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Kapitel 1 - Die Sammlung

Deutschland / Niedersachsen, Landkreis Harburg

 

Es wäre für Arne Fröhlich nicht nötig gewesen, so früh aufzustehen. Doch der Landwirt hatte schon das ganze Wochenende nicht gut geschlafen, und darum machte es ihm nichts aus, an diesem Montagmorgen Anfang März bereits gegen 4.30 Uhr das Bett zu verlassen.

Er war leise, um seine Frau Marion nicht zu wecken. Arne duschte und ging hinunter in die Küche, um sich eine Scheibe Brot und einen Kaffee zu machen. Vor dem Fenster war es noch immer dunkel, und wenn dieser Tag so wäre wie die letzten, würde sich daran auch nichts mehr ändern. Zu warm und zu feucht für diese Jahreszeit. Und das schon seit Wochen.

Der 50-jährige Arne Fröhlich konnte sich noch an Winter erinnern, als von November bis Ende Februar kontinuierlich Schnee gelegen hatte. Er hatte es genossen, nicht zuletzt, weil seine Eltern dann mehr Zeit für die Kinder hatten.

„Die Natur braucht diese Ruhezeit“, hatte sein Vater ihm erklärt. „Das Alte stirbt ab, damit Neues wachsen kann. Und den Schädlingen macht der Frost auch den Garaus.“

All das gab es nicht mehr und Arne Fröhlich blickte längst nicht mehr mit dem früheren Tatendrang auf das neue Erntejahr, sondern mit Angst und Sorgen. Was das neue Klima nicht schaffte, erledigten die Regierungen mit ihren verzweifelten und ziellosen Versuchen, die Umwelt zu retten, ohne dass jemand die Zeche dafür zahlen sollte. Hier ein neues Naturschutzgebiet, dort eine strengere Düngeverordnung. Sie klebten Pflaster auf eine klaffende Wunde und erreichten damit nur, dass es denen an den Kragen ging, die in ihren Augen sowieso nicht wichtig genug waren oder keine Lobby hatten, um sich zu wehren.

Arne seufzte und rührte lustlos in seinem Kaffee.

„Wieso bist du schon auf?“

Er drehte den Kopf zu Marion, die in der Küchentür stand und ihn müde anblinzelte.

Arne lächelte und schob die kleine Brille mit den runden Gläsern ein Stück die Nase hoch.

„Ich konnte nicht mehr schlafen. Wollte dich aber auch nicht wecken.“

Sie ging zu ihm, legte einen Arm um seinen Hals und er lehnte seinen Kopf an ihren Bauch. Sie hatten jung geheiratet, mit Anfang 20, doch er hatte es nie bereut. Die quirlige Marion war für ihn ein wunderbarer Gegenpol. Sie war optimistisch und hatte immer mit angepackt, war sich für nichts zu schade. Wo Arne manchmal zögerte und unsicher war, hatte sie die Dinge in Angriff genommen. Und schön war sie. Mit ihren rückenlangen, dunkelbraunen, dichten Haaren und dem Funkeln in den Augen. Nicht einmal Falten und graue Strähnen hatten dem etwas anhaben können. Im Gegenteil: Für Arne wurde sie mit jedem Tag schöner, während seine Tränensäcke wuchsen und der Haarkranz um seinen Kopf immer schütterer wurde.

Er lächelte, als ihre Hand über seinen Kopf strich.

„Willst du etwa schon wieder raus?“, fragte sie besorgt.

Er seufzte und löste sich aus der Umarmung. „Bald geht es mit der Aussaat für die Kartoffeln los.“

Marion setzte sich zu ihm an den Tisch. „Du bist jetzt jeden Tag auf den Feldern gewesen. Glaubst du, seit gestern hat sich was verändert?“

Er senkte den Blick. „Hier herumsitzen kann ich aber auch nicht. Lass mich einfach. Zum Mittag bin ich wieder zu Hause.“

Er stand auf, küsste sie auf die Stirn und ging zur Garderobe, um sich anzuziehen. Marion arbeitete halbtags in der Kreisverwaltung. Sie hätte ausschlafen können, denn heute musste sie erst mittags ins Büro. „Soll ich mitkommen?“, rief sie ihrem Mann hinterher.

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich schaff das schon.“

Dann warf er ihr einen liebevollen Blick zu, so als würde er ahnen, dass nach diesem Moment nichts mehr so sein würde, wie es bisher war. Doch natürlich hatte Arne Fröhlich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, dass sein jetziges Leben in diesem Augenblick endete...

Er verließ das Haus gegen 5.30 Uhr und stieg in seinen Geländewagen. Das Feld, zu dem er wollte lag ungefähr zwei Kilometer westlich des kleinen Dorfes, in dem der Hof der Familie stand. Arne nahm einen schmalen Wirtschaftsweg, fuhr an weiteren Äckern und einer kleinen Tannenschonung vorbei und erreichte den Rand des Feldes.

Als er ausstieg, fiel ihm zunächst nichts auf, denn hinter dem Acker begann ein dichter Wald, dessen Dunkelheit alles schluckte. Erst als er den Strahl seiner Taschenlampe über die feuchte Erde gleiten ließ, entdeckte er die fremden Konturen.

Für einen Moment stand Arne Fröhlich unsicher am Feldrand, wusste nicht, was er denken oder tun sollte. Er drehte den Wagen ein Stück und richtete die Scheinwerfer auf das Feld. Im grellen Licht glänzte das Metall, oder was immer es auch war, woraus diese Konstruktion bestand.

Mit offenem Mund starrte Arne das Objekt an, das einen Durchmesser von der Größe eines Fußballfeldes hatte und in scheinbar elliptischer Form auf dem Acker stand, gestützt von mehreren schmalen, kurzen Säulen.

Eine fliegende Untertasse, wie aus einem Science-Fiction-Film, schoss es Arne durch den Kopf und er versuchte sich daran zu erinnern, ob irgendetwas über Dreharbeiten in den Zeitungen gestanden hatte. Er hätte doch davon wissen müssen, wenn so eine gigantische Kulisse auf seinem Feld geparkt werden sollte.

Oder war er Opfer eines Streichs? So etwas wie die Versteckte Kamera?

Aber nicht mal die Öffentlich-Rechtlichen würden so einen Aufwand für einen einzigen Sketch betreiben.

Arne Fröhlich hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Doch langsam erhellte sich der Tag und schälte die massige Metall-Konstruktion aus der Dunkelheit heraus. Das war keine Sinnestäuschung, das Ding stand wirklich dort.

Wie war es hierher gekommen? Arne war sicher, in der Nacht nichts gehört zu haben. Und da waren auch keine gleißenden Lichter am Himmel gewesen. Nichts von all den Anzeichen, über die UFO-Anhänger immer wieder sprachen.

Es war einfach hier...

Mit weichen Knien ging Arne über den matschigen Acker. Er hatte Angst, aber seine Neugier war größer. So als würde ihm eine innere Stimme sagen, dass er sich nicht fürchten musste. Während er sich dem Objekt langsam näherte, fischte er sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von zu Hause. Nur der Anrufbeantworter ging ran. Vermutlich stand Marion unter der Dusche.

Er räusperte sich, um seinen Hals frei zu bekommen.

„Schatz, ich bin es. Du, hier ist was auf dem Acker... das glaubst du einfach nicht. Bestimmt hältst du mich für verrückt oder so, aber das sieht aus wie ein... UFO. Am besten, du kommst her und siehst es dir selber an. Oder du rufst die Polizei... oder... was weiß ich wen. Ich seh mir das mal an. Ich melde mich wieder. Hab dich lieb.“

Arne steckte das Handy ein. Je näher er dem Objekt kam, desto größer schien es zu werden. Er konnte nicht verhindern, dass er lachen musste. Was, wenn das wirklich ein UFO war? Was, wenn er mitten in einem wahr gewordenen Science-Fiction-Film gelandet war?

Er hatte keine Angst mehr. Er fühlte sein Herz schneller schlagen. Das hier war das Aufregendste, was er je erlebt hatte. Das Aufregendste, was irgendein Mensch je erlebt hatte. Er stand an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Er war im Begriff, die größte Entdeckung der Menschheitsgeschichte zu machen. Er, Arne Fröhlich, Landwirt aus dem Landkreis Harburg in Nordostniedersachsen.

Er hielt die Luft an, als ein Zischen an sein Ohr drang. Und kurz darauf öffnete sich eine Klappe an der Unterseite des Objekts. Alles genau wie im Film...

Arne kicherte und ging näher.

Eine Art Treppe glitt aus dem Inneren dem Boden entgegen. Die glatte Oberfläche drehte sich und gab Stufen frei. Stufen, die ins Innere führten.

Er blieb stehen, schluckte und sein Mut drohte ihn zu verlassen. Arne wartete, dass jemand aus dem Innern kam. Doch nichts geschah.

Er sah sich hilfesuchend um, war aber immer noch allein. Minutenlang stand er einfach nur da, mitten auf seinem Acker, der plötzlich zum bedeutendsten Ort auf der Welt geworden war. Nichts geschah, niemand kam.

Vielleicht war diese geöffnete Luke mit der Rampe eine Einladung.

Arne Fröhlich holte tief Luft und spürte wieder dieses große Vertrauen in sich. Wer immer dort drin war, er hatte sicher nichts Böses im Sinn.

Arne Fröhlich fasste sich ein Herz und ging weiter.

Wenn das eine Einladung war, dann wollte er sie nicht ausschlagen.

 

 

Russland / Republik Komi, Landkreis Ust-Zilemski

 

Es war die Kälte, die Semjon Lasarew schließlich aus dem Schlaf holte. Das alte Haus in dem kleinen Dorf war schlecht isoliert und wahrscheinlich war der Ofen in der Nacht ausgegangen. Doch es war eh Zeit, aufzustehen. In knapp einer Stunde begann seine Arbeit im Sägewerk. Er war für die erste Schicht unten am Fluss eingeteilt, in der Nähe des Waldrandes.

Semjon wusch sich hastig, zog sich an und brühte sich einen heißen Kaffee auf.

Es war still in dem kleinen Haus mit seinen zwei Zimmern, von denen eins die Küche beherbergte. Mit dem Baby würde es noch enger werden. Doch Semjon freute sich auf das Kind – egal, ob Junge oder Mädchen. Er wäre lieber bei Natalja im Krankenhaus gewesen, doch die Fahrt nach Sosnogorsk war weit und er konnte es sich nicht leisten, der Arbeit fern zu bleiben. Natürlich machte er sich Sorgen, ob das Geld reichen würde, doch Natalja sagte, dass die Gesundheit das Wichtigste sei. Und dass ein neues Leben das Schönste wäre, was ihnen passieren konnte. Und wie immer hatte Natalja recht.

Semjon betrachtete sich in dem stumpfen Spiegel, brachte das struppige, schwarze Haar in Ordnung und strich sich über den Schnurrbart. Er seufzte, fand, dass er alt aussah für seine 30 Jahre. Das machte der schlechte Schlaf. Und wenn Natalja mit dem Baby zurückkäme, würde es noch weniger Schlaf für ihn geben.

Semjon Lasarew verließ sein Haus gegen 6.30 Uhr und schwang sich auf sein altes Fahrrad. Zum Sägewerk war es nicht weit und er konnte die Strecke auch im Dunkeln fahren. Sicher wäre er der Erste, doch das machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er genoss die Zeit allein, um sich auf die Arbeit des Tages in Ruhe einzustellen. Die einzige Zeit ohne Hektik.

Er lehnte das Fahrrad an die Mauer und ging hinunter zu dem breiten Stausee, der in unmittelbarer Nähe des Werks lag. Hier mündete ein Fluss, über den die Holzarbeiter die Stämme zum Werk brachten. Am westlichen Ufer begann der dichte Wald, hinter dem See lag eine große, grüne Ebene. Semjon saß in seinen Pausen gerne an den Bootsstegen und blickte auf die endlose Steppe hinaus. Doch an diesem frühen Morgen endete sein Blick an der gewaltigen Stahl-Konstruktion am gegenüberliegenden Ufer.

Zitternd stand der junge Mann auf dem gepflasterten Parkplatz neben dem Sägewerk und war ziemlich sicher, doch noch zu schlafen. Er brauchte eine Weile, bis ihm seine Knie gehorchten und er in der Lage war, zum Ufer hinunter zu gehen.

Sicher täuschte er sich. Bestimmt lag es an der dämmrigen Dunkelheit, dass er glaubte, dieses gewaltige... Ding dort zu sehen. Wie eine fliegende Untertasse stand es da. Völlig ruhig und bewegungslos.

Es war mehr ein Impuls, als eine bewusste Entscheidung, die Semjon Lasarew dazu veranlasste zu einem Steg zu gehen und in eines der kleinen Motorboote zu steigen. Die Arbeiter benutzten sie, wenn Stämme abgetrieben waren, festsaßen oder sich verkeilt hatten. Die Schlüssel steckten immer. Mit routinierten Griffen startete Semjon das Boot. Er dachte nicht darüber nach, was ihn auf der anderen Seite erwarten würde. Er stellte sich nicht die Frage, ob er sich in Gefahr begab. Er wollte einfach nur wissen, was dieses Ding dort war.

Dann wäre er der Erste, der es entdeckt hätte. Er würde berühmt werden, käme in die Zeitung, könnte Interviews geben. Bestimmt ließ sich diese Entdeckung zu Geld machen. Geld, dass er gut gebrauchen konnte, wenn Natalja mit dem Baby zurückkam.

Er sah wie das Objekt vor ihm wuchs und spürte die Anziehungskraft, die davon ausging. Er machte das Boot an einem der Stege fest und sprang hinaus. Fast wäre er gestolpert und ins Wasser gefallen, so aufgeregt war Semjon. Er rannte ein paar Schritte das ansteigende Ufer hinauf, dann bremste er abrupt ab. Das gewaltige Objekt war keine zwanzig Meter mehr entfernt und plötzlich packte den Holzarbeiter die Furcht.

Er hatte doch keine Ahnung, was das für ein Ding war. Wenn es sich tatsächlich um ein UFO handelte, wären die Außerirdischen, oder wie immer sie hießen, in der Lage, ihn sofort zu töten. Noch größer wäre die Gefahr, wenn es sich um ein geheimes Regierungsprojekt handelte. Sollten Soldaten aus dem Innern kommen, wäre er erst recht verloren. Dann würde er auf ewig in einem Arbeitslager verschwinden und sein Kind niemals zu Gesicht bekommen.

Hastig drehte sich Semjon zum Ufer zurück und konnte nicht mehr verstehen, was ihn dazu verleitet hatte, hierher zu kommen. Er musste zurück zur Fabrik und jemanden anrufen. Seinen Chef, die Polizei, den Bürgermeister oder vielleicht sogar die Regierung in Syktywkar. Und am besten noch Journalisten.

Er war schließlich immer noch der Erste, der hier gewesen war. Daraus ließ sich bereits Geld schlagen, selbst wenn er sich nicht weiter in Gefahr brachte.

Andererseits...

Vielleicht war es auch schon zu spät! Möglicherweise strahlte dieses UFO irgendeine Form von Radioaktivität aus, und er würde innerhalb von Stunden zersetzt. So wie damals die Leute rund um Tschernobyl.

Die Angst lähmte Semjon Lasarew. Er sah den Atem vor seinem Mund verdampfen und spürte, wie ihm heiße Tränen über die Wangen liefen. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf und er konnte keinen einzigen von ihnen festhalten. Er sah Bilder von einer möglichen Zukunft vor sich, und keines davon war beruhigend.

Bilder von einem Krieg gegen Außerirdische, wie sie im Kino zu sehen waren.

Bilder von sich in Gefangenschaft, weil er unfreiwillig ein Geheimnis entdeckt hatte.

Bilder von tödlichen Krankheiten und Seuchen, die sich über die ganze Welt ausbreiteten.

Aber er sah kein Bild, das ihn und seine Familie glücklich und in Sicherheit zeigte. Langsam begann Semjon Lasarew zu begreifen, dass die Welt nach diesem Montagmorgen im März eine andere sein würde. Nichts war jetzt mehr sicher.

Und am allerwenigsten seine eigene Zukunft.

Ein Geräusch ließ ihn fast aufschreien. Er wirbelte herum und sah die Öffnung am Boden des Objekts, die immer größer wurde und aus der sich schließlich eine schmale Landetreppe schob, deren glatte Oberfläche sich zu Stufen drehte.

Kraftlos und schluchzend sank Semjon auf die Knie und hob seine Arme über den Kopf.

Er zitterte am ganzen Körper.

Gleich würden sie herauskommen und ihn töten.

Aber es kam niemand.

Minuten vergingen und als Semjon begriff, dass ihm keine akute Gefahr drohte, zog er sich langsam wieder auf die Füße. Er zitterte noch immer und sein Hals war trocken. Das war vielleicht noch eine Gelegenheit zur Flucht. Bis zum Boot waren es nur wenige Schritte. Aber möglicherweise hatten sie Kanonen und würden ihn in tausend Stücke sprengen, wenn er weglief.

Warum diese Öffnung und die Treppe?

Warteten sie? Auf ihn?

Semjon Lasarew merkte kaum, wie er sich in Bewegung setzte und weiter auf das Objekt zuging. Er war sicher, dass wer immer dort drin war, von ihm erwartete, hereinzukommen. Und er hatte viel zu viel Angst, um sich diesem Wunsch zu widersetzen.

 

 

USA / Nebraska, County Clay

 

Der Fahrtwind kühlte das erhitzte Gesicht von Ruby Daniels und vertrieb nach und nach das taube Gefühl aus ihrem Kopf. Eine Zeit lang war sie sicher gewesen, sich übergeben zu müssen, doch seit der Wagen über die schnurgerade Straße glitt und sie den Kopf aus dem Fenster hielt, ließ das Gefühl nach und Rubys Herzschlag beruhigte sich ebenfalls.

„Kannst du mal die Scheibe hochdrehen? Es wird scheiße kalt hier drinnen.“

Ruby blinzelte, zog den Kopf ins Wageninnere und sah zu Skylar Rhodes, die ihre Hände fest um das Steuer gelegt hatte und sich darauf konzentrierte, der Dunkelheit draußen ein paar Konturen zu entreißen.

Sie hatten beide getrunken, doch Skylar hatte sich zurückgehalten. Kein Wunder, sie hatte ja auch nicht so eine Scheiße am Hacken wie Ruby. Eine Scheiße namens Garth Barrett...

„Was hast du gegen frische Luft?“, fragte Ruby und merkte, dass ihre Zunge noch ein bisschen schwer im Mund lag.

Skylar warf ihr einen ärgerlichen Seitenblick zu. „Gar nichts. Aber wir haben März! Es ist saukalt da draußen. Du wirst dir den Tod holen und ich habe auch keinen Bock auf eine rote Nase und aufgeplatzte Lippen.“

Ruby lächelte.

Natürlich ging es Skylar nicht darum, ob sie krank wurde, sondern darum, wie sie dabei aussah. Und auch wenn sie manchmal ein oberflächliches Püppchen zu sein schien, mochte Ruby sie. Vielleicht sogar genau deshalb. Weil sie eigentlich gar nichts gemeinsam hatten.

Ruby war burschikos, hatte kurzes, dunkelrot gefärbtes Haar und tiefliegende Augen. Sie war klein, kräftig, ohne dick zu sein und kleidete sich meist in dunklen Farben. Sie spielte E-Gitarre und war Mitglied in einer Band.

Skylar war schlank mit langen, glatten blonden Haaren und großen, hellen Augen, die sie genauso gekonnt in Szene setzte, wie den Rest ihres Körpers. Natürlich war sie Cheerleaderin und besaß einen Youtube-Channel, einen Instagram-Account und jede Menge Follower. Doch sie war noch viel mehr als eine Ansammlung von Klischees. Sie war aufgeschlossen, sie war neugierig, tolerant und beurteilte niemanden nach seinem Aussehen. Sie war zu Rubys Konzerten gekommen und hatte ihr ein Kompliment für ihre Musik gemacht. So waren sie ins Gespräch gekommen. Das war vor einem Jahr. Ein paar Monate vorher war Ruby mit ihrem Vater hierher gezogen, in das Haus ihrer verstorbenen Großeltern. Ursprünglich nur für den Übergang, bis der Nachlass geregelt wäre. Doch dann hatte sich Jeremy Daniels entschlossen zu bleiben. Seit der Trennung von Rubys Mutter hatte ihn nichts mehr in Kearny gehalten und sie blieben hier auf dem Land. Ruby war es recht gewesen. Sie hatte nie viele Kontakte an ihrer alten Schule gehabt. Und seit ihre Mutter sie verlassen hatte, lebte sie noch zurückgezogener.

Hier in Clay County war sie aufgeblüht. Sie hatte schnell eine neue Band gefunden und auch Freunde. Sogar jemanden wie Skylar...

Es war die perfekte Beziehung. Jeder ließ den anderen wie er war, und konnte von dessen Perspektive und Weltsicht profitieren. Skylar war überraschenderweise ein As in Literatur, Ruby hatte es mehr mit den Naturwissenschaften. In den rund 12 Monaten, die ihre Freundschaft andauerte, waren sie unzertrennlich geworden. Und wenn die Highschool im Sommer für sie endete, waren sie entschlossen, gemeinsam aufs College zu gehen.

Doch im Moment war Skylar wütend auf ihre Freundin.

Darauf, dass sie das Fenster geöffnet hatte, darauf, dass sie zuviel getrunken hatte, darauf, dass sie sich mit Garth gestritten und dadurch die komplette Party geschmissen hatte.

Natürlich war es schon spät, fast 23 Uhr, und sie mussten morgen zur Schule, aber Skylar hätte sich dennoch einen etwas späteren und vor allem unauffälligeren Abgang gewünscht. Außerdem hätte sie sich gerne mit Bryans Cousin aus Lincoln unterhalten, der zu Besuch war. Skylar hasste ihr Single-Dasein, doch es war gar nicht so einfach loszuwerden. Durch ihr Aussehen und ihr Auftreten war sie vor allem bei den Sportlern und Rüpeln beliebt. Die netten Jungs wollten nichts von ihr wissen oder trauten sich nicht an sie heran. Bryans Cousin hingegen ging nicht nur aufs College, er hatte zudem auch den Vorteil, dass er sie nicht kannte und darum unvoreingenommen war. Ein stiller, aber gutaussehender Typ. Vielleicht hätte was daraus werden können, wenn Ruby nicht an die Decke gegangen wäre. Dabei hatte Skylar ihr gleich gesagt, dass es mit Garth nicht funktionieren würde. Auch er gehörte zu denen, die für ein Mädchen wie Ruby eigentlich unerreichbar waren. Sie selbst wollte nichts von den Nerds wissen, aber die Sportler ließen sie links liegen. Bis auf Garth. Doch der war eigentlich auch nur auf der Ersatzbank und gehörte zu den Mitläufern im Football-Team. Skylar war sich sogar ziemlich sicher, dass er sich nur mit Ruby eingelassen hatte, um an SIE heranzukommen. Doch das sagte sie der Freundin natürlich nicht.

Garth hatte sich schon immer wie ein Arsch benommen und Ruby links liegen lassen, wenn seine Kumpels dabei waren. Aber dass er dann auch noch auf der Party mit der rotzdummen Brittany Harring herumgemacht hatte, schlug dem Fass den Boden aus. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich mit ihr in ein Zimmer des Hauses zurückzuziehen. Also hatte Ruby sie beim Knutschen in der Küche erwischt und ihm eine Riesen-Szene gemacht. Sie hatte ihm einen Drink über den Kopf geschüttet und auch noch ihr T-Shirt hoch gezogen, um zu zeigen, dass IHRE Titten wenigstens echt waren, im Gegensatz zu denen von Brittany.

Bryan hatte als Gastgeber noch versucht, die Situation zu retten, aber für Ruby und Skylar war die Party damit zu Ende.

Und Skylar hatte nicht mal die Nummer des Cousins! Wie hatte er doch gleich geheißen?

„Tut mir leid, Süße“, hörte sie Ruby auf dem Beifahrersitz lallen.

Skylar seufzte. Sie wusste schließlich am besten, dass sie der Freundin nicht lange böse sein konnte.

„Schon okay.“

„Nein, ist es nicht. Ich habe gesehen, wie gut du dich mit Harrison unterhalten hast.“

Skylars Miene hellte sich auf. Harrison, genau, das war sein Name...

„Ich verspreche dir, dass ich alles daran setzen werde, dass ihr euch wiederseht. Mein ganzes, junges Herzblut will ich dieser Mission opfern.“

Skylar musste schmunzeln. „Jetzt hör schon auf. Wenn du nach dieser Nacht endlich von Garth geheilt bist, reicht mir das schon als Wiedergutmachung.“

Sie hörte Ruby tief seufzen. „Oh, das bin ich. Glaub mir, das bin ich.“

Für einen Moment schwiegen die Mädchen und hingen ihren Gedanken nach. Noch knapp fünf Meilen, dann wären sie zu Hause und diese furchtbare, schnurgerade Straße zwischen Wiesen und Feldern hätte ein Ende.

Wenn nur endlich auch das Leben in diesem Kaff ein Ende hätte, dachte Skylar, kurz bevor sie vor Schreck fast das Steuer verrissen hätte.

„Halt an“, schrie Ruby und packte ihren Arm.

Instinktiv trat Skylar auf die Bremse und sah ihre Freundin erschrocken an.

„Scheiße, Ruby! Was soll der Mist? Wir hätten fast einen Unfall gebaut.“

Mit hektischen Bewegungen löste Ruby Daniels den Sicherheitsgurt und stieg aus dem alten Ford.

„Da war was...“

Skylar verdrehte die Augen. „Und was bitte schön kann so bedeutsam sein, dass du dafür einen mörderischen Unfall riskierst?“

Ruby sah sie an und ihr Blick wirkte plötzlich glasklar und ängstlich.

„Keine Ahnung. Aber es war riesig...“

„Riesig? So wie... ein Berg? Die Freiheitsstatue? Scheiße, hast du jetzt etwa Hallus? Hat dir jemand was ins Glas geschüttet?“

Ruby schüttelte verstört den Kopf und stieg aus dem Wagen. Skylar folgte ihr mit einem leisen Fluch.

In der Dunkelheit konnte sie die Silhouette ihrer Freundin kaum erkennen. Dahinter war die Nacht undurchdringlich.

„Ruby, was soll der Scheiß? Sagst du mir jetzt endlich mal, was du da gesehen haben willst?“

„Da war... ein riesiges... Ding. Ich habe es nur ganz kurz gesehen, das Licht vom Wagen hat irgendwie reflektiert.“

„Vielleicht wurdest du ja von einem Gedankenblitz geblendet, Süße. Komm schon, steig wieder ein. Es ist spät und der Abend war eh schon schräg genug. Da brauche ich jetzt nicht noch deine Hirngespinste.“

„Ich habe mir das nicht eingebildet, Skylar. Komm, wir gehen nachsehen.“

Das blonde Mädchen lachte. „Einen Teufel werde ich tun, Baby. Du setzt dich jetzt in diesen beschissenen Wagen und ich bringe dich schleunigst nach Hause.“

Ruby drehte sich zu ihr um. Ihr Blick war verletzt und entschlossen.

„Dann gehe ich eben allein.“

Noch bevor Skylar protestieren konnte, war ihre Freundin in der Dunkelheit verschwunden. Sie hörte noch kurz die knirschenden Schritte auf dem Kies der Straße und das Rascheln des Grases hinter dem Graben. Dann gab es nur noch Stille um sie herum.

Ein paar Mal rief Skylar ihren Namen, dann gab sie es auf, zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und wartete.

Wartete eine Ewigkeit, wie ihr schien.

Sie trat unruhig von einem Bein auf das andere und schnippte schließlich die Zigarette weg. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon gewartet hatte, aber sie hielt es nicht mehr aus.

„Ruby?“

Keine Antwort.

„Ruby, das ist jetzt nicht mehr witzig! Beweg' deinen fetten Arsch hierher, ich will nach Hause.“

Die Stille blieb.

Wütend setzte sich Skylar in Bewegung und bahnte sich ihren Weg über den niedrigen Straßengraben und durch das feuchte Gras. Langsam wich der Ärger der Sorge. Was, wenn Ruby hingefallen war und sich den Kopf angeschlagen hatte?

Die Dunkelheit war undurchdringlich. Es hatte überhaupt keinen Sinn, weiter zu suchen.

Skylar drehte um, setzte sich in den Wagen und wendete ihn, so dass er quer auf der Straße stand und die Scheinwerfer aufs Feld wiesen.

Mit offenem Mund starrte sie auf das Gebilde, das die beiden kreisrunden Lichter aus der Nacht herauszerrten.

Ungläubig stieg sie aus und ging um den Wagen herum.

„Was ist das?“, formten ihre Lippen, während sich die Augen an dem gigantischen Objekt aus Metall festsaugten. Sie begann zu zittern und fühlte, wie ihre Knie weich wurden.

„Ruby“, flüsterte sie und Tränen stiegen in ihre Augen, als sie sich vorstellte, ihre beste Freundin nie mehr wieder zu sehen.

 

Kapitel 2 - Entdeckt

 

Deutschland / Hamburg, Stadtzentrum

 

„Briefing!“

Hannah Fröhlich streckte sich und rieb die müden Augen, nachdem sich die Glastür zu ihrer kleinen Büronische wieder geschlossen hatte. Auch wenn sie davon überzeugt war, dass diese regelmäßigen Besprechungen überhaupt keinen Sinn hatten, war sie froh über die Möglichkeit, ihren Schreibtisch verlassen zu können. Ihre Augen brannten und fühlten sich trocken an. Doch das war nur eines der Symptome, unter denen die 26-Jährige zur Zeit litt. Sie war erschöpft, hatte Schluckbeschwerden und ihre Haut juckte. Außerdem hatte sie keine Ideen mehr. Die schlimmste Krankheit in einer Werbeagentur. Nicht, dass sie auf besonders originelle Geistesblitze angewiesen wäre – im Gegenteil. Zuviel Kreativität war tödlich. Das Neue musste sich immer in den Grenzen des Bekannten bewegen, lautete die Devise ihres jungen Chefs, der bemüht war, wirklich jedes Werber-Klischee zu erfüllen.

Neben Basecap und Vollbart bedeutete das auch, dass er mit dem Segway zur Arbeit fuhr und hochgeschlossene, hautenge Hemden mit Blumenmuster trug. Er war gerade zwei Jahre älter als Hannah und liebte es, sich reden zu hören. Darum auch die drei Briefings pro Tag.

Eins unmittelbar nach Arbeitsbeginn gegen 9.30 Uhr, ein weiteres um 12.30 Uhr und das letzte gegen 16 Uhr.

Hannah stand auf und kniff sich in die Wangen, in der Hoffnung, die Durchblutung anzukurbeln. Louis, ihr Boss, mochte keine müden Gesichter um sich herum.

Sie hatte gehofft, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie ein oder zwei Wochen freiwillig die Poststelle übernahm, ein rotierender Job unter den Junior Content Managern. Sie kümmerte sich um Bestellungen und Rechnungen und konnte einfach mal den Kopf frei bekommen. Doch er wurde nicht frei, sondern fühlte sich weiter schwer und taub an. Natürlich hatte sie sich auch schon gefragt, ob die Arbeit in der Werbung überhaupt das Richtige für sie war. Sie hatte Grafikdesign studiert und sich gleich im Anschluss bei verschiedenen Agenturen beworben. Ihre Arbeiten waren so gut, dass sie sich die Jobs aussuchen konnte.

Ihre Wahl war auf die Agentur von Louis Röhling gefallen, weil das Team jung war, das Portfolio abwechslungsreich und die Büroräume in einem schicken, alten Loft in der Speicherstadt lagen. Zwei Jahre war sie jetzt hier. Zwei Jahre, in denen Kreativität zur Routine geworden war.

Sie jonglierte immer wieder mit den gleichen Adjektiven, Superlativen und Anglizismen. Dazu schlichte Formen und eingängige Piktogramme.

Standard-Programm.

„Wir dürfen die Kunden nicht überfordern“, bremste Louis sein Team immer wieder aus. „Wenn wir zu sophisticated erscheinen, erreichen wir nur einen negativen Mind-Blow. Understatement ist progressive.“

Mittlerweile war das Hannah völlig egal. Vergangen war der Zauber von der Altbauwohnung in der gemütlichen Großstadt. Verblasst das Flair des Elitären. Sie fühlte sich wie in einer großen Seifenblase. Gut ging es ihr nur, wenn sie am Wochenende zu Hause bei ihren Eltern war und in ihrem ehemaligen Kinderzimmer Kakao trank und sich alte Fernsehserien auf Video ansah, die ihr Vater aufgehoben hatte.

Sie zog ihre Schreibtischschublade auf und warf einen Blick in den Taschenspiegel. Die helle Haut war noch blasser, das schulterlange, blonde Haar wirkte strähnig und sie hatte Ränder unter den hellblauen Augen. Du siehst aus, wie ein scheiß Gespenst, seufzte sie innerlich.

„Hannah, los jetzt.“

Schon wieder wurde die Tür aufgerissen und Hagen, ein Hipster in grasgrünen Röhrenjeans, streckte den Kopf rein. „Das Meeting geht los.“

Hannah nickte nur müde und folgte ihm in den leicht erhöhten Glaskasten am Ende des Raumes im zweiten Stock. Um ihn herum standen Schreibtische unter den Fenstern. Der Kasten diente Louis sowohl als Büro, als auch als Konferenzraum.

Nachdem alle acht Mitarbeiter sich gesetzt hatten, ging Louis auf und ab, einen Knetball in den Händen.

„Okay, Team. Lasst uns mit dem Göringer-Account beginnen. Ich habe einen Creative Check-Up gemacht, aber mit dem Kunden vereinbart, noch mal im Team einen Deep Dive durchzuführen, damit die Claims abgesteckt werden können. Ich schlage vor...“

Hannah hörte gar nicht mehr zu. Die Worthülsen rauschten an ihr vorbei, ohne dass sie ihr Bewusstsein erreichten.

Erst als Coralie, die Telefonistin, die Tür aufriss, schreckte auch Hannah hoch.

Louis sah sie ungehalten an.

„Äh, sorry, Coralie, aber wir sind im Midday-Briefing. Wenn du vielleicht...“

„Nein“, rief sie und der entsetzte Blick ihrer Augen ließ sogar Louis verstummen.

„Ihr müsst nach vorne kommen, alle! Schnell“

Sie ging zurück und das Team folgte ihr zögernd.

Die fünf Männer und drei Frauen gruppierten sich um Coralies Monitor, der Polizisten und Soldaten zeigte, die mit hektischer Handkamera gefilmt worden waren. Die Worte des unsichtbaren Reporters waren gestammelt, seine Stimme hektisch.

Hannah zog die Stirn kraus. Da war etwas passiert, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Zwischen Louis und den anderen entstand ein Gemurmel aus Mutmaßungen und Theorien. Ein Überfall, ein terroristischer Anschlag, ein Erdbeben?

Alles schien möglich zu sein.

Alles – nur das nicht...

Als die Kamerabilder von einer großen Fotoaufnahme abgelöst wurden, klappten die Kinnladen in dem Großraumbüro herunter und für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben.

„Ist das etwa ein scheiß UFO?“, stammelte Louis und keiner wagte, eine Antwort zu geben. Was auf dem Bild zu sehen war, glich der klassischen „Fliegenden Untertasse“. Ein elliptisch geformtes Konstrukt mit glatter Oberfläche von der Größe eines Fußballfeldes. Es stand auf niedrigen Stahlstützen und schien vollkommen glatt zu sein. Nach oben hin verjüngte sich die Form, die Unterseite wirkte flach. Es gab keine Fenster, keine Ausbuchtungen oder Dellen. Völlig glatt und ruhig lag es auf einem Acker, umgeben von Absperrbändern der Polizei.

Dann verschwand das Bild wieder und wurde vom Gesicht des Reporters abgelöst, der nervös in die Kamera sah.

Es war laut um ihn herum, ein Stimmengewirr war zu hören, im Hintergrund liefen Menschen, Uniformierte und Zivilisten durcheinander. Sie hörten Motorengeräusche, sogar die Turbinen von Hubschraubern. Es wurde gehämmert und gebohrt, Befehle ertönten durch Megaphone. Wo auch immer dieses Objekt stand – es war von Chaos umgeben.

„Noch immer gibt es keinerlei Hinweise darauf, woher dieses Ding stammt oder aus was für einem Material es ist“, ertönte die Stimme des Reporters.

„Seit der Entdeckung in den frühen Morgenstunden wimmelt es hier von Polizei und Militär. Sollte dieses... Ding tatsächlich außerirdischen Ursprungs sein, wie bisher angenommen wird, dann müssen Polizei und Militär alles tun, um die Schaulustigen fernzuhalten. Es könnte immerhin die Gefahr einer Strahlung bestehen. Außerdem muss damit gerechnet werden, dass dieses Objekt sich öffnet. Was erwartet uns? Kleine, grüne Männchen? Wesen aus dem All? Was immer es auch ist, es wird die Welt von grundauf verändern. Damit zurück ins Studio.“

Der Reporter verschwand und machte dem Moderator der Magazin-Sendung Platz. Doch das Thema blieb gleich. Auf dem unteren Bildschirmrand erschien ein rotes Laufband mit der Eilmeldung zur Landung von Außerirdischen.

Coralie schaltete den Ton des kleinen Lautsprechers aus und sah in die Runde. Der Ausdruck in den Gesichtern war fassungslos.

„Denkt ihr, das ist ein Scherz?“, fragte die Telefonistin vorsichtig.

Hagen kratzte sich am Hinterkopf. „Das Ding sah schon verdammt echt aus.“

Ein anderer Kollege, Leon, tippte hektisch auf seinem Smartphone herum. „Wenn es ein Scherz war, dann ist er auf jeden Fall gelungen. Das Netz kennt kein anderes Thema mehr. In sämtlichen Foren und auf allen Nachrichten-Kanälen die gleichen Bilder.“

Louis fand als erster die Fassung wieder.

„Alle an die Arbeit, Leute. Das Ding geht viral und wir werden ganz vorne mit dabei sein. Ich will Logos und T-Shirt-Aufdrucke, Smartphone-Hüllen, Kugelschreiber und Mützen. Das komplette Programm. Wir werden die ersten sein, die damit an den Markt gehen. Coralie, druck jedem ein Bild von diesem Ding aus. In zwei Stunden gibt es ein Sonder-Briefing und dann will ich Ideen sehen. Entweder finden wir einen Kunden, oder wir vermarkten selber. Das ist heißer Scheiß, Leute!Feierabend gibt es nicht.“

Hagen meldete sich, als wäre er in der Schule.

„Weiß einer, wo das Ding gelandet ist?“

Coralie tippte auf der Tastatur herum. „Die wollen es nicht sagen. Um Panik zu verhindern und Schaulustige fernzuhalten.“

„Wartet mal.“

Alle sahen zu Hannah, die noch ein bisschen blasser geworden war.

„Hol mir noch mal das Bild, Coralie.“

Der Weg war nicht weit, es erschien bereits auf der Startseite der Suchmaschine.

Hannah beugte sich ein Stück nach vorne.

Sie sah den Acker, sie sah die Bäume. Sie sah den alten Jäger-Hochsitz und die entfernte Silhouette eines Dorfes. Ein heißer Stich bohrte sich in ihren Rücken.

„Scheiße – ich glaube, das ist bei uns...“

Durch die Stille, die entstanden war, hörte sie das Klingeln ihres Handys, das noch immer auf ihrem Schreibtisch lag.

Ohne zu zögern rannte sie los. Auf dem Display sah sie die Nummer von zu Hause. Mit zitternden Fingern nahm sie das Gespräch entgegen.

„Mama, was ist passiert?“ Ihre Stimme überschlug sich, so sehr fürchtete sie die Antwort.

Zuerst war da nur ein Schluchzen. „Hannah, Süße?“

„Ja, Mama. Was ist los bei euch? Ich habe diese Bilder im Fernsehen gesehen? Ist das bei uns?“

„Hannah“, schluchzte Marion Fröhlich weiter. „Du musst nach Hause kommen. Sofort...“

 

 

Russland / Moskau, Kreml

 

„Jetzt also auch Deutschland...“

Zurückgelehnt auf dem reich verzierten Sessel, starrte Präsident Fjodor Kusmin auf die Bilder seines Monitors, der auf dem schweren Holzschreibtisch stand. Seine rechte Hand fuhr gedankenverloren über den schwarzen Kinnbart. Der Blick unter den breiten Augenbrauen war konzentriert und kalt.

Schräg hinter ihm wartete sein Sekretär Danilo Iljin auf eine Reaktion. Der junge Mann mit den breiten Schultern und den kurz geschorenen Haaren konnte seine Nervosität kaum verbergen. Niemand wusste, wie der Präsident in dieser Situation reagierte. Er war schon immer unberechenbar gewesen, doch es hatte noch nie eine vergleichbare Situation gegeben – auf der ganzen Welt nicht.

Langsam erhob sich die hochgewachsene Gestalt von Fjodor Kusmin, strich den Maßanzug glatt und ging betont langsam zu einem der hohen, gardinenverhangenen Fenster. Danilo Iljin beobachtete gespannt, wie sein Präsident die Hände auf dem Rücken verschränkte. Das pockennarbige Gesicht des kräftigen Mannes war angespannt.

„Wie viele sind es jetzt, Danilo?“

„Vier, Herr Präsident – Deutschland, Sambia, China und... wir.“

„Und alle in ländlichen Gebieten?“

Hastig schlug der Sekretär das Dossier auf, an dem er sich bisher festgehalten hatte.

„Jawohl, Herr Präsident. In Deutschland ist es eine Provinz in Niedersachsen, in Sambia nahe der Stadt Solwezi in der Nordwest-Provinz und in China in der Provinz Yunnan. Die nächste, größere Stadt ist Lijiang.“

Fjodor Kusmin holte tief Luft. Er hatte es nicht gern, eine Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Noch weniger aber liebte er es, wenn dieser Kontrollverlust sichtbar wurde. Er konnte natürlich nicht wissen, was in dieser Situation zu tun war, aber das durfte niemand merken.

Mit einer scharfen Bewegung wandte er sich zu seinem Sekretär um.

Die Augen des 65-Jährigen funkelten. Er überragte sogar seinen stämmigen Sekretär noch um einen halben Kopf, war sehnig, durchtrainiert und verfügte über eine einschüchternde Ausstrahlung. Sein breites Kinn stach hervor, die brennenden Augen lagen tief in den Höhlen und sein Mund bildete eine schmale Linie. Das schwarze Haar war dicht und nur mühsam gebändigt. Kinn- und Oberlippenbart verliehen ihm etwas Dämonisches. Er mochte dieses Image und pflegte es. Doch wenn es Fjodor Kusmin passte, brauchte er nur die Mundwinkel etwas auseinander zu ziehen und ein hintersinniges Lächeln erschütterte die unnahbare Fassade. Er liebte es, sein Gegenüber zu verunsichern und mit ihm zu spielen. Erst recht im politischen Geschehen. Verhandlungspartner, egal ob Wirtschaftsgrößen oder Präsidenten, konnten nie sicher sein, was gerade in ihm vorging. Und genau diese Unsicherheit war es, die sich Fjodor Kusmin immer wieder zunutze machte, um seine Überlegenheit zu demonstrieren.

„Woher kommt dieses... Ding, Danilo?“

Iljin schluckte und spürte, wie der Schweiß aus seinen Poren drang.

„Ich weiß es nicht, Herr Präsident.“

„Ein Geschenk der Amerikaner?“

„Möglich...“

„Wieso haben die so etwas nicht bei sich gemeldet?“

„Der Nachrichtendienst ist noch an der Sache dran.“

Und wieder holte Kusmin so tief Luft, als wolle er eine Revolution ausrufen. Dann klatschte er in die Hände und lächelte.

„Na schön, mein Freund. Ich will, dass sie den amerikanischen Präsidenten aus dem Bett klingeln. Und schicken sie Wissenschaftler nach Komi. Ist die Fundstelle gesichert?“

Danilo Iljin nickte eifrig. „Selbstverständlich, Herr Präsident. Niemand kann sich dem Objekt nähern.“

„Dann will ich Proben und eine umfassende Analyse dieses Materials.“

Der Sekretär schluckte wieder. Denn selbst wenn sein Präsident jetzt entspannt wirkte, konnte seine Stimmung in jedem Augenblick wieder kippen.

„Noch ist nicht sicher, ob von dem Objekt nicht vielleicht eine Strahlung ausgeht...“

Kusmin verdrehte die Augen. „Deswegen will ich ja diese Untersuchung. Irgendwer muss schließlich anfangen, oder nicht? Also los, schicken sie die besten dorthin. Wen haben wir noch von unseren Leuten in der Region?“

Wieder bemühte Danilo Iljin den Aktendeckel und zog ein Blatt heraus.

„Hier ist eine Liste der Agenten in und um Syktywkar.“

Kusmin warf einen kurzen Blick auf die vier Namen. „Na schön, schicken sie einen als Beobachter zur Fundstelle. Und jemanden in den Regierungssitz. Ich will nicht, dass unser Stadtoberhaupt meint, die Sache selber in die Hand nehmen zu können. Und erst recht soll er dieses... Ding nicht für eigene Propaganda nutzen.“

Hastig machte sich Iljin Notizen, um ja nichts zu vergessen.

Er räusperte sich, bevor er sich entschloss, die Frage auszusprechen, die ihm schon seit Stunden auf der Zunge lag. „Was ist mit dem Militär? Sollen wir die Raketen startklar machen?“

Kusmin überlegte kurz. Natürlich war das eine der ersten Fragen, die er sich selber gestellt hatte, seit ihm die Entdeckung in der Nähe des Sägewerks gemeldet worden war. Doch er war auch froh gewesen, sie bisher nicht beantworten zu müssen.

„Militärpräsenz ja, aber wir wollen nicht kriegerisch auftreten. Bisher wissen wir nicht, was dort oben los ist. Zeigen wir Stärke und Entschlossenheit. Aber nicht die Hilflosigkeit einer säbelrasselnden Kriegsmaschine.“

Danilo Iljin nickte und war erleichtert. „Es gab noch die Frage nach eventuellen Evakuierungsmaßnahmen...“

Kusmin schüttelte den Kopf. „Das würde nur eine Panik auslösen. Halten sie die Bevölkerung fern. Und vor allem die Schaulustigen. Ansonsten bewahren wir Ruhe und gehen zur Tagesordnung über. Ich will entspannte Wachen und konzentrierte Wissenschaftler. Wir sind Herr der Lage, Danilo. Das ist es, was wir zeigen wollen. Denn das ist wahre Stärke.“

„Selbstverständlich, Herr Präsident.“

Das Telefon unterbrach das Gespräch und die beiden Männer blickten gleichzeitig auf den Apparat. Erst als Kusmin sich demonstrativ abwandte, war es für den Sekretär das Signal, das Gespräch entgegen zu nehmen.

Er bestätigte mit knappen Worten die Informationen, die er bekam und legte wieder auf.

Jetzt sah ihn der Präsident erwartungsvoll an.

„Das war der Nachrichtendienst, Herr Präsident. Es geht um die Amerikaner – sie haben auch... eins.“

Kusmin hob die dichten Augenbrauen.

„Ach ja? Nun, das ändert einiges....“

 

 

USA / Washington DC / Weißes Haus

 

„Wie zur Hölle konnte das passieren?“

Edgar Braden war sichtlich darum bemüht, seinen Ton scharf und verärgert klingen zu lassen, doch dafür war er einfach noch nicht wach genug.

Knapp eine Stunde war es her, dass sein Stabschef Keith Embry ihn aus dem Bett geklingelt hatte. Das Briefing, das er während des Anziehens bekam, war aufgeregt und lückenhaft. UFOs, Militär, Polizei und Katastrophenschutz waren als Schlagworte hängen geblieben. Erst allmählich verschaffte sich der Präsident der Vereinigten Staaten einen Überblick.

Braden hätte gerne auf eine solche Krise verzichtet.

Krieg, Wirtschaftsflauten, Handels-Embargos, Amokläufe und Erdbeben – das waren alles verlässliche Größen, bei deren Bewältigung ein Präsident aus dem reichen Erfahrungsschatz seiner Vorgänger schöpfen konnte. Aber die Landung von Außerirdischen? Dafür gab es keinen Notfallplan.

Edgar Braden stand hinter seinem massiven Schreibtisch im Oval Office und starrte auf die blankpolierte Platte, in der sich sein Gesicht spiegelte.

Kein Gesicht, das viel Stärke oder Entschlossenheit signalisierte. Für einen Republikanischen Präsidenten hatte er verhältnismäßig weiche Züge und traurige Augen. Das dunkelblonde Haar war dünn und brav zur Seite gescheitelt. Die Schultern hingen ein wenig herab. Ein Priester-Talar hätte ihm besser gestanden.

Doch er war nun mal Präsident und sich als solcher bewusst, dass viele Entscheidungsträger in Washington ihn als Marionette ansahen. Als Erfüllungsgehilfe ihrer eigenen, politischen Ambitionen. Es war eine Kosten-Nutzen-Rechnung ihn ins Weiße Haus zu bringen. Und Edgar Braden hatte zu ihren Plänen genickt, um endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters, des großen Gouverneurs, heraus zu treten.

Braden besaß das Talent, zuzuhören und sich Argumentationen zu öffnen. Darum fiel es ihm leicht, die Interessen anderer zu vertreten und sich vor seinem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Er war überzeugt, keine schlechten Entscheidungen zu treffen. Denn nur weil Energie-Konzerne und Rüstungsunternehmen Vorteile hatten, musste das nicht schlecht für das Land sein. Am Ende würde es von einer florierenden Wirtschaft sogar profitieren, ob nun auf dem Energie-Sektor, in der IT-Branche oder der Pharmakologie. Edgar Braden fand immer einen Win-Win-Faktor in den Initiativen, die er unterstützte.

Doch hierfür gab es kein Handbuch und keine Empfehlung – noch nicht...

Er sah zu seinem Stabschef auf, der mit unbewegter Miene am anderen Ende des Raumes stand. Keith Embrys Blick war kühl. Die tiefliegenden, großen Augen gaben kein Gefühl preis. Wie eine Säule stand der hochgewachsene Mann mit dem glatten, dunkelblonden Haar und den schmalen Lippen hinter der Tür und wartete. Die Frage des Präsidenten hatte er unter „rhetorisch“ abgelegt.

Erst als Edgar Braden wütend mit der Faust auf die Schreibtischplatte schlug, flackerte Embrys Blick und er hob fragend eine Augenbraue.

„Wieso haben wir nichts davon bemerkt, verdammte Scheiße?“

Der Stabschef räusperte sich.

„Nun, ich nehme an, dass diese... Lebensformen über eine Technologie verfügen, die es unseren Radargeräten unmöglich macht, sie zu erfassen. Aber mit Verlaub, Mr. President, das sollte auch nicht die drängendste Frage sein.“

Edgar Braden wischte sich über die verschwitzte Stirn. Es war vier Uhr morgens, er war noch nicht in der Lage, sich den wirklich dringenden Fragen zu stellen – oder sie auch nur zu formulieren. Im Moment beherrschte ihn nur die Angst. Er hörte seinen überlauten Herzschlag und das Blut in seinen Adern rauschen. Der 68-Jährige wusste, dass das Herz seine Schwachstelle war. Aufregung war mehr als schädlich.

Er holte tief Luft und massierte sich die Brust.

„Sie haben recht, Keith. Also, wo stehen wir?“

Embry aktivierte sein Tablet.

„Das Objekt wurde gegen 23.30 Uhr bei der örtlichen Polizei in Fairfield, Nebraska im County Clay gemeldet. Eine Jugendliche namens Skylar Rhodes verständigte die Polizei, die es zunächst für einen Scherz hielt. Als das Mädchen erwähnte, dass ihre Freundin verschwunden sei, fuhren die Beamten hin und bestätigten die Sichtung. Sie riefen zunächst in der Zentrale in Lincoln an, die wiederum das Militär in Marsch setzte. CIA und FBI wurden ebenfalls verständigt. Das Gelände ist weiträumig abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Derzeit wissen wir noch nichts über das Objekt. Weder über die Beschaffenheit, noch über mögliche Gefahren. Wir wissen nicht, ob jemand drin ist oder wo das Mädchen steckt. Wir können nicht mal sagen, ob es gefährlich ist. Möglich, dass es Strahlungen gibt. Die Wissenschaftler sind unterwegs.“

Braden fuhr sich durch das Haar. „Das ist ein verdammtes Desaster. Was ist mit der Presse?“

Keith Embry schüttelte den Kopf. „Bisher noch nichts. Die weiträumige Absperrung ist als Unfallort deklariert. Solange es dunkel ist, fällt nichts auf. Aber ab dem Vormittag wird mit Sicherheit ein Chaos losbrechen.“

Braden schluckte und fuchtelte mit dem Finger vor Embry herum. „Versuchen sie alles, um das so lange wie möglich hinauszuzögern. Werfen sie von mir aus eine verdammte Plane über dieses UFO, schirmen sie es ab. Wir müssen erst wissen, was das ist.“

Ein Gedanke kam ihm und seine Augen weiteten sich.

„Besteht die Chance, dass es sich um etwas... Natürliches handelt? Eine Rakete, eine Drohne, ein neuartiges Flugzeug?“

Ein verstohlenes Grinsen grub sich in Embrys Gesicht. „Ein Wetterballon?“

Braden konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Das mochte er an seinem Stabschef – er war stoisch bis zuletzt. Aber wenn er sich so etwas wie Humor gönnte, dann kam der Schuss auch aus der Hüfte.

„Meinetwegen auch das. Und?“

„Ich fürchte nicht, Sir.“

„Und die Russen?“

„Unwahrscheinlich. Wenn die so etwas hätten, wüssten wir davon.“

„Kann es sich um die Installation eines verrückten Künstlers handeln?“

„Auch unwahrscheinlich. Aber wir prüfen natürlich alle Optionen.“

Hektisches Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Die Männer tauschten einen Blick, dann öffnete Embry.

Auf der anderen Seite stand ein junger Mann, Mitte Zwanzig. Das wellige dunkle Haar war etwas unordentlich, genau wie der hastig gebundene Krawattenknoten. Er war ein ganzes Stück kleiner als Keith Embry, hatte ein jungenhaftes, freundliches, rundes Gesicht mit vollen Lippen und großen, dunklen Augen. Auf seinen Wangen glänzten nervöse, rote Flecken und er sah gehetzt aus.

„Bitte verzeihen sie die Störung, Mr. Embry.“

Dann sah er Braden, schluckte und deutete eine Verbeugung an. „Mr. President?“

„Wer sind sie, Junge?“

Embry antwortete für ihn. „Das ist Jackson Carlyle aus der Presseabteilung. Ich brauchte jemanden, der die Medien im Auge behält, falls doch etwas durchsickert. Also habe ich ihn ins Boot geholt.“

„Einen Praktikanten?“

„Ich bin Volontär, Sir“, erklärte Carlyle demütig und schlug die Augen nieder.

Keith Embry hob die Schultern. „Ich konnte Arliss nicht erreichen. Carlyle war der erste auf der weiteren Liste. Die ist alphabetisch geordnet.“

Edgar Braden schüttelte den Kopf und winkte ab. „Ist ja auch egal. Was haben sie für uns, Mr. Carlyle?“

Der junge Mann schluckte, seine Hände zitterten.

„Das Telefon steht nicht mehr still, Mr. President. Es gab Anrufe aus dem Verteidigungs- und Heimatschutzministerium. Der Gouverneur von Nebraska will umgehend mit ihnen sprechen.“

„Woher wissen die alle davon?“

Jackson Carlyle räusperte sich. „Das ist die eigentliche Nachricht, Sir: Ich fürchte, wir sind nicht allein mit diesem... Problem. In den letzten Stunden gab es Meldungen aus Deutschland, Russland, Afrika und China.“

Bradens Kinnlade klappte herunter und er wurde blass.

„Die gleichen Erscheinungen?“

Carlyle nickte heftig. „Die Objekte scheinen identisch zu sein.“

Er reichte ihm einen Ausdruck mit den geographischen Daten und dem Verlauf der Entdeckungen, soweit er sie im Internet hatte recherchieren können.

„In den meisten anderen Fundorten ist es bereits Mittag. Die Sicherungsmaßnahmen und Abschirmungen laufen auf Hochtouren und das Internet spielt verrückt.“

Edgar Braden presste die Kiefer zusammen. „Und wir sind mal wieder die Letzten. Ich fürchte, dann können wir das mit der Plane vergessen.“

Er sah den Presse-Volontär an. „Gehen sie wieder ans Telefon und rufen sie das Kabinett zusammen. Meeting um Sechshundert. Wimmeln sie den Gouverneur ab. Sagen sie ihm, ich werde ihn dazu schalten, wenn die anderen hier sind. Und behalten sie das verdammte Internet im Auge.“

Jackson Carlyle nickte und wollte schon durch die Tür, als Braden noch einmal nach ihm rief.

„Stellen sie alle Informationen zusammen, die sie haben und filtern sie jene heraus, die der Öffentlichkeit nicht schaden können und dazu dienen, eine Panik zu verhindern. Das Ganze mischen sie mit Formulierungen von der Stärke, der Entschlossenheit und der Gastfreundschaft des Amerikanischen Volkes.“

Jackson Carlyle sah unsicher zwischen den Männern hin und her.

„Darf ich fragen, wofür, Mr. President?“

„Natürlich. Pressekonferenz um neun. Und SIE werden sie leiten, junger Mann.“

Carlyle wurde rot, das Zittern nahm zu. „Ich? Aber Mr. President... Das ist doch Sache von Mr. Arliss oder nicht?“

„Der hat es vorgezogen zu schlafen. Sie waren an Bord, als es drauf ankam. Nutzen sie die Chance, mein Junge. Sie können der Mann der Stunde werden.“

Jackson Carlyle verbeugte sich dienstbeflissen und zog sich zurück.

Der Präsident sah zu seinem Stabschef. „Der schafft das doch, oder?“

Keith Embry nickte bedächtig. „Ich denke schon. Und wenn nicht, ist er wenigstens entbehrlich. Was wollen sie als nächstes tun, Sir?“

Edgar Braden ging zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf den schweren Sessel fallen. „Holen sie mir die anderen Regierungs-Chefs ans Telefon. Mal sehen, ob die was wissen, was uns weiterhelfen kann.“

„Einen besonderen Wunsch, was die Reihenfolge angeht?“

Edgar Braden seufzte und verzog schmerzhaft den Mund. „Fangen wir mit dem Schlimmsten an. Verbinden Sie mich mit Kusmin.“

 

 

Deutschland / Berlin-Tiergarten / Bundeskanzleramt

 

Der klare Blick der grün-braunen Augen folgte den Ereignissen auf dem Monitor, der in der Mitte des langen Konferenztisches im vierten Stock stand.

Das Gesicht war konzentriert, aber entspannt und wie immer schien ein leichtes Lächeln auf den schmalen, geschwungenen Lippen zu liegen. Wenn Henriette Hartkamp nervös oder beunruhigt war, dann ließ sie es die anwesenden Männer im Raum nicht wissen. Und es gab ja auch noch gar keinen Grund nervös oder beunruhigt zu sein. Noch war nichts passiert.

Außer, dass im Landkreis Harburg in Niedersachsen ein gigantisches Objekt auf einem Acker stand, das vermutlich ein außerirdisches Flugobjekt war.

Davon abgesehen ging die Welt ihren gewohnten Gang.

In den letzten zwei Jahren ihrer Kanzlerschaft hatte sich Henriette Hartkamp diese hilfreiche Sichtweise zu eigen gemacht. Während andere bei Drohungen aus der Wirtschaft oder von politischen Gegnern in Panik verfielen, fragte sie sich, was sich dadurch faktisch änderte.

Meistens war es nichts.

Und meistens blieb es auch dabei.

Dadurch bewahrte sie einen kühlen Kopf und traf Entscheidungen aufgrund von Tatsachen, nicht aus Verzweiflung.

Mit beiden Händen griff sie in das schulterlange, dichte, dunkelbraune Haar und band es zu einem Zopf zusammen. Dann drehte sie sich um und lächelte. Ihr Blick war klar und durchdringend, ohne kalt zu sein. Sie besaß genügend Respekt, um sich Wärme und Menschlichkeit erlauben zu können. Respekt, den sie sich hart erkämpft hatte.

Den Wahlsieg hatte ihr damals niemand zugetraut. Da sich jedoch kein anderer Kandidat finden ließ, wurde schließlich die Sozialministerin von Schleswig-Holstein auf die Plakate gehoben. Nicht gerade eine Kanzlerschmiede.

Doch Henriette Hartkamp hatte sich einen Namen gemacht. Und sie war attraktiv, was im Wahlkampf entscheiden war. Weiblich, mit dichtem, welligem Haar, zarten Zügen und einem schmalen Kinn. 46 war sie damals gewesen und zeitlos schön. Daran hatte sich nichts geändert.

Ihr Regierungsstil war ruhig und überlegt. Und sie wagte auch unbequeme Entscheidungen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr in den kommenden Wochen einige davon bevorstünden. Doch im Moment gab es nichts zu tun – außer abzuwarten.

Sie ließ sich in einen der bequemen Drehsessel im Sitzungsraum des Krisenstabs sinken und sah in die ausschließlich männliche Runde, die aus Verteidigungs- und Innenminister, sowie Pressesprechern, Mitgliedern des Krisenstabs und dem Chef des Bundeskanzleramtes bestand.

„Nun, meine Herren? Wo stehen wir jetzt?“

Da niemand sonst Anstalten machte, sich zu Wort zu melden, räusperte sich Pressesprecher Gideon Spengler, ein schlaksiger Mann Anfang 30 mit dunkelblonden Haaren und großen Augen.

„Das Gelände auf dem betroffenen Feld ist durch Polizei und Bundeswehr gesichert. Wir haben die Schaulustigen weitgehend zurückgedrängt, aber ganz lässt sich das Problem nicht in den Griff bekommen. Die klettern auf Bäume und Zäune und belästigen natürlich auch die Anwohner.

Henriette Hartkamp nickte. „Und gibt es schon eine Form von... Kontakt?“

Spengler schüttelte den Kopf. „Bisher nicht, Frau Bundeskanzlerin. Aber erste wissenschaftliche Untersuchungen haben auch ergeben, dass keinerlei Strahlung von dem Objekt ausgeht. Jedenfalls keine, die uns bekannt ist.“

„Also sind wir sicher?“

„Für den Moment scheint es so.“

Mit einem Räuspern schaltete sich Innenminister Harald Blöhme ein, ein rundlicher Mann Ende 50 mit dünnem Haarkranz.

„Verzeihen sie, Frau Bundeskanzlerin, aber ich würde noch keine vorschnelle Entwarnung geben.“

„Hatte ich auch nicht vor“, antwortete die Kanzlerin mit ruhiger melodiöser Stimme.

„Ich wollte auch nur anmerken, dass es keine vergleichbare Situation in der gesamten Menschheitsgeschichte gibt. Darum können wir nicht vorsichtig genug sein.“

Henriette Hartkamp signalisierte mit knappem Nicken, dass sie den Einwand zur Kenntnis genommen hatte und widmete sich wieder dem Pressesprecher.

„Was ist mit dem Mann, der verschwunden sein soll? Ein Landwirt aus der Gegend, richtig?“

Nach kurzem Blättern hatte Spengler die entsprechenden Notizen.

„Arne Fröhlich. Hat heute sehr früh das Haus verlassen und soll seine Frau noch einmal angerufen haben. Als sie die Nachricht auf dem AB abgehört hat, ging sie raus und hat das Objekt gesehen. Aber von ihrem Mann keine Spur gefunden. Sein Wagen stand noch am Feld. Sie hat dann die Polizei verständigt.“

„Und ist der Mann mittlerweile aufgetaucht?“

„Leider nein. Die Suche dauert noch an.“

Henriette Hartkamps Blick verfinsterte sich. „Das ist nicht gut. Man wird die beiden Dinge in Zusammenhang bringen. Und dann besteht die Gefahr einer Panik.“

„Wir sind darauf vorbereitet“, erklärte Verteidigungsminister Eberhard Stolte, ein drahtiger Mann mit zahlreichen Falten im Gesicht und runder Brille. „Mehrere Einheiten der Bundeswehr und des Katastrophenschutzes halten sich im Landkreis in Bereitschaft. Die Bundespolizei ist ebenfalls vor Ort. Wir haben das Dorf unter Ausnahmezustand gestellt. Nur wer nachweisen kann, dass er dort wohnt oder Angehörige hat, darf hinein.“

Die Kanzlerin nickte nachdenklich. „Wie sieht es mit den anderen Vorkommnissen aus? Sind dort auch Menschen verschwunden?“

„Es gibt erste Medienberichte aus den USA, dort wird eine Schülerin in der Nähe des Fundortes vermisst. In Meldungen aus Russland heißt es vage, dass der Mitarbeiter eines Sägewerks nicht zur Schicht erschienen ist, wohl aber sein Fahrrad gefunden wurde. Offizielle Stellungnahmen gibt es nicht dazu. In Sambia soll in der Nordwest-Provinz ein Arzt verschwunden sein, aber auch von dieser Seite war nichts genaues zu erfahren. Und China mauert komplett.“

„Sind weitere... Fundorte dazu gekommen?“

Spengler schüttelte den Kopf. „Nein. Fünf Länder, fünf UFOs.“

„Hören sie auf, die Dinger so zu nennen“, fuhr der Innenminister den Pressesprecher an.

Henriette Hartkamp hob die Schultern. „Wieso nicht? Haben sie einen besseren Begriff?“

„Ich dachte ja nur...“

Die Kanzlerin erhob sich mit einer raschen Bewegung. „Na schön. Wir müssen etwas tun. Irgendwas. Bevor es jemand anders tut. Haben sie was aus Hannover gehört?“

Der Kanzleramtschef holte tief Luft.

„Ich habe natürlich mit dem Ministerpräsidenten gesprochen. Er wollte bereits eine Pressekonferenz abhalten, was ich untersagt habe.“

Die Kanzlerin seufzte. „Na Gott sei Dank. Das ist nun wirklich keine Länderangelegenheit.“

„Das habe ich ihm auch klar gemacht. Natürlich möchte er nicht seine Polizei oder andere Einsatzkräfte gefährden. Die Sicherung des Fundortes überlässt Hannover sehr gerne uns. Aber ansonsten möchte die Landesregierung ungern auf die PR verzichten.“

„Ja, das kann ich mir denken. Also müssen wir den nächsten Zug machen. Haben wir Computer-Experten vor Ort?“

„Selbstverständlich“, antwortete Gideon Spengler. „Und sie versuchen seit Stunden, Kontakt aufzunehmen. Aber wenn es sich tatsächlich um eine außerirdische Intelligenz handelt, ist es fraglich, ob sie uns versteht.“

Die Kanzlerin lächelte. „Wenn es sich um eine außerirdische Intelligenz handelt, die in der Lage ist, hierher zu reisen, dann wird sie es auch sicher schaffen unsere primitive Sprache und Technik zu entschlüsseln, meinen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.07.2023
ISBN: 978-3-7554-4751-1

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