dich kräftig und nicht halb verhungert“, meinten sie. „Aber heute holen wir uns sowieso das vereinbarte Geld, das wir als Vorschuss bekommen, dann kannst du dich am Abend mit einer Runde im Saloon revanchieren.“
„Das mache ich gerne“, versicherte Melanie und griff tüchtig zu. Wer wusste schon, wann es wieder so gute Sachen gab.
Sie verabredeten sich dann für den Nachmittag, wo sie zu ihrem Treck gehen und Melanie vorstellen würden, und trennten sich vor dem Hotel.
Melanie lief sofort zu Suzannes Planwagen und achtete darauf, dass ihre Eltern sie nicht zu Gesicht bekamen. Es war einfach, denn Suzanne hatte schon gewartet und nickte Melanie zu. Sie nahm Jacqueline an der Hand und gab vor, mit ihr spazieren zu gehen. Wie erwartet riss das kleine Mädchen sich gleich darauf ungeduldig los und verschwand zwischen all den Wagen. Aufatmend gesellte sich Melanie zu Suzanne, die sie mit Fragen bestürmte.
„Wie geht es dir, was ist passiert? Haben sie etwas bemerkt?“
Melanie schüttelte vergnügt den Kopf. „Nein, sie denken, ich sei ein Mann, morgen werden wir aufbrechen und ich habe mit ihnen im Hotel übernachtet.“
Sie berichtete aufs Genauste von ihren Erlebnissen und Suzanne lachte sehr.
„Du bist so mutig und witzig, Melanie, ich bin so gerne deine Freundin. Melanie ist ein französischer Name, du weißt das?“
„Ja, meine Eltern kamen aus Frankreich, so wie ihr auch.“
„Das ist schön. Wir haben eine gemeinsame Heimat.“
„Ich bin in Amerika geboren, wir sind schon seit zwei Generationen hier.“
„Oh, dann bist du auch ein amerikanisches Kind, wie Jacqueline. Sie ist als Einzige hier geboren, wir nennen sie unser amerikanisches Kind.“
Melanie lächelte. „Das ist ein seltsamer Name für ein Kind. Aber er passt! Hör zu, Suzanne, ich brauche noch einmal deine Hilfe, du musst meine Kleider für mich verkaufen. Ich kann sie nicht mitnehmen. Und meine Tasche auch, ich brauche eine Decke und eine warme Jacke stattdessen.“
Suzanne nickte ernsthaft. „Los, gehen wir. Vite!“
Sie liefen zum Stall und holten Melanies Sachen.
Es waren zwei schöne Kleider und Suzanne betrachtete andächtig den Stoff. „Willst du sie wirklich verkaufen? Sie sind wertvoll.“
„Ja, ich weiß, aber was nützt es mir? Und die Schuhe müssen auch weg.“
Suzanne starrte sehnsüchtig auf die Schuhe und Kleider. So etwas Schönes hatte sie noch nie besessen.
„Probiere sie an“, forderte Melanie sie auf.
„Wie bitte?“
„Wenn sie passen, schenke ich sie dir.“
„Aber was wird meine Familie sagen? Und ich kann das nicht annehmen, du brauchst das Geld.“
„Ich werde sowieso nicht viel dafür bekommen und man wird mir heute meinen Vorschuss geben, dann bin ich reich.“
Suzanne zögerte.
„Versteck die Kleider einfach zuerst und wenn man dich irgendwann fragt, wo du sie herhast, kannst du ja die Wahrheit sagen. Was macht es dann noch, ich werde auch nicht immer ein Mann bleiben.“
Die Versuchung war zu groß.
Suzanne zog beide Kleider nacheinander an und stolzierte vor Melanie herum. Sie passten ihr gut, ebenso die Schuhe.
Suzanne umarmte Melanie. „Du bist nett! Das ist so gut von dir. Wenn wir sind angekommen in Kalifornien, dann werde ich reich sein und ich werde dir wunderschöne Kleider kaufen.“
Melanie lachte. „Ja, das kannst du dann tun.“
Suzanne suchte in ihrem Rock und zog ein sauberes, kariertes großes Tuch heraus. „Hier, nimm das, ich habe nicht viel, aber es passt zu einem Mann, es ist von meinem Bruder. Es soll dich an mich erinnern.“
Melanie freute sich darüber und band es sich gleich um den Hals.
„Ich brauche immer für Jacqueline ein Tuch, sie ist immer schmutzig, aber du sollst es jetzt haben.“
„Vielen Dank, Suzanne! Morgen geht es endlich los.“
„Das wird so aufregend, hoffentlich sehen wir uns oft. Und wenn nicht, wir treffen uns in Kalifornien, ja? Ganz bestimmt?“
„Ganz bestimmt!“
Sie umarmten sich und vergossen ein paar kleine Tränen. In den zwei Tagen hatten sie sich liebgewonnen, Melanie hatte noch nie eine wirkliche Freundin gehabt, sie war mit allen gut ausgekommen, hatte sich auch einigen der anderen Dienstmädchen anvertraut oder war mit ihnen an den freien Abenden ausgegangen, aber das war nun schon etwas anderes.
Suzanne kicherte. „Wenn wir uns unterwegs treffen, werden alle denken, wir sind ein Liebespaar.“
„Ja, das ist doch gut. Und alle Männer werden mich beneiden, dass ich so eine wunderschöne Freundin habe.“
„Wir werden es so guthaben in Kalifornien, stell dir vor, es wird immer die Sonne scheinen, es ist ein Land, in dem Milch und Honig fließen.“
„Das wollen wir hoffen! Wir werden es bald erleben. Ich wünsche euch eine gute Reise, passt auf euch auf!“
„Und du auf dich! Sei ein Mann.“
Sie lachten und wanderten Hand in Hand aus dem Stall. Was machte es schon, wenn man sie zusammen sah, ein junger Mann und ein junges Mädchen, ein schönes Paar auf dem Weg in eine wunderbare Zukunft.
Später traf sich Melanie mit den Männern und sie begaben sich zu ihrem Treck.
„Am besten, du sagst nichts“, riet ihr Steve. „Sie müssen nicht gleich merken, dass du noch ein Kind bist. Das erfahren sie früh genug.“
Melanie nickte, sie war nervös. Hoffentlich hatten diese Siedler keine Einwände.
Sie war sehr überrascht, als sie zum Treck kamen. Es waren 15 Wagen und die Leute schienen einigermaßen wohlhabend zu sein. Deswegen konnten sie sich auch vier Bewacher leisten.
Melanie fragte sich, warum diese Menschen so ein Wagnis auf sich nahmen, obwohl es ihnen offensichtlich gutging.
Doch es stellte sich heraus, dass es sich um Mormonen handelte, die aus Glaubensgründen nach Salt Lake City wollten.
Utah! Ausgerechnet!
Melanie war enttäuscht, sie wollte doch nicht nach Utah, sie wollte nach Kalifornien, doch besann sie sich rechtzeitig. Hier bot sich ihr eine einmalige Gelegenheit, sie würde sie bestimmt nicht auslassen.
Nach Kalifornien konnte sie immer noch.
Der Diakon, der zugleich geistiger Führer des Trecks war, musterte Melanie erstaunt und sehr misstrauisch.
Die Männer hatten sie vorgestellt, als Ersatz für Hank, der leider bei einer Schießerei ums Leben gekommen war. Sam verbürgte sich für Mel, er würde trotz seiner Jugend großartige Arbeit leisten und sei jederzeit verlässlich.
Nach anfänglichem Zögern stimmte der Diakon zu und gab Sam das Geld, das als Vorschuss vereinbart worden war.
Sie verabredeten noch ein paar Kleinigkeiten und legten ein letztes Mal die Reihenfolge fest, in der sie losziehen wollten, die langsamsten Wagen, die von Ochsen gezogen wurden, nach vorne, denn sie würden das Tempo bestimmen.
„Wir sehen uns morgen früh bei Sonnenaufgang“, verabschiedete sich Sam schließlich und Melanie ging mit den Männern zurück in die Stadt.
Im Hotel setzten sie sich in Sams Zimmer und teilten das Geld auf. Sam als Anführer bekam am meisten, Melanie am wenigsten, aber es war genug für sie. Sie war einverstanden, denn sie wusste, die Männer würden anfangs mit ihr zusätzliche Arbeit haben, bis sie wirklich ein vollwertiger Teil der Truppe sein konnte.
Sie verabschiedete sich und ging ein letztes Mal einkaufen. Eine warme Decke und eine Männerjacke, noch ein wenig Munition, ein scharfes Messer, ein weiteres Hemd und eine Hose sowie Wäsche. Die Tasche verkaufte sie und besorgte sich stattdessen Riemen, um all ihre Besitztümer in die Decke wickeln zu können und diese am Sattel zu befestigen. Sie hatte günstig eingekauft und noch einiges an Geld übrig, das sie auf der Reise ausgeben konnte, wenn sie in Siedlungen oder Forts Halt machen würden.
Sie brachte alles in ihr Zimmer im Hotel und fand Sam dort schlafend vor. Er wachte auf, als sie eintrat, besah sich ihre Einkäufe und lobte sie.
„Damit solltest du auskommen, Mel. Mir scheint, du hast schon begriffen, was wichtig ist. Es wird kein Spaziergang, aber vielleicht haben wir Glück und bleiben von Überfällen verschont. Gegen Indianer zu kämpfen ist keine einfache Sache. Der letzte Treck, den ich führte, wurde angegriffen, wir haben die Rothäute mit Müh und Not vertrieben, aber zwei Frauen haben sie geschnappt und einige Männer sind getötet worden. War eine schlimme Sache. Diesmal haben wir Jay dabei, er ist gut, halte dich an ihn und tu, was er dir sagt. Auf, gehen wir irgendwo etwas essen und danach in den Saloon, ich habe Durst und es wird lange dauern, bis wir wieder ein anständiges Bier kriegen.“
Melanie war einverstanden und später im Saloon trafen sie Jay und Steve. Melanie gab wie versprochen eine Runde aus und wurde gleich darauf zu einem zweiten Bier genötigt. Zum Glück griff aber Sam ein, der die Gefahr aufkommen sah, dass Melanie verkatert in den Treck starten würde.
Er bestimmte, dass alle zu Bett gehen sollten, um sich noch einmal richtig auszuruhen. Sie sahen jedoch vorher nach den Pferden im Stall. Hier erlebten Jay und Steve zum ersten Mal, wie gut Melanie mit Hanks ehemaligem Pferd umgehen konnte.
„Wie machst du das?“, fragte Steve erstaunt. „Dieser Teufel lässt sonst niemanden an sich ran. Viele haben es probiert.“
Melanie hob die Schultern. „Ich bin zu ihm gegangen und habe ihn gestreichelt. Er ist so ein schönes und stolzes Tier, er ist mir gleich aufgefallen.“
„Hast du ihm denn schon einen Namen gegeben?“, wollte Steve wissen.
„Nein, wie nannte ihn denn Hank? Sam wusste es nicht.“
„Teufel“, grinste Steve.
„Er ist kein Teufel. Er ist eine Schönheit. Er soll Pride heißen, er wird der Stolz unserer Truppe sein.“
„Wenn du das sagst.“
Melanie strich dem Hengst zärtlich über die Nüstern und gab ihn eine Karotte, die sie im Hotel in der Küche gestohlen hatte. Die anderen Pferde schauten neidisch zu, wie Pride es sich schmecken ließ.
„Na, wenn du ihn so verwöhnst, ist es kein Wunder.“, stellte Jay fest. Aber er war zufrieden, Sam hatte wohl nicht zu viel versprochen. Wenn dieser Knabe nun noch reiten konnte, war das schon einmal gut, der Rest hing vom Durchhaltevermögen ab.
Mel schien aus einem guten Haus zu kommen, harte körperliche Arbeit hatte er wohl nicht erledigt, auch wirkte er sehr mädchenhaft. Nun, es würde sich in ein paar Tagen herausstellen. Dann konnte man ihn immer noch zurückschicken.
Sie verbrachten eine letzte bequeme Nacht in dem Hotel, bezahlt hatten sie, am Morgen würden sie in aller Früh aufbrechen, von den Siedlern würden sie Kaffee und Speck mit Eiern bekommen, so war es abgemacht.
Unterwegs
Als sie das Hotel verließen, brach gerade die Morgendämmerung an. Sie holten ihre Pferde, sattelten sie und ritten zu ihrem Treck. Dort hielt man tatsächlich ein Frühstück für sie bereit und sie stärkten sich, während die Siedler sich in einer Reihe formierten, die der Diakon festgelegt hatte. Melanie sah sich nach Suzannes Treck um, aber sie waren schon abgereist, hoffentlich konnten sie sie einholen.
Endlich war alles eingepackt, Müll wurde auf einen Haufen gelegt und zurückgelassen und ächzend setzten sich die Fuhrwerke in Bewegung. Jay und Melanie ritten an der Spitze. Sie preschten vor und hielten Ausschau nach eventuellen Gefahren. So früh auf der Reise war eigentlich nicht damit zu rechnen, aber schaden konnte es auch nicht. Als sie einen Hügel erreichten und anhielten, sahen sie vor sich eine Staubwolke.
Melanie deutete darauf: „Das ist der Treck, der heute Morgen kurz vor uns abreiste. Sie wollen nach Kalifornien.“
„Kennst du jemanden von ihnen?“, wollte Jay erstaunt wissen.
„Ja, meine Freundin Suzanne ist dabei“, verriet Melanie unbedacht und hätte sich am liebsten gleich darauf die Zunge abgebissen. Jay grinste jedoch nur anerkennend.
„Deine Freundin? Du hast schon ein Mädchen?“
„Ich … ich … ich habe sie vor ein paar Tagen kennengelernt“, stotterte Melanie und warf dann den Kopf trotzig zurück. „Sie ist sehr schön. Das schönste Mädchen, das ich kenne!“
„Dann stell sie mir doch einmal vor, falls wir uns unterwegs begegnen, aber pass auf sie auf, wenn sie so hübsch ist, wie du sagst. Nicht, dass ich sie dir ausspanne.“
„Wir sind wirklich nur Freunde.“
Jay lachte laut auf. „Wir werden sehen, was daraus wird. Aber nun zum Wichtigen. Sieh dich um, fällt dir irgendetwas auf?“
Melanie strengte sich an, blickte aufmerksam umher und schüttelte schließlich den Kopf.
Jay seufzte. „Du siehst also nichts Wichtiges? Das wird noch harte Arbeit mit dir. Jetzt schau mal nach rechts auf den Hügel, was ist dort?“
Melanie starrte in die Ferne. „Dort ist Rauch, das habe ich schon gesehen, brennt es etwa dort?“
Sie hatte den Rauch bemerkt, aber nichts Besonderes dabei gefunden.
„Rauch bedeutet immer zweierlei, ja, es kann brennen, das kann gefährlich werden, je nachdem, wie der Wind steht, Präriefeuer verbreiten sich rasend schnell. Aber das dort ist kein Brand, das ist ein Lagerfeuer, wahrscheinlich lagern Indianer dort. Das ist hier nun nicht so ungewöhnlich und auch nicht schlimm, aber je weiter wir kommen, desto mehr müssen wir darauf achten. Wir zwei werden diese Lager dann vorsichtig ausspähen, wir müssen wissen, ob es feindliche Indianer sind, oder Banden oder harmlose Wanderer. Diese Siedler haben vier Männer engagiert deswegen, zwei Trapper können das nicht leisten, sie können sich nicht trennen, so wie wir das machen werden. Deine Aufgabe wird es sein, zum Treck zurück zu reiten und im Notfall die Leute zu warnen. Eigentlich hätte Steve das erledigt, aber er hatte sowieso schon gemurrt, er bleibt lieber beim Treck oder geht jagen. Hast du verstanden?“
Melanie nickte.
Und dann bekam sie eine erste Lektion, wie man Spuren in der Prärie las, sie mussten sich vor so vielem in Acht nehmen, Bären, Kojoten, Schlangen … Melanie kam es schließlich so vor, als seien sie von wilden Tieren geradezu umzingelt, und sie fühlte sich unbehaglich. Doch als sie weiterritten und Jay völlig unbesorgt schien, fasste sie wieder Zutrauen. Es war ein gutes Gefühl, Gefahren erkennen zu können. Dann konnte man ihnen auch aus dem Weg gehen.
Nach mehreren Stunden tauchte jedoch für Melanie ein ernstes Problem auf. Ja, sie war früher als Kind oft mit ihrem Vater geritten, die letzten Jahre dagegen überhaupt nicht mehr und sie war noch nie so lange auf einem Pferderücken gesessen. Sie fühlte sich wundgescheuert und wand sich auf dem Sattel hin und her. Aber der Tag würde noch lange dauern.
Jay hatte sie beobachtet und auch anerkennend registriert, dass der Junge sich mit keinem Wort beklagte. Unauffällig begann er, mehr Pausen zu machen und Mel zu nötigen, abzusteigen, worauf sie gerne einging. Mit zitternden, schmerzenden Beinen versuchte sie dann ein paar Schritte, ließ sich jedoch meist gleich zu Boden sinken. Sie verstand jetzt, warum Sam gemeint hatte, sie würde die Beine nicht mehr übereinanderschlagen können, das schien ihr für alle Zukunft unmöglich zu sein.
Bei dem langsamen Tempo des Trecks und in der sicheren Gegend der ersten Tage konnten sie sich diese Ausruhzeiten aber leisten und da der vermeintliche Knabe einfach alles tat, was Jay ihm anordnete, beschloss der erfahrene Trapper, ihm die Sache ein wenig leichter zu machen und ihn anfangs noch sehr zu schonen. Er wusste, dass die ersten Tage die schlimmsten waren, bald würde Mel sich an das Reiten gewöhnt haben und es gab wirklich nichts auszusetzen, außer der Jugend und Unerfahrenheit. Hätte er gejammert, wäre Jay härter mit ihm umgegangen.
Mittags ritten sie zum Treck zurück, der angehalten hatte, und sie bekamen eine kleine Mahlzeit. Richtig kochen würde man erst am Abend, da konnte man dann auch Feuer machen. Die Stimmung unter den Siedlern war sehr gut, die Regenfälle der letzten Tage hatten aufgehört, die Sonne kam hervor und tauchte die Landschaft in freundliches, warmes Licht.
„Alles ok?“, fragte Sam.
Jay nickte und bestimmte: „Mel bleibt jetzt beim Treck und fährt in einem Wagen mit für den restlichen Tag. Er ist die langen Ritte nicht gewohnt.“
Steve lachte. „Tut weh, wo es nicht wehtun sollte, nicht wahr?“
„Ich kann weiterreiten. Wenn wir Pausen machen, geht das, ich will keine Sonderbehandlung“, protestierte Mel sofort.
Jay hob die Augenbrauen. „Mel, du machst, was wir dir sagen. Heute brauche ich dich nicht unbedingt da vorne, außerdem kann das Steve übernehmen. Ich möchte, dass du morgen wieder voll einsatzfähig bist, daher solltest du dich ausruhen für heute.“
Sam nickte zustimmend.
Mel starrte Jay wütend an, gab dann aber nach, sie hatte versprochen, zu gehorchen. Murrend band sie ihr Pferd an den letzten Wagen und saß dort mit auf, denn der letzte Wagen bestand aus einer Familie mit zwei Frauen und drei Töchtern, der Vater saß allein auf dem Kutschbock und ließ kein weibliches Wesen neben sich. Das hatte schon Anlass zu Gelächter und Diskussionen gegeben und Mel konnte sich immerhin an dem Gedanken erheitern, dass nun doch eine Frau mit vorne sitzen würde, ohne dass er es wusste.
Die Siedler hatten erstaunt registriert, dass dieser junge Kerl nun plötzlich in einem Wagen mitfuhr, aber sie sagten nichts. Es würde schon seine Gründe haben.
Sie setzten ihren Weg fort, bis die Sonne sich den Hügeln näherte, dann hatte Jay ein schönes Tal mit einer Quelle gefunden, wo sie Rast machten.
Die Wagen bildeten einen Kreis und die Ochsen und Pferde wurden
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6821-9
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