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Eresh und die zwei Planeten

 

 

 

Eresh und die zwei Planeten

 

von

Jasmin Engel

 

Buchbeschreibung:

 

Sumerischer Stadtstaat Uruk, etwa 2500 v. Chr.

Die 16-jährige Eresh ist eine Außenseiterin, denn während ihre Mutter eine Sumererin aus wohlhabender Familie ist, gehört ihr Vater jenen Wesen an, die von den Menschen als Götter verehrt werden.

Bei seinem zweiten Besuch stellt er seine Tochter vor die schwierige Wahl, ein Jahr später mit ihm zu seinem Heimatplaneten Nibiru zu kommen oder für immer auf der Erde zu bleiben.

Als Eresh jedoch unfreiwillig ein Geheimnis mit ihrer Halbschwester Dara teilen muss und auch noch der junge Schuri in ihr Leben tritt, überschlagen sich die Ereignisse und Eresh gerät in große Gefahr.

 

 

Zur Autorin

 

Jasmin Engel wurde 1982 in Aschaffenburg geboren und lebt heute in Darmstadt. Neben Romanen schreibt sie auch Lyrik und Kurzprosa. Ihr Debüt „Die Götter der Dämmerung“ ist 2020 erschienen und ihr Roman „Die Traumreisende - Nachtblüten“ 2022 - beides in Kleinverlagen. „Eresh und die zwei Planeten“ wird sicher nicht ihr letzter historischer Fantasyroman sein, der bei den Sumerern spielt.

 

 

 

 

 

 

Eresh und die zwei Planeten

 

 

 

Von Jasmin Engel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2023 Lycrow Verlag

ISBN eBook: 978-3-910791-11-4

Druck und Distribution im Auftrag des Verlags:

Lycrow Verlag, Schillerstraße 8, 17166 Teterow

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Verlags, zu erreichen unter: tredition GmbH,

Abteilung „Impressumservice“,

An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg,

Deutschland.

 

 

Eresh stellt sich vor

 

Eresh stellt sich vor

 

Ich bin kleiner und unscheinbarer als die anderen Kinder meines Vaters.

Ich bin größer und auffälliger als die übrigen Kinder meiner Mutter.

Meine Haut und meine Haare schimmern dunkler als die der anderen Kinder meines Vaters.

Meine Augen leuchten in einem helleren Ton als die der übrigen Kinder meiner Mutter.

Ich gelte als plumper und weniger anmutig als die anderen Kinder meines Vaters.

Ich gelte als empfindlicher und weniger robust als die übrigen Kinder meiner Mutter.

Mir wird nachgesagt, ich sei nicht so gebildet und weise wie die anderen Kinder meines Vaters.

Mir wird nachgesagt, ich sei nicht so gewitzt und geschickt wie die übrigen Kinder meiner Mutter.

Meine Abstammung und mein Heim beschämen die anderen Kinder meines Vaters.

Meine Herkunft und meine Eigenheiten befremden die übrigen Kinder meiner Mutter.

 

So stehe ich, Eresh, stets zwischen zwei Familien. Ich befinde mich zwischen zwei Welten, zwischen oben und unten, zwischen Ehre und Hohn – und gehöre nirgendwo richtig dazu.

 

Schon von klein auf lebe ich in einem Wohnviertel in der glorreichen Metropole Uruk. Unsere Stadtmauer ist die gewaltigste des gesamten Reiches. Sie wurde einst von dem legendären König und Halbgott Gilgamesch errichtet. Wer kennt es nicht, sein Epos, gesungen oder erzählt?

Unser Fluss durchzieht die ganze Stadt und seine Arme sind nach allen Seiten hin ausgebreitet. Wir nennen ihn auch Id Ugina, den Blauen Fluss.

Im überragenden Uruk also wohne ich zusammen mit meiner Mutter, meinem Stiefvater und natürlich meinen Halbgeschwistern in einem ansehnlichen Haus mit Flachdach und Innenhof. Es steht nicht ganz so dicht an dicht mit den anderen Häusern wie jene, in denen die weniger wohlhabenden Bürgerinnen und Bürger wohnen. Darauf sind meine Eltern stolz.

Meine beiden Halbbrüder und meine drei Halbschwestern sind die Kinder meiner Mutter mit ihrem rechtmäßigen Ehemann. Ich hingegen entstamme einer vorehelichen Liebelei, die Ama mit einem geheimnisvollen Fremden hatte.

Während meine Geschwister unter den Fittichen eines Vaters aufwachsen dürfen, der an ihrer Seite weilt, den man in der Stadt kennt und respektiert, wird über meinen nur gemunkelt.

Manche Leute vermuten sogar, er habe Flügel besessen. Andere gebieten ihnen, besser darüber zu schweigen. Gäbe es mich nicht, hätte dieses Gerede wahrscheinlich längst ein Ende gefunden. Aber so erinnere ich mein Umfeld tagtäglich daran. Allein durch meine bloße Existenz.

Mein leiblicher Vater … Nun, für mich ist er nicht die obskure Gestalt, nahezu Mythen entsprungen, über die das einfache Volk in der Stadt Klatsch verbreitet und über die Höherstehende hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Ich habe ihn schließlich schon zweimal gesehen und mit ihm gesprochen.

Das eine Mal besuchte mich mein leiblicher Vater, als ich noch klein war. Doch ich kann mich auch jetzt, als junge Frau im heiratsfähigen Alter, noch gut daran erinnern. Mitten in der Nacht war ich allein mit meiner Mutter zu dem abgelegenen Treffpunkt gelaufen. Wie eindrucksvoll Vater damals auf mich neugieriges Kind gewirkt hat! Wie wenig ich zu begreifen vermochte, dass das tatsächlich mein Vater, mein Adda, war!

Das zweite Mal liegt erst zwei Monde zurück. Anders als davor musste ich völlig allein zum Treffen erscheinen. Vater wurde jedoch im Gegensatz zu einst von seinen beiden ältesten Töchtern begleitet. Wir sollten uns schon einmal kennenlernen, meine Halbschwestern und ich. Auch sie schüchterten mich ein. Hoch ragten sie auf wie Zedern. Fein und eigenartig muteten ihre Gewänder an. Scheu blickte ich zu ihnen auf.

Vaters zweiter Besuch hatte einen bestimmten Zweck. Er stellte mich vor eine schwerwiegende Entscheidung: Ich sollte bei seinem nächsten Besuch in zwölf Monden mit ihm kommen – oder für immer hierbleiben. Hier, bei meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinen Halbgeschwistern. Und irgendwann womöglich im Haus meines zukünftigen Ehemanns.

 

Ich habe es meinem Vater bis heute nicht verziehen, dass er mich damals vor so eine radikale Wahl gestellt hat.

 

Erstes Buch

 

 

 

 

Teil eins

 

 

 

 

„Was du suchst, wirst du nicht finden. Denn als die Götter den Menschen erschufen, behielten sie die Unsterblichkeit für sich.“

 

(aus dem Gilgameschepos, ca. 2100-1600 v. Chr., mündliche Überlieferungen älter)

 

 

1. Schweigen und Schreie

1. Schweigen und Schreie

 

 

 

„Bei den Göttern! Können wir nicht auch EINMAL durch die Stadt gehen, ohne dass wir wegen dir auffallen?“ Das Mädchen seufzte genervt.

„Komisch. Ich hatte bisher immer den Eindruck, dass du gerne auffällst“, konterte Eresh in sarkastischem Tonfall.

Nicht zum ersten Mal fand dieser Wortwechsel zwischen Eresh und ihrer um zwei Jahre jüngeren Halbschwester statt. Wenigstens verstand sie sich mit ihren beiden anderen jüngeren Halbschwestern etwas besser als mit Maschdara, meist kurz Dara genannt.

„Es ist schlichtweg peinlich, dass dich ständig jemand angafft. Ob wir nun zum Markt gehen, wie jetzt, oder sonst wohin.“ Dara rollte mit den Augen.

„Vielleicht hat dieser Bauernbursche aber auch dich gemeint“, schaltete sich ihre Mutter besänftigend ein, indem sie sich kurz zu ihnen umdrehte.

Sie ging den beiden Mädchen voraus durch das Stadt-Getümmel von Uruk. „So hübsch, wie du geworden bist“, beschwichtigte sie ihre Tochter.

„Ja, gewiss“, erwiderte Dara übellaunig. Sie lachte ihre ältere Halbschwester zynisch an. „Du solltest dich verschleiern, Eresh.“

„Das sehe ich gar nicht ein“, begehrte Eresh gleich auf. „Ich bin 16 und keine alte Witwe!“

Sie liebte es schließlich genauso wie andere junge Mädchen, sich hübsch zurechtzumachen: schöne Frisuren, Schminke und Gewänder nach der neusten Mode.

In Wahrheit kam es nicht oft vor, dass sie ein Mann mit offenkundigem Interesse musterte. Noch seltener, dass ein junger Bursche sie ansprach. Verstohlene Blicke gab es dafür umso mehr. Das verhinderte die unsichtbare Mauer zwischen Eresh und anderen Leuten nicht, nein, sie förderte die Blicke sogar.

„Schaut nur, der Weiße Tempel leuchtet gerade besonders schön im Sonnenlicht.“ Ihre Mutter versuchte sie offenbar, abzulenken.

Schließlich diente der Weiße Tempel, der über einer zwölf Meter hohen Terrasse aus Lehmziegeln aufragte, der Beobachtung der Gestirne. Und nichts faszinierte Eresh mehr als der Sternenhimmel.

„Wenn wir den Weißen Tempel schon so nah sehen können, ist es wenigstens nicht mehr weit bis zum Markt“, brummte Dara.

Da hatte ihre Halbschwester recht. Mit diesem Ziel vor Augen zogen die drei weiter durch die engen Gassen und zuweilen auch durch breite Straßen mit ihren zart ockergelb schimmernden Gebäuden. Die meisten Häuser wiesen eine kleine Luke kurz unter dem Dach auf und die Fassaden keine Verzierungen. Das war den besonderen Bauten vorbehalten, ob sakral oder profan.

Die drei Frauen trugen je einen Korb, um darin die Markteinkäufe zu verstauen. Mitunter wurde auch die Dienerin Aya auf den Markt geschickt. Doch häufig wollte ihre Mutter lieber selbst die Waren begutachten und nahm zwei ihrer vier Töchter mit.

Hier auf dem Markt hatte man beständig das Klackern der Töpferscheiben in den Ohren. In diesem Viertel wurden im Minutentakt Schüsseln, Krüge und Ähnliches aus Ton gefertigt. Es gab aber auch Manufakturen für andere Produkte, wie Flechtwerk, Werkzeuge oder Kleidung.

„Ich habe Hunger“, murrte Dara. „Wir sollten etwas zusammen essen.“

Eresh musste grinsen. Ausnahmsweise war sie mal einer Meinung mit ihrer Schwester. Ihr Magen knurrte wie ein Berglöwe.

Kein Wunder, gerade hatten sie eine der großen Garküchen passiert. Dort kochten und buken Frauen besonders zur Mittagszeit riesige Mengen an Speisen. Das Essen wurde von Vorarbeitern abgeholt, die es dann zusammen mit Bier an jene Männer austeilten, die sich auf den Baustellen oder in den Manufakturen abrackerten. Selbst jetzt, nach dem Mittag, duftete es noch in der ganzen Straße appetitanregend nach Bohneneintopf, gebratenem Fisch mit Knoblauch und mit Fett abgeschmecktem Getreidebrei.

„Wir sind ja gleich auf dem Markt“, wandte sich ihre Mutter an Eresh und ihre Schwester Maschdara. „Dort können wir uns eine Schale Linseneintopf genehmigen.“

 

 

 

Es schien, als habe sich hier auf dem Markt alles an Staub, unterschiedlichsten Gerüchen, Gewusel, Stimmengewirr, Höflichkeit, Freundlichkeit, Gleichgültigkeit, Frechheit und Feindseligkeit versammelt, was die Stadt nur aufzubieten hatte.

Obgleich Eresh regelmäßig hierherkam, bot der Markt von Uruk doch immer wieder etwas Neues, Aufregendes. Aktuell staute sich die Menschenflut zwischen den Ständen, sodass sie kurz warten mussten.

„Talismane! Amulette!“, rief ein kahlköpfiger Händler mit sonnengegerbter Haut am Stand neben ihnen. „Talismane und Amulette für jede erwünschte Wirkung! Ihr möchtet Schutz vor den Sieben Bösen Dämonen, dem Pestgott Erra oder vor Utkku, bösen Geistern?“ Mit schmeichelndem Grinsen sah er auch Eresh, ihre Mutter und Schwester ein paar Momente an. „Ihr wünscht euch das Herz eines noblen Mannes? Erstrebt ihr vielleicht mehr Wohlstand? Zu all dem können euch meine Talismane und Amulette verhelfen! Kommt herbei und sichert euch eines, bevor sie alle weg sind!“

Eresh musste schmunzeln.

Maschdara dagegen wollte bereits näher an den Stand herantreten, als der Stau sich löste und ihre Mutter sie an der Hand weiterzog.

Bald erreichten sie einen Imbiss, an dem eine wohlgenährte Matrone mit rot glänzenden Wangen drei verschiedene Eintöpfe und Brotfladen anbot. Ihre Mutter wählte mit einem gewissen Stolz im Gesicht den teureren mit Linsen und einem Hauch kostbaren Honig.

Mit der köstlich duftenden Mahlzeit in der Hand suchten sich die drei Frauen einen Platz etwas abseits des Getümmels. Glücklicherweise durchzogen Grünflächen mit Palmen und anderen Bäumen die Stadt, boten Grün und Schatten, sodass sie ein herrliches, geschütztes Fleckchen fanden, an dem sie gemeinsam ihren Eintopf mit Brot zu sich nehmen konnten.

Danach kamen sie zu einem Stand mit allerlei Obst. Dunkel glänzende Datteln, pralle grüne Feigen, reife Quitten und Aprikosen in den Farbtönen eines Sonnenuntergangs verströmten einen fruchtig-frischen Duft, begleitet von verlockender Süße. Hier kaufte Ereshs Mutter einiges ein. Ebenso am Stand ein paar Schritte weiter, wo es stark gesalzenen Schafskäse gab. Städter wie Eresh und ihre Familie erstanden hier den Großteil ihrer täglichen Nahrung. Die Landbevölkerung war schließlich zuständig für die Versorgung der Städter.

Kaum waren Eresh, ihre Mutter und Dara im Begriff, den Markt wieder zu verlassen, drangen Schreie zu ihnen. „Kommt, rasch weiter. Ich möchte, dass wir dem aus dem Weg gehen“, sagte ihre Mutter.

Die Schreie wurden jedoch lauter, als die drei an einer der kleineren Kultstätten für die Göttin Inanna vorbeikamen. Sie klangen klagend und laut wurden in einer verwandten Sprache wohl Götter um Hilfe angerufen. Wenige Augenblicke später sah Eresh sie auch schon um die Ecke kommen. „Kriegsgefangene“, sprach sie mehr zu sich selbst. Es schauderte sie.

Eine kleine Truppe sumerischer Soldaten schleifte vier leicht ausländisch aussehende Männer mit gefesselten Gliedmaßen mit sich. Die Geschundenen waren fast nackt, nur mit einem Lendenschurz und Straßenstaub bekleidet, während die Soldaten leicht spitz zulaufende Helme trugen und alles verhüllende Umhänge, die über der Brust mit einer Brosche zusammengehalten wurden.

„Schnell, weiter!“, mahnte ihre Mutter sie. Für manche mochte solch ein Spektakel sehenswert sein, für andere überhaupt nicht.

Eresh zwang sich, die Kriegsgefangenen nicht anzuschauen, und eilte rasch weiter, als sie beinahe hingefallen wäre. Eine Hand hielt ihren Knöchel umklammert. Entsetzt sah Eresh zu dem Kriegsgefangenen hinab, der sie gepackt hatte. Erst jetzt fielen ihr all seine Wunden auf.

„Du bist eine von ihnen, nicht wahr?“ Sein Sumerisch wies einen Akzent auf. Mit geweiteten Augen starrte er sie an. „Oh, gib mir deinen Segen! Ich bin des Todes. Erfülle mir diesen letzten Wunsch!“

Eresh wusste nicht, was sie erwidern, wie sie reagieren sollte. Nervös blickte sie zwischen dem Mann auf dem Boden und ihrer Mutter hin und her.

Da trat einer der Soldaten dem Kriegsgefangenen so fest in die Seite, dass er Ereshs Knöchel wieder losließ.

Das Mädchen wandte sich schnell um und lief um eine Straßenecke. Dort wartete sie mit klopfendem Herzen auf Dara und die Mutter, die ihr gefolgt waren.

Beklommen gingen sie danach zurück nach Hause – schweigend.

2. Fragen und Antworten

2. Fragen und Antworten

 

 

 

Vor zwei Monden, in tiefster Nacht.

Es war kühl zu dieser ungewohnten Zeit und vom Fluss her wehte eine überaus frische Brise. Eresh zog ihren Wollumhang etwas enger um sich. Darunter trug sie nur das klassische, leichte Gewand, das den rechten Arm mit der Schulter freiließ und eine Handbreit über den Knöcheln endete. Vor einer Doppelstunde waren sie von zu Hause aufgebrochen.

Niemand befand sich an ihrer Seite. Nicht ihre Mutter, wie beim ersten Mal, und auch nicht mehr die Dienerin der Familie. Aya war es lediglich gestattet gewesen, Eresh an das Ufer dieses abgelegenen Seitenarms des Euphrat zu bringen. Bis das Treffen beendet war, sollte die Dienerin sich fernab bei den Pappeln für den Rückweg bereithalten.

Eresh gegenüber standen gleich drei Personen, die ihr im Grunde fremd waren: ihr leiblicher Vater Enthar und seine beiden ältesten Töchter, ihre Halbschwestern. Sie alle waren eigens aus dem „Großen Darüber“ angereist, von einem Ort jenseits des sichtbaren Himmels. Von dort waren sie herabgefahren, um sie, Eresh, zu treffen! Sie fühlte sich geehrt.

Nur schade, dass es dennoch mehr die Erhabenheit, ja, die offensichtliche Überlegenheit ihrer Verwandten war, weswegen Eresh fröstelte. Sie waren alle drei so hochgewachsen, so eigentümlich gekleidet – und sie lächelten so wenig. Sowohl ihr Vater als auch ihre Halbschwestern trugen eine merkwürdige Einheit aus Hose und Obergewand. Bei dem Mann war sie grau, hingegen bei den beiden jungen Frauen violett und so anders, als man sich in Ereshs Umfeld kleidete.

Die Augen von allen dreien waren relativ groß und hell, nicht dick schwarz umrandet, wie es in Ereshs Welt Sitte war. Womöglich hatte man mit diesem Brauch schon immer die Augen größer wirken lassen wollen, nach Vorbild der Götter. Ihre Brauen bogen sich hellbraun über ihren Augen und wuchsen in der Mitte nicht zusammen, wurden auch nicht so geschminkt. Ganz anders als bei Sumererinnen.

Im gleichen Farbton wie ihre Brauen fiel den beiden jungen Frauen das Haar offen über den Rücken. Das Seltsamste aber war das bartlose Gesicht ihres Vaters.

Eresh fühlte sich hin und hergerissen. Ein Teil von ihr wollte am liebsten gleich zurück zu Aya, der ihr vertrauten reiferen Frau. Der andere Teil von Eresh jedoch konnte nicht genug Zeit mit ihrem leiblichen Vater verbringen, rare, kostbare Zeit mit ihm. Ihre Halbschwestern würde sie auch gerne besser kennenlernen. Bisher hatten sie es Eresh mit ihrer kühlen Art allerdings nicht leicht gemacht.

Sie wechselten untereinander ein paar Worte.

Dann stellte ihr Vater sie auch schon gleich unverblümt vor die Entscheidung, nächstes Mal mit ihnen zu kommen oder auf ewig hierzubleiben. Wie konnte er sie so überrumpeln?

Eresh verstand sie nicht, diese Götter, von denen sie zur Hälfte abstammte. Jene, deren Symbol in ihrer Schrift ein achtstrahliger Stern war. Jene, die von dieser himmlischen Welt kamen, für die der Stern ebenfalls symbolisch stand.

„In …“ Ihr Vater überlegte kurz und rieb sich das Kinn. „In zwölf Monden kehre ich zurück und erwarte deine Entscheidung, Tochter“, verkündete er mit wohlklingender, tiefer Stimme. Endlich, ein Lächeln! Es verlor sich gleich wieder, als eine seiner beiden Töchter ihm etwas zuraunte. Eresh blickte die beiden mit einem Stirnrunzeln an. Sie hatte kein Wort verstanden.

„Oder“, begann ihr Vater erneut und wirkte dabei ein bisschen unbehaglich, „Bist du etwa bereits mit einem jungen Burschen verlobt?“

Bereits?, dachte Eresh schmunzelnd. Viele in ihrem Alter waren längst verheiratet. Eresh hatte sich bislang erfolgreich dagegen wehren können, dass ihr Stiefvater jemanden für sie aussuchte. „Nein, das bin ich nicht, Adda.“

Ihr Stiefvater hatte sie wahrscheinlich allein deswegen noch nicht dazu gezwungen, weil sie nicht seine Tochter war, sondern eine Tochter der Anunnaki, der Götter.

Erleichterung huschte über das Gesicht ihres Vaters.

In nur zwölf Monden sollte Eresh sich also entscheiden? Allein der Gedanke daran machte, dass ihr ganz flau im Magen wurde. Eresh merkte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen. „Ich weiß kaum etwas über eure Welt. Was, wenn ich mich falsch entscheide? Es versetzt mich in Furcht, am Ende an einem Ort leben zu müssen, an dem ich mich nicht wohlfühle. Lass mich meine mögliche zukünftige Heimat doch einmal besuchen, bevor ich mich entschließe, für immer dortzubleiben. Bloß ein einziger kurzer Besuch, Adda!“

Ihr Vater musterte sie überrascht. „Unmöglich, Mädchen! Wo denkst du hin? Ich kann dich doch nicht in meine Welt mitnehmen, dich Zeugin all der Wunder dort werden lassen und dich danach wieder einen Fuß auf die Erde setzen lassen. Du würdest allen berichten können, wie es in der Welt ihrer Götter ist.“

„Allen?“ Eresh verschränkte die Arme vor der Brust. „Vater, dir ist offensichtlich nicht bewusst, wie isoliert ich bin. Wem alles sollte ich davon erzählen?“

Er gab ein trockenes Lachen von sich. „Du würdest schon sehen, wie sie sich nach deiner Rückkehr plötzlich alle um dich scharen und ausquetschen würden wie eine reife Frucht. Es handelt sich um nichts Geringeres als den Himmel und das Paradies dieser Menschen.“

Ein schwer deutbares Lächeln umspielte die Lippen ihrer Halbschwestern.

„Ich würde nur Mutter davon erzählen, wie es in eurer Welt ist.“ Sie überlegte kurz. „Nun gut, vielleicht noch meinen Halbgeschwistern. Versprochen!“, gelobte Eresh. Ihr fiel sonst wirklich niemand mehr ein, außer Aya, und selbst bei der treuen Hausbediensteten konnte sie es sich ja noch einmal überlegen.

„Glaubst du nicht, dass deine Halbgeschwister es weitererzählen würden?“ Skeptisch musterte er seine Tochter. „Natürlich würden sie das!“ Ihr Vater schnaufte ungeduldig und wechselte einen Blick mit seinen Töchtern. „Und deine Mutter weiß schon, wie es zu Hause bei mir und meiner Familie ist.“ Er gab ein leises Seufzen von sich. „Ich habe sie einmal mitgenommen in unsere Welt. Es mochte ein Fehler gewesen sein, doch ich war sehr verliebt in sie.“ Wehmut und Erinnerung machten seine Züge weicher.

Seine Anunnaki-Töchter verzogen den Mund, während sie sich untereinander vielsagend ansahen.

Eresh hingegen blieb der Mund offenstehen und ihre Augen weiteten sich. „Was? Davon hat sie mir nie erzählt!“

Ihr Herz schlug aufgeregt schnell und auch etwas empört gegen ihre Brust. Eresh atmete tief durch. Wie konnte ihre Mutter - die Person, die ihr am nächsten stand - ihr gegenüber in solch einer bedeutsamen Angelegenheit schweigen?

„Ich wusste, dass sie sich an ihr Versprechen halten würde“, sagte ihr Vater nur in dankbar mildem Ton.

Ihr Versprechen, dachte Eresh empört, und was ist mit ihrer Pflicht mir gegenüber? Wie oft habe ich Mutter darum gebeten, mir etwas von der Heimat meines Vaters zu erzählen!

Eresh gemahnte sich, sich wieder auf ihren Vater zu konzentrieren. Schließlich entsprach es einer absoluten Seltenheit, dass er so vor ihr stand. „Adda, ich bitte dich, lass auch mich nur ein einziges Mal eure Welt besuchen. Und sollte ich doch hierbleiben wollen, werde ich ebenso schweigen wie meine Mutter.“

Ihr Vater schien tatsächlich ein, zwei Momente nachzudenken. Dann wurde seine Haltung wieder steifer, seine Miene strenger. „Es tut mir leid, Tochter, aber ich kann deiner Bitte nicht nachkommen.“

Dann prasselten Fragen ihres Vaters auf Eresh ein, wie ihr Alltag sei, ihre Bildung die Stadt und der derzeitige König.

Einige davon kamen ihr banal oder komisch vor. Genau wie die einzige Frage, die eine ihrer beiden Anunnaki-Halbschwestern geäußert hatte, nämlich ob es stimmte, dass sie als Sumerer den ganzen Tag nur Bier tranken.

Eresh selbst bekam an Informationen lediglich ein paar trockene Brocken vorgeworfen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Sie spürte aber, dass es nicht angebracht wäre, weiter nachzubohren.

Letztlich sagten ihre Halbschwestern etwas zu ihrem Vater in der ihnen eigenen, fremden Sprache. Daraufhin gab es je eine Umarmung für Eresh – die von ihrem Vater Enthar immerhin nicht ganz so kühl – und nach ein paar Abschiedsworten gingen sie schnellen Schrittes davon.

Eresh lief in die entgegengesetzte Richtung zu der Hausdienerin Aya, die auch ihre Vertraute war. Sie fühlte sich ganz aufgewühlt von dem Treffen mit ihren Verwandten aus der Ferne.

3. Brot und Träume

3. Brot und Träume

 

 

 

„Was soll nur aus ihr werden?“, hörte Eresh ihren Stiefvater ihre Mutter fragen – und in welch einem mahnenden Tonfall! „Deine Tochter müsste eigentlich längst verheiratet sein, ein Baby auf dem Schoß und das andere in ihrem Bauch haben.“ Er schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Ein bodenständiger Gatte, am besten wohlhabend und schon etwas reifer, würde ihr guttun, glaube mir, Namtilla.“

Trotz des ständigen Schwatzens von Ereshs Halbbrüdern ihr gegenüber hatte sie die Worte ihres Stiefvaters klar und deutlich vernommen.

Nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal wieder nach einer längeren Zeit. Alles an und in Eresh verkrampfte sich.

Eine Antwort von ihrer Mutter drang hingegen nicht mehr zu ihr. Wahrscheinlich hatte ihre Erwiderung allein aus einem begütigenden Blick bestanden, wie meist in so einer Situation.

Vielleicht war das auch die günstigste Reaktion, obgleich Eresh selbst ihrem Stiefvater am liebsten die Meinung gesagt hätte. Aber das war undenkbar, wenn sie noch eine Weile unter seinem Dach leben wollte. Wie wenig erwünscht sie hier war, ließ er Eresh ohnehin seit ihrer Kindheit spüren. Seit ein paar Jahren sprach ihr Stiefvater zudem so gut wie gar nicht mehr direkt mit ihr, lediglich über ihre Mutter, ihre Geschwister – oder wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ.

Eines der letzten Dinge, die er sie gefragt hatte, war, ob sie sich denn ständig so geben müsse, als sei sie etwas Besseres. Bei der Erinnerung daran, wie sehr sie sich vor den Kopf gestoßen gefühlt hatte, ballte Eresh unwillkürlich die Fäuste. Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handballen.

„Deine Tochter träumt zu viel vor sich hin“, brummte ihr Stiefvater dann auch noch.

Eresh schnaubte leise. Ich träume nicht vor mich hin, ich schmiede einen Plan!, dachte sie. Auf diesen Plan konzentrierte sie sich nun, nicht länger auf das Gemecker ihres Stiefvaters.

Heute beim Tempelbesuch mit ihrer Mutter würde Eresh einen passenden Moment abwarten und es endlich noch einmal ansprechen, das heikle Thema. Das Tabu, über das sie nur offen reden konnten, wenn ihre Mutter und sie allein miteinander waren. Was nicht häufig zutraf.

Der Vorfall mit dem Kriegsgefangenen auf dem Markt letzte Woche, hatte Eresh nur wieder daran erinnert und erneut etwas in ihr aufgewühlt. Sie brauchte endlich ein paar Antworten auf Fragen, die sie schon lange umtrieben, besonders seit dem letzten Besuch ihres leiblichen Vaters. Ereshs Mutter durfte ihren Fragen nicht länger geschickt ausweichen.

Das konnte sie ihr nicht antun.

„Und du“, begann ihr Stiefvater erneut.

Eresh wurde aus ihren Gedanken gerissen. Meinte er etwa sie? Sprach er sie nach Monaten einmal persönlich an und gerade da hatte Eresh nicht hingehört? Unbewusst hielt sie den Atem an, drehte sich jedoch zu ihm und ihrer Mutter um.

„Du könntest das Kochen und Backen doch ruhig unserer Dienerin überlassen“, beendete ihr Stiefvater den Satz in wohlmeinendem Tadel.

Eresh atmete erleichtert auf. Er hatte nicht sie gemeint, blickte ihre Mutter an.

„Ich danke dir für deine Fürsorge, mein Gatte“, erklang mild die Stimme ihrer Mutter, „aber es macht mir Freude.“

Ihr Stiefvater seufzte mit Unmut. „Ach Namtilla, ich verstehe nicht, dass es dir Freude macht, in der Hitze zu sitzen und dich mit Ruß zu beschmutzen. Du hast unsere Dienerin doch selbst für 30 Shekel auf dem Markt gekauft!“

Wieder ein begütigender Blick seitens ihrer Mutter? „Ja, und sie ist mir eine große Hilfe im Haushalt. Für alles, was ich nicht so gerne selbst erledige.“

Eresh aß die letzte Dattel und sah aus den Augenwinkeln, wie ihr Stiefvater den Innenhof wieder verließ. Sicher hatte er sich nebenbei von Mutter sein Mittagessen für die Arbeit einpacken lassen. Ihr Stiefvater war in der Palastverwaltung tätig. Dadurch genoss ihre Familie einen gewissen Status und Wohlstand.

Eresh nahm sich einen weiteren Brotfladen zu ihrem restlichen Schafskäse auf den Tonteller.

„Hey, lass uns auch noch etwas übrig!“ Einer ihrer beiden Halbbrüder, die ihr gegenüber auf dem Boden saßen, zog den Teller mit dem Brot nahe zu sich heran. Entschlossen hob Galsal – kurz Gal genannt - das Kinn. Eresh rollte mit den Augen. „Das brauchst du gerade zu sagen! Wer hat denn fast die ganzen Datteln allein verdrückt?“

Zornig funkelte Gal sie an. Hingegen sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Nuesh konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Dafür bekam er Gals Ellbogen in die Seite.

„Hört auf zu streiten! Es ist genug für alle da“, rief ihnen ihre Mutter von ihrem Platz neben dem Tonofen, dem Tinnuru, aus zu. Eresh drehte sich zu ihr um und lächelte sie dankbar an. Tatsächlich rollte ihre Mutter gerade einen neuen Teigfladen aus. „Ich muss ohnehin weitere Brote für eure Schwestern ausbacken. Wie viele möchtet ihr noch?“

„Danke Ama, wir haben genug“, meinte Gal für sie drei antworten zu dürfen.

Eresh warf ihm einen wütenden Blick zu. „Musst du dich immer so aufspielen?“, zischte sie ihn an. Nun, in diesem Punkt verhielt er sich nicht allein ihr gegenüber so. Mit seinem jüngeren Bruder und mehr noch mit seinen drei Schwestern, sprang er auch nicht anders um. Ihre Geschwister konnten es lediglich besser akzeptieren, da er nach Eresh der Älteste war.

„Ich spiele mich nicht auf“, verteidigte Gal sich. „Ich bin Addas Stellvertreter. Da trage ich Verantwortung und besitze auch Autorität.“ Überdies war er Vaters Liebling.

„Du scheinst regelmäßig zu vergessen, dass ich die Ältere von uns beiden bin.“ Und außerdem edlerer Herkunft als du, fügte Eresh mit einem gewissen Stolz in Gedanken hinzu. Ja, mit trotzigem Stolz. Aber letztlich wollte sie nicht so überheblich sein wie ihre Anunnaki-Halbschwestern ihr gegenüber.

Vielleicht hätte Gal noch etwas gekontert, wenn ihre Mutter nicht „Schluss mit dem Gezanke!“, gerufen hätte. Gal sah seine Schwester mit zu Schlitzen verengten Augen an. Sollte er sich ruhig ärgern, nicht das letzte Wort gehabt zu haben. Demonstrativ genüsslich aß Eresh den Brotfladen mit Schafskäse. Danach trank sie das mittlerweile lauwarme Wasser in ihrem Tonbecher leer.

„Eresh, du musst dich jetzt zurechtmachen“, drang die Stimme ihrer Mutter zu ihr. „Wir brechen gleich zum Tempel auf.“

„Ja, gewiss, Ama.“ Eresh erhob sich und lief durch den Hof zurück ins Haus.

 

 

 

Heute gönnte sie es ihren drei Halbschwestern von Herzen, dass sie länger schlafen durften. Eresh wollte unbedingt als Einzige zum Tempel mitkommen. Sonst konnte sie wieder nicht mit ihrer Mutter allein sein, und das würde Ama nur erneut eine bequeme Ausrede liefern, weiter über das Tabuthema zu schweigen.

Ereshs Halbbrüder mussten in die Schule beim Palastkomplex, die Edubba, während die drei Langschläferinnen später von einem Hauslehrer unterrichtet wurden.

Eresh war für gewöhnlich ebenfalls dabei, und das mit einiger Freude. Sie liebte es, schreiben und lesen zu üben.

Nur hatte sie als älteste Tochter normalerweise vorher noch Pflichten im Haushalt, für gewöhnlich kleinere Arbeiten. Um die gröberen kümmerte sich die Hausbedienstete Aya, die gute Seele. Heute hingegen galt Ereshs Pflicht dem Tempelbesuch mit ihrer Mutter.

In dem Zimmer, das sie mit ihren Halbschwestern bewohnte, konnte es mitunter recht eng werden. Immerhin waren sie vier Mädchen. Der Raum, den sich ihre Halbbrüder teilten, war genauso groß und sie lediglich zu zweit.

Eresh stellte sich so hin, dass ein wenig Tageslicht von den zwei kleinen, hohen Fenstern auf sie fiel. Dann holte sie den schön verzierten Handspiegel hervor. Er gehörte den vier Mädchen ebenfalls gemeinsam. Sie wischte kurz mit einem Zipfel ihres Gewands über die spiegelnde Fläche, hielt ihn mit etwas Abstand vor sich und betrachtete sich prüfend.

Sie sah ihrer Mutter Namtilla ähnlich. Doch wie sehr ihrem leiblichen Vater, dem Anunnaki Enthar? Eresh war nicht sicher. Gewiss, sie war größer als andere Mädchen ihres Alters, ihr Haar nicht schwarz, sondern nussbraun und ihre Augen grau-blau. Aber ob ihr Gesicht, ihre Haltung, ihre Art zu reden und zu handeln auch etwas mit ihrem Vater gemeinsam hatten, konnte sie nicht bestimmen. Stets wenn sie versuchte, sich ihn vor das geistige Auge zu rufen, erblickte sie lediglich eine vage Gestalt. Ihr Vater war einfach nicht greifbar, noch nie.

Endlich richtete Eresh mit der freien Hand ihr weißes Haarband und zupfte ihr Gewand zurecht. Danach verwendete sie ein kleines Stäbchen aus Horn, um damit das schwarze Pulver aus Ruß und Mineralien rund um ihre grau-blauen Augen aufzutragen. Als Eresh fertig war, zog sie damit auch ihre Brauen nach. Beides entsprach, der Sitte gemäß, einem Minimum an Schminke. Für sumerische Frauen ebenso wie für Männer. An besonderen Tagen färbten sich Sumererinnen zusätzlich die Lippen und Wangen rötlich bis hin zu intensiv rot.

Eresh hörte bereits die Schritte ihrer Mutter, das gleichmäßige Klappern ihrer Sandalen auf dem Lehmboden. Etwas wurde laut auf dem Boden abgestellt. „Kind, wo bleibst du?“, rief sie ihr dann entgegen. Es klang mehr heiter und nachsichtig als ungeduldig.

Eresh legte den Handspiegel zurück auf den Tisch und beeilte sich in den Hauptraum des Hauses.

Nach dem Tempelbesuch, wenn einmal kaum Leute um sie herum waren, würde sie Antworten von ihrer Mutter fordern: Was alles wusste sie über Ereshs leiblichen Vater, seine Familie und seine Heimat? Aber sollte sie auch die Frage stellen?

4. Verborgenes und Enthüllung

4. Verborgenes und Enthüllung

 

 

 

Endlich hatten Eresh und ihre Mutter den Tempelbezirk Eanna erreicht, der wie immer voller Leben war. Die Hitze setzte Eresh zu und sie wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Wie die meisten sumerischen Frauen trug Eresh ihr Haar zu einem Knoten hochgesteckt und war froh über jeden noch so kleinen Luftzug.

Mit einem Lächeln reichte Namtilla ihr den mitgebrachten Wasser-Schlauch. „Hier, erfrische dich noch einmal, bevor wir zum Inanna-Tempel gehen.“

Inanna war die Stadtgöttin von Uruk und der heilige Bezirk ihr geweiht. In zweiter Linie war auch noch An Uruks Stadtgott. In dem Komplex um den Weißen Tempel wurden dem Gott An besonders an Festtagen Opfer dargebracht.

Eresh trank gierig von dem kühlen Nass. Etwas Wasser lief dabei ihre Mundwinkel hinab und den Hals zu beiden Seiten entlang.

Danach reichte sie den Wasser-Schlauch wieder ihrer Mutter. „Danke schön, Ama.“

Schon wieder!

Eresh bekam eine Gänsehaut und die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Bereits zum zweiten Mal heute hatte sie das Gefühl, jemand befände sich direkt hinter ihr und starre ihr ein Loch in den Rücken.

Diesmal drehte Eresh sich rasch um, als könne sie noch jemanden dabei erwischen. Doch nein, so nah hinter ihr befand sich niemand und ein paar Schritte entfernt lediglich ganz gewöhnliche Leute. Neugierig erwiderten ein paar ihren suchenden Blick.

„Was ist los mit dir, mein Kind?“, wandte sich ihre Mutter mit einem Stirnrunzeln an sie.

„Ich dachte nur … Den Göttern sei Dank, alles ist in Ordnung, lass uns weitergehen.“

Während Eresh und ihre Mutter das offene Tor durchschritten und den Tempelbezirk betraten, murmelten sie andächtig vor sich hin: „O große Inanna, möge dein Segen über uns weilen und über unserem König.“

Sie bahnten sich einen Weg an all den Besuchern, Tempeldienern, Priesterinnen, Gärtnern und Lieferanten vorbei, die den florierenden Betrieb von Eanna aufrechterhielten. Die Palmen auf den Grünflächen spendeten ein wenig Schatten.

Tamarisken gab es seltener, doch wenn man eine fand, bot sie einen schattigeren Platz, etwa für eine Ruhepause.

„Pass doch auf!“, fuhr ein Priester mit einem verzierten Tonkrug in den Händen Eresh an. Dabei war er es gewesen, der sie angerempelt hatte.

Der Geistliche stapfte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Der Duft des parfümierten Öls in dem Tonkrug hingegen blieb zurück.

Wenn er wüsste, was ich zur Hälfte bin …

„Eresh, wo wendest du dich hin? Dort geht es zu den Badeanlagen, nicht zum Inanna-Tempel!“

Peinlich berührt schreckte Eresh aus ihren Gedanken auf. „Entschuldige.“

Sie lief mit ihrer Mutter an den Kulthäusern und am Empfangspalast vorbei, der von einem großzügigen Garten umgeben war. Die Fassaden der Prunkbauten waren mit weiß-rot-schwarzen Stiftmosaiken verziert. Die Mosaike beeindruckten in verschiedenen Mustern mit Rauten, Dreiecken, Band- und Zickzackformen.

Bald näherten sie sich ihrem Ziel: dem Tempel der Stadtgöttin.

„Möchtet ihr ein paar süße Kuchen kaufen, als Opfergabe für unsere Göttin?“, sprach eine Händlerin Eresh und ihre Mutter von der Seite an. In dem flachen Binsenkorb in ihren Händen stapelten sich zwei Arten süßen Gebäcks, die verführerisch dunkel glänzten, so getränkt waren sie mit Dattelsirup.

„Nein, danke“, erwiderte ihre Mutter höflich, indessen Eresh das Wasser im Munde zusammenlief.

„Blumen! Wunderschöne Blumen, original wie aus den Gärten der Götter!“, pries schon der nächste Händler ein paar Schritte weiter seine Ware an.

Woher sollte dieser Mann eine Ahnung davon haben, wie die Blumen im Paradies aussehen?, dachte Eresh sarkastisch. Und ist die Welt meines Vaters tatsächlich so, wie man sich hier das Paradies vorstellt? Doch wie ihre Mutter schüttelte sie nur freundlich lächelnd den Kopf und trat gleich darauf mit ihr in den Tempel.

Sofort hüllte sie die schattige, kühle Erhabenheit der heiligen Hallen ein. Selbst Eresh, die durch das Wissen um ihre durchaus greifbaren göttlichen Verwandten väterlicherseits ein etwas anderes Verhältnis zum Glauben hatte, wurde hier stets von Ehrfurcht ergriffen. Es duftete nach Zedernöl und anderen blumigen und würzigen Noten.

An der Seite ihrer Mutter schritt Eresh zu einer der zahlreichen niedrigen Wandbänke in der öffentlichen Tempelhalle, wo noch zahlreicher die Beterfiguren aufgereiht standen. Die kleinen Statuen waren alle so gut wie möglich in Richtung des Kultbilds der Göttin Inanna ausgerichtet, um sie beständig stellvertretend zu verehren. Jede von ihnen sah ganz individuell aus.

In anderen Städten und Tempeln gab es solche Beterfiguren auch zur Huldigung weiterer großer Göttinnen und Götter des Reiches.

Namtilla holte ein Tuch aus ihrem Tragekorb und besprengte es mit etwas Wasser aus dem Schlauch. Sorgfältig reinigte sie die kleine Statue, die ihren Gatten darstellte. Stellvertretend für die gesamte Familie betete er unablässig zu Inanna.

In Eresh kamen wieder einmal gleich mehrere kritische Fragen auf angesichts dieses rituellen Brauchs. Doch sie beschloss, sich ein anderes Mal damit auseinanderzusetzen und heute lieber die Atmosphäre sowie die gemeinsame Zeit mit ihrer Mutter zu genießen.

Danach opferten Eresh und ihre Mutter noch Datteln vor dem Standbild der Göttin und brachten ihr jeweils im stummen Gebet ihre Anliegen vor. Schaden konnte es nicht, befand Eresh.

Als sie den Tempel wieder verließen, meinte sie schon wieder, es würden sich Blicke in ihren Rücken brennen. Eresh gewahrte erneut jemand erschreckend nah.

Zum dritten Mal!

Doch jetzt drehte sie sich nicht um. Sie hatte es sich voriges Mal auch nur eingebildet. Außerdem gab es nun Wichtigeres.

 

 

 

Sobald sie auf dem Rückweg vom Tempelbezirk in eine ruhige Seitengasse gelangten, ergriff Eresh die Gelegenheit. Sie atmete noch einmal tief durch und eröffnete dann entschlossen: „Ama, ich muss mit dir reden.“

Sie verlangsamten beide ihr Schritttempo.

Mit erschrocken geweiteten Augen sah ihre Mutter sie von der Seite an. „Worum geht es denn, Kind?“

Etwas in ihrem Gesicht sagte Eresh, dass ihre Mutter durchaus ahnte, worum es ging.

„Ist etwas Schlimmes passiert? Etwas, das du allein mir anvertrauen kannst? Geht es vielleicht um ein Frauenleiden? Oder gar um einen jungen Mann, einen Burschen aus der Stadt?“, erkundigte sie sich trotzdem entgeistert.

„Nein, nichts von alledem.“ Eresh atmete noch einmal tief durch. „Ama, die Monde ziehen schneller ins Land als Wolken über den Himmel. Du weißt, dass mir bald eine wichtige Entscheidung bevorsteht.“ Sie betrachtete ihre Mutter forschend, obgleich eigentlich klar sein sollte, worum es gerade ging.

Namtilla wandte den Blick von ihr ab und presste die Lippen fest zusammen.

Oh ja, es ist absolut klar, dachte Eresh und blickte sie weiter eindringlich an.

„Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für solch ein Gespräch ist – mitten auf der Straße.“ Namtilla sah ihre Tochter nach wie vor nicht an. Sie wirkte verunsichert, nahezu schüchtern.

Eresh seufzte und blieb stehen, wodurch ihre Mutter ebenfalls widerwillig Halt machte.

„Wir sind hier gerade ganz allein in dieser Gasse“, stellte Eresh fest. „Ich denke nicht, dass es je den bestmöglichen Zeitpunkt für dich geben wird, Ama. Oder wann sonst passt es dir einmal?“

Namtilla blieb ihr eine Antwort schuldig, die Augen auf den Boden geheftet.

Eresh berührte ihre Mutter sanft am Arm.

„Nun komm schon, Ama. Bitte! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bald wird von mir verlangt, mich zu entscheiden. Du musst mir jetzt endlich einmal erzählen, was dir über die Heimat meines Vaters bekannt ist. Du warst schließlich bereits dort.“

Entsetzt starrte ihre Mutter sie an.

„Ja, ich weiß davon. Vater hat es mir letztes Mal gesagt. Und er hat auch deine Diskretion gelobt. Doch du darfst mir gegenüber nicht länger schweigen. Schweige von mir aus vor der gesamten Welt. Aber nicht mir gegenüber.“ Eresh bebte, so sehr bewegte sie dieses Thema.

„Ach Tochter“, schluchzte ihre Mutter und rang unbehaglich die Hände.

Eresh gab nicht auf. „Es bleibt mir verwehrt, die Welt meines Vaters wenigstens ein einziges Mal grob kennenzulernen. Dennoch erwartet man von mir in einigen Monden meinen Entschluss, hierzubleiben oder mit Vater mitzukommen. Und das zu einem Ort, von dem ich nichts weiß. Selbst unsere Mythen und Geschichten berichten sehr wenig darüber, wie es sich lebt auf Nibiru, dem Wandernden Stern. Wie könnten Götter auch einen Alltag haben?“

„Nun wirst du aber respektlos, Eresh. Musst du stets so ironisch sein?“

„Dann vergiss meinen letzten Satz bitte wieder, Ama. Doch alles, was ich davor sagte, entspricht schlichtweg den Tatsachen. Ich finde das alles hart und ungerecht mir gegenüber.“

Ihre Mutter bekam Tränen in die Augen. „Das ist mir alles bewusst.“

Impulsiv und voller angestauter Emotionen packte Eresh ihre Mutter an den Oberarmen und sah ihr eindringlich in die Augen. „Ama, wenn dir das alles bewusst ist, musst du mir berichten. Lass mich nicht länger im Dunklen!“

„Aber ich habe geschworen, mit niemandem darüber zu sprechen, was vor deiner Geburt geschah. Auch mir selbst habe ich es gelobt.“

Eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand kam in die Gasse. Eresh ließ ihre Mutter los und versuchte, wieder regelmäßiger zu atmen.

Als die Passanten nicht mehr in Hörweite waren, bohrte Eresh weiter: „Ich verstehe, wie unangenehm es dir sein muss, über diese Episode deines Lebens zu sprechen. Doch überwinde dich bitte und tu es mir zuliebe.“

Ihre Mutter blickte sie aufgewühlt an. „Was möchtest du hören, Eresh? Wie ich in der durch fremden Zauber weit und schnell emporfliegenden Himmelsbarke gereist bin?“, fragte sie ungewohnt aufgeregt, auch als sei etwas in ihr aufgebrochen, das bislang versiegelt gewesen war.

Es war jetzt Eresh, die mit wild klopfendem Herzen um sich blickte. Es sollte nun bitte niemand in die Gasse kommen und ihr Gespräch entweder unterbrechen oder mithören, was nicht für fremde Ohren bestimmt war.

Ihre Mutter schien momentan so außer sich, dass sie gar nicht darauf achtete.

„Soll ich von den kleineren Himmelswägen erzählen, die an dem Ort deines Vaters magisch durch die Luft gleiten? Oder von den seltsam geformten Gebäuden mit schimmernden Fassaden dort? Wie ähnlich uns die Götter sind und was sie uns wiederum voraushaben? Wie kühl es dort ist im Vergleich zu hier? Würde es dich erschrecken, wenn ich dir verriete, dass es über der Welt deines Vaters eine durchsichtige Kuppel gibt, die schützt? Willst du davon hören, dass Nibiru die alte Heimat ist, und, dass es seit langem eine neue Heimat der Götter gibt, weit, weit weg?“

Eresh war Feuer und Flamme, selbst wenn es so viel auf einmal war, das gerade auf sie einstürmte. „Alles! Ich möchte alles hören und kein Detail soll ausgelassen werden.“ Das schloss natürlich auch die Frage mit ein.

Etwas trieb Eresh dazu an, sie jetzt gleich zu stellen, obwohl ihre Mutter dazu ansetzte, weiter zu berichten. Später würde sie sich vielleicht nicht mehr trauen. „Ama?“ Eresh nahm die Hände ihrer Mutter in ihre und sah sie intensiv an. „Warum hat mein Vater dich damals verlassen? Ich hätte in der Welt der Götter aufwachsen können.“

„Hat er dir das etwa gesagt?“ Namtilla machte große Augen.

„Alle haben das gesagt.“

„Nun, so war es aber nicht, Eresh. Ich habe ihn verlassen, indem ich mich weigerte, mit ihm zu gehen.“ Schon wieder etwas, das sie ihr nie zuvor gesagt hatte.

„Du wolltest lieber hierbleiben? Allein, mit mir in deinem Bauch?“ Eresh stierte sie ungläubig an. „Wieso nur?“

„Ich hatte Angst“, erwiderte ihre Mutter schlicht und senkte die Lider.

Die entstandene Stille wurde von Schritten gestört. Einige Leute kamen in die Gasse, und da es keine Fremden waren, sondern Bekannte von Namtilla, endete das Mutter-Tochter-Gespräch hier und in diesem Moment.

5. Für und Wider

5. Für und Wider

 

 

 

„Eresh?“ Ihre jüngste Schwester zupfte an

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6818-9

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