Warum ich wegging:
Sastasch war tot.
Miva war tot.
Ivanka war tot.
Novak war tot.
Zsuzsa war tot
Alle waren tot.
Das war der Grund.
Schlicht und ergreifend das. Und ich war an diesem Grund schuld.
Alles begann mit dem Jungen. Dem Jungen vom Nachbardorf. Dem Jungen, der würgend vor unserem Haus hockte. Dem Jungen, den ich mitleidig in unser Haus lies. Dem Jungen, der zu geschwächt war, um auch nur zwei Stück Brot zu Essen. Er biss einmal ab, dann spuckte er es sofort wieder aus. Es war gutes Roggenbrot von Dimitrie, unserem Bäcker, also hob meine Schwester es auf und aß den Rest. Ivanka. Ivanka hob das Brot auf und steckte es sich nichtsahnend in ihren kleinen Mund. Und damit begann all das Schlimme. Sie teilte sich das Brot mit Novak, meinem Bruder. Kurz darauf war beiden übel. Ihre Bäuche schmerzten und blähten sich auf. Sie bekamen Fieber und wurden genauso schwach wie der Junge. Apathisch sagt man dazu, wie ich inzwischen gelernt habe. Sie waren matt, die Augen leer und verdreht vor Schmerzen. Der Innenraum ihrer Münder verschrumpelte und starb ab, sodass sie in ihren wenigen wachen Momenten nicht einmal mehr schreien konnten. Mit dem Jungen war es schon zu Ende gegangen, er war in derselben Weise gestorben.
Meine Eltern wollten meine Geschwister nicht aufgeben. Sie bestellten Kräuterweiblein, Mooslinge, Flusskrähen, aber niemand kam jemals zu uns. Zu groß war die Angst, selbst infiziert zu werden.
Meine Mutter weinte den ganzen Tag stille Tränen, die auf die heiße Haut meiner Geschwister fielen. Sie bereitete Tee, betete ununterbrochen zu Jekatrusch, Avksentyrr, Zslivetta und wie sie noch alle hießen. Sie küsste die rissigen Lippen meiner Schwester und die Stirn meines Bruders. Daraufhin wurde sie auch krank.
Mein Vater steckte sich als Letztes an. Sie starben. Mehr muss ich nicht sagen.
Zum Schluss waren nur noch ich und meine ältere Schwester Zsuzsa übrig. Nachdem alle gestorben waren flohen wir Hals über Kopf aus unserem Dorf. Zu groß war unsere Angst, als Hexen angeprangert zu werden. Doch die Krankheit hatte sich scheinbar auch in Zsuzsa eingenistet. Zwei Tage nach Beginn unserer überstürzten Flucht brach sie zusammen. Einfach so. Sie erbrach sich über einem kleinen Stückchen mit Gänseblümchen bewachsener Wiese. „Geh“, keuchte sie. „Stirb nicht auch noch!“
Ich ging nicht. Wie hätte ich es auch tun können? Sie war meine geliebte Schwester. Als sie zu zittern begann deckte ich sie mit Laub, Moos und Gras zu. Ich riss an den grünen Halmen bis mir die Finger bluteten. Bis jeder einzelne zerschnitten und verletzt war. Ich wollte ihr sagen, dass alles gut werden würde, aber es stimmte nicht. Ich wollte sie streicheln, traute es mich aber nicht, solange meine Finger offen waren. Alle anderen hatten sich angesteckt, nur weil sie einen der Kranken berührt hatten. Und sie hatten keine Verletzungen gehabt.
Ich weinte, als sie mich anflehte, zu gehen. Weinte, bis ich ebenso stimmlos wie sie geworden war. Als es Abend wurde fachte ich ein Feuer an und erhitzte Wasser aus einem nahen Fluss. Ich wusch ihr damit die Haare, denn laut dem Glauben meiner Mutter saß jede Krankheit in den Haaren. Ich grub einen Klumpen Lehm aus dem Bachufer und trug ihn auf ihre Arme auf, denn nach dem Glauben meines Vaters half dies gegen alles Übel der Welt. Schlussendlich warf ich mich auf den Boden, schlug auf die Gänseblümchen ein und schrie, denn nach den Erzählungen meiner Großmutter entwich einem die Trauer durch den Mund, wenn man nur laut genug brüllte. Dann hämmerte ich mit meiner Stirn gegen den Boden bis ich vor Schmerz nichts mehr sehen konnte. Irgendwann schlief ich wohl ein.
Es war kalt, als ich aufwachte. Mein erster Gedanke galt Zsuzsa. Ich drehte mich um, aber sie war nicht mehr da. Verschreckt sprang ich auf, meine Augen blitzten hin und her und hin und her. Erst nach einiger Zeit konnte ich mich soweit zusammenreißen, dass ich Spuren fand. Von Zsuzsas Schlafplatz führten plattgedrückte Grashalme Richtung Fluss. Sie schien mit letzter Kraft gekrochen zu sein.
So schnell ich konnte, rannte ich zum Flussufer hinunter. Dort endete die seltsame Grasspur. Direkt am Wasser. Mein Gehirn wollte nicht wahrhaben, was das bedeutete. Nein, das durfte nicht sein! Mein Kopf schnellte nach links, den Fluss hinunter. Dort! Ich sah etwas Buntes am Ufer liegen.
Ich hatte vorgehabt, zu ihr zu gehen. Sie zu begraben. Aber ich konnte nicht. Keuchend warf ich mich auf dem Absatz herum und rannte davon. Mein Gesicht und meine Haare waren Klitschnass von meinen Tränen. Ich rannte, rannte, rannte. In meinem Kopf schrie ich die ganze Zeit den Namen meiner Schwester.
Zsuzsa! Zsuzsa! Zsuzsa! ZSUZSA!
Hätte ich sie doch aus dem Fluss holen sollen?
ZSUZSA!
Nein, ich hätte es nicht gekonnt. Ich wollte und konnte sie nicht noch einmal ansehen. Schon gar nicht mit blauen Lippen und nassen Haaren.
Zsuzsa!
Ich rannte nun wieder die kleine Feldstraße entlang. Rannte, rannte, rannte. Bis ich nicht mehr konnte. Dann fiel ich hin, schürfte mir meine Knie auf und blieb verzweifelt liegen.
Während der Straßenstaub sich überall an meinem Körper festsetzte kamen meine Gendanken langsam wieder zur Ruhe.
Ich weinte immer noch.
Und hörte nicht, wie sich eine Kutsche näherte.
Erst, als eins der Pferde mit dem Huf auf meinen Rocksaum trat, bemerkte ich sie. Ich wollte mich aufrappeln, panisch fliehen – aber dafür war es zu spät. Einfach liegenbleiben. Tu nichts, vielleicht übersehen sie dich. Aber diese Vorstellung war albern und ich wusste es. Das Geräusch des zuschlagenden Kutschenverschlags verdeutlichte es noch.
Schritte näherten sich mir. Schwere Schritte. Schritte eines älteren, dicklichen Herren, der darauf bedacht ist, seine Stiefelspitzen nicht dreckig zu machen. Wenn man sich konzentriert, hört man so etwas. Schritte eines hochgestellten, adligen Dummkopfes.
Warum rennst du nicht weg? Renn, bevor es zu spät ist!
Aber was sollte er mir schon tun? Mein Körper stand vor Schmerz in Flammen und in meinem Geist existierten nur noch die grauenhaft verzerrten Gesichter meiner Familie. Ich blieb also liegen, ohne Regung, mit Trauer im Herzen.
Ein Stiefel drehte mich grob um. „Wen haben wir denn da?“ Seine Stimme verursachte mir Gänsehaut. Es war ein Wispern, wie der Wind in einer großen Eiche, ein Schnurren, wie ein alter, fetter Kater und ein Kratzen, wie eine Scheuerbürste auf Tongeschirr.
Langsam öffnete ich die Augen.
„Nun, schönes Mädchen, wer seit ihr? Mir scheint, ein Bauernmädchen, aber ich bin mir nicht sicher.“
Schluchzend holte ich Luft. Er war dick, ganz wie ich vermutet hatte. Und alt. Ich schätzte ihn auf ende fünfzig, möglicherweise aber auch jünger. Sein Gesicht ähnelte einer unreifen Tomate, nur dass eine Tomate nicht so viele Doppelkinne hatte.
„Sprecht! Wie seit ihr in diese missliche Lage geraten?“
Ich unterdrückte einen weiteren Schluchzer und begann zu sprechen. „Meine – meine Familie ist tot. Sie sind an einer seltsamen – seltsamen Krankheit gestorben, Mylord.“ Ich wusste selber, wie armselig und kindlich sich meine Wortwahl anhörte. Aber vermutlich sah er auch ein kleines hilfloses Mädchen in mir. Ich lag in zerrissenen Kleidern und mit dreckigem Gesicht mitten auf der Straße. Außerdem war ich für meine fünfzehn Jahre sehr klein und zierlich. Es war kein Wunder, dass er mich wahrscheinlich für ein Kind hielt.
„Das ist eine schlimme Geschichte.“ Seine Stimme klang nicht so, als würde er es wirklich bedauern. „Darf ich euren Namen erfahren?“
Seine Stimme verursachte einen Hauch von Argwohn, allerdings war ich zu traurig, um darauf zu hören.
„Mavinka, mein Herr.“ Ein Schluchzer bahnte sich den Weg aus meinem Mund. „Mavinka, Tochter von Miva.“
„Nun, Kind“, er beugte sich zu mir hinunter, „und wie alt seit ihr?“
„Fünfzehn, mein Herr.“ Langsam kam mir diese Fragerei komisch vor.
„Fünfzehn? Ich hätte euch nicht für älter als zwölf gehalten!“ Seine Doppelkinne hüpften schwabbelig bei seinen Worten. „Aber wie denn auch sei, wollt ihr ein Stück in meiner Kutsche mitreisen? Ich bin mir sicher, dass ein so dürres Ding wie ihr ein wenig Schutz gut gebrauchen könnte.“
Unter anderen Umständen hätte ich niemals zugesagt. Niemals. Aber ich war verzweifelt, traurig und am Ende meiner Kräfte. Also richtete ich mich schwankend auf und stieg in die protzige Kutsche. Zu protzig, für meinen Geschmack, aber etwas anderes war gerade nicht möglich.
„Nun, gefällt sie euch?“ Er schnaufte die drei Stufen hinauf.
Was sollte ich sagen? Dass die roten Sitzbänke mit den gedrechselten Lehnen viel zu prunkvoll wirkten? Dass mich der edelsteingeflieste Boden anekelte, weil man damit mehrere Dörfer ein ganzes Jahr lang ernähren könnte?
„Es sieht sehr schön aus, mein Herr“, rang ich mir schließlich über die Lippen. „Aber bitte sprecht mich nicht mit „ihr“ und „euch“ an, ich bin viel tiefer gestellt als ihr.“
Er lachte. Sein Lachen klang noch seltsamer als seine Stimme. „Nun, womit soll ich dich dann ansprechen?“
„Mavinka. Mavinka genügt vollkommen, mein Herr.“ Demütig senkte ich den Kopf. „Was ist euer Name?“ Ich wusste, dass diese Frage unhöflich war, aber ich musste sie einfach stellen. Glücklicherweise lachte er. „Graf Korton.“ Er streckte seinen roten Kopf aus dem Fenster und schnalzte dreimal mit der Zunge. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde setzten sich in Bewegung.
Graf Korton verriegelte die Tür und drehte sich mit einem nun gar nicht mehr netten Lächeln zu mir um.
Sein fetter Bauch wurde von einer Samtjacke nur mühsam an seinem Platz gehalten und schwabbelte bei jedem Schritt Richtung Sitzbank. Mit einem Ächzen ließ er sich unanständig dich neben mich plumpsen. Seine fette Hand legte sich schwer auf meine Schulter.
„Nun Mavinka, möchtet ihr etwas zu essen oder zu trinken haben?“
„N..n..nein“, stotterte ich, „Nein, mein Herr.“
„Kein kleines Gläschen Wein? Ich hätte auch Apfelmost anzubieten.“
Zsuzsa! Sie hat so gerne Apfelmost getrunken! Tränen setzten sich in meinen Augenwinkeln fest, blieben hartnäckig sitzen, so oft ich auch blinzelte.
„Nein mein Herr“, würgte ich leise hervor, „Ich möchte nichts.“ Es fühlte sich an, als ob sich ein riesiger, schwarzer Strudel in meinem Inneren eingenistet hätte, der versuchte, mich in die Finsternis zu ziehen. Aber ich durfte einfach nicht an… sie denken. Es tat zu sehr weh.
Der Graf beugte sich noch weiter zu mir herüber. Sein Atem roch nach Mundwasser, Fisch und faulen Zähnen. „Sicher, Mavinka? Nicht ein kleines Schlückchen?“ Langsam aber sicher wurde er mir vollkommen unsympathisch und unangenehm.
„Nein“, wiederholte ich, diesmal gefasster. „Ich weiß nicht, warum ihr so sehr darauf besteht, dass ich trinke, aber nein.“
„Nun gut.“ Er lächelte, aber es erreichte nicht seine Augen. Er murmelte etwas, aber ich konnte nicht verstehen, was genau es war.
Er rückte noch dichter an mich heran, sodass unsere Knie sich fast berühren. Erschrocken zog ich mich weiter zurück. Doch er kam schneller hinterher, als man es seiner Leibesfülle zugetraut hätte. Verzweifelt lehnte ich mich an die Holzverkleidung und schloss die Augen.
Bis ich einen Moment später etwas spürte.
Finger. Tastende Finger. Tastende, fette Finger auf meinem Oberschenkel. Erschrocken wollte ich aufspringen, doch der Graf war schneller. Seine andere Hand krallte sich in meine Schulter, hielt mich auf dem Sitz, während die andere langsam über meinen Oberschenkel kroch.
NEIN! Er darf das nicht! Wehr dich! Mavinka, wehr dich!
Aber die Finger krochen weiter. Und ich war erstarrt, konnte nur meine Finger in die roten Polster krallen, sonst nichts.
„Na, meine Hübsche, wie gefällt euch das?“ Die Stimme des Grafen riss mich aus meiner Erstarrung.
„Hört auf!“, schrie ich zittrig, „Lasst mich in Ruhe!“
„Na na, meine kleine, nicht so laut. Hier hört dich eh keiner schreien.“ Seine Finger wanderten weiter, nun in Richtung Rocksaum.
„Nein! Lasst mich in Ruhe!“, spie ich ihm voller Verzweiflung entgegen.
Seine Doppelkinne wackelten belustigt. „Wieso sollte ich? Der Spaß hat doch gerade erst begonnen!“ Und damit schob er seine fetten Finger unter meinen Rocksaum. Tastend krabbelnd meinen Oberschenkel entlang.
NEIIIIIIN! Brüllt es in meinem Kopf, ER DARF DAS NICHT! NIEMAND DARF DAS! Verzweifelt wand ich mich in unter seinem Griff. Es nützte nichts. Nun gut, jetzt war mir alles egal. Mit einem Aufschrei grub ich meine Zähne in seinen schwabbeligen Unterarm. Erschrocken ließ er meinen Oberkörper los. Diesen Moment nutzte ich. Meine abgebrochenen und rissigen Fingernägel kratzten über sein Gesicht, während meine Füße seine Schienbeine bearbeiteten.
Er zog seine Hand unter meinem Rock hervor. Nie war ich erleichterter gewesen. Ich schnellte hoch und sprang zur Tür. Sie ging nicht auf. Das hämische Gelächter des Grafen klingelte in meinen Ohren. Verzweifelt riss ich an der lackierten Türklinke.
„Glaubst du dummes Kind etwa, ich würde meine Tür nur von innen verriegeln lassen, wenn ich mit einer Dame unterwegs bin?“ Mir wurde schrecklich kalt.
Langsam drehte ich mich auf meinen nackten Füßen um. Mordlust in den Fingern – angesichts seiner höhnischen Miene. Ich griff nach einem silbernen Metallkrug, der unweit der Sitzbänke auf einem Beistelltischchen stand. Verzweifelt ging ich auf ihn los. Nun stand Angst im Gesichte des Grafen.
Ich schlug ihm die harte Metallkante des Krugs auf den breiten Kopf. Immer und immer wieder. Überhörte seine Schreie. Ich schlug und schlug und schlug und schlug. Erst als er in einer Blutlache auf dem Boden lag hörte ich auf, entsetzt über meine eigene Tat. Panik lähmte mich. Niemand durfte es erfahren. Lebte er überhaupt noch?! Ich stürmte abermals auf die Kutschentür zu und rüttelte daran. Sie flog auf – und ich aus der Kutsche. Ich versuchte mich abzufangen, vergeblich. Das Schwein hat geblufft. Es gab keinen Außenriegel!, dachte ich, als mein Kopf auf den festgefahrenen Sand traf.
Wo bin ich? Wer bin ich? Mein Kopf tat weh. Mein Rücken auch. Schlagartig kehrten die Erinnerungen zurück. Ich wollte aufstehen, wegrennen, mich im Wald verstecken – so tief, dass mich keiner finden und bestrafen konnte. Doch eine Hand hielt mich ruhig zurück.
„ich glaube, sie kommt zu sich!“ War das etwa eine Mädchenstimme? Wo war ich? Langsam schlug ich die Augen auf. Eine helle, geflieste Decke leuchtete mir entgegen. Die Fliesen waren so kunstvoll bemalt und verziert, dass ich den Blick kaum abwenden konnte. Da war eine grüne, riesige Schlage die nach einem safrangelben Vogel mit blutroten Flügeln schnappte. Jede Schuppe der Schlange, einfach jedes Detail an dieser Szene, war lebensecht und detailliert auf den hellen Ton gepinselt worden. Direkt daneben stritten sich zwei Füchse in hellem Rostrot um eine bleigraue Gans. Und direkt daneben - „Dr. Alisii, sie ist wach!“, rief die Mädchenstimme neben meinem Ohr. Ich drehte mich hastig um. Das erste, was ich sah, war ein ausladendes, grünes Kleid. Dann sah ich eine ganze Menge dicker, schwarzer Haare, die fast in mein Gesicht hingen. Und dann ihr Gesicht. Große, Haselnussbraune Augen, geschwungene Augenbrauen, porzelanweiße Haut und ein unnatürlich roter Mund. Sie wirkte wie eine Edeldame, war bei genauerer Betrachtung aber scheinbar kaum älter als ich. „Ja, Dr. Alissi, sie ist wirklich wach!“ Nun schob sich eine große, dünne Dame in mein Blickfeld.
„Das ist sie durchaus.“ Mit flinken Fingern steckte die Frau ihre tintenschwarzen Haare hoch. „Wie fühlst du dich?“, wandte sie sich dann forsch an mich.
„Ehrlich gesagt, gar nicht gut. Wo bin ich und was ist passiert?“
Das hübsche Mädchen antwortete aufgeregt. „Mir scheint, ihr seid überfallen und ausgeraubt worden! Seid ihr eine Edeldame? Erinnert ihr euch?“
Und ob ich mich erinnerte. Aber ich musste ihnen meine genauen Erinnerungen ja wohl nicht auf die Nase binden…
„Oh ja, ich glaube ich erinnere mich!“, ich riss die Augen auf. „Da – da waren Männer! Sie haben mich aus unserer Kutsche gezerrt!“
„Oh du Arme!“, das Mädchen wandte sich sorgenvoll an mich, „Was geschah mit deinen Eltern?“
„Sie“, ich stockte, „sie wurden von einer Seuche dahingerafft.“ Das war nichtmal gelogen und schauspielern musste ich für die Tränen in meinen Augen auch nicht. „Ich – ich sollte fortgeschafft werden, fort, aus unserem großen, schönen Haus, fort von der Krankheit. Aber der Kutscher hat mit dem Räuberpack unter einer Decke gesteckt und mich ausgeliefert!“ Ich schluchzte theatralisch.
Ach verdammt, das war zu dick aufgetragen gewesen! Gleich würden sie etwas merken, gleich – doch nichts geschah. Das Mädchen schaute mich nur weiterhin mitleidig und neugierig an.
„Das ist eine traurige Geschichte“, murmelte sie, nun nicht mehr ganz so aufgedreht. „Sagt, wo kommt ihr her, und was waren eure Eltern?“
„Ich komme aus Dokatraj, im Norden, ganz im Norden. Meine Eltern waren dort etwas, was ihr wohl Gräfe nennen würdet, wir haben da andere Bezeichnungen. Tage und Nächte bin ich vor der Seuche gefahren, es waren wohl bald an die vier Wochen….“ Bevor ich weitersprechen konnte, kam die große Frau zurück, in der einen Hand eine Schüssel voll Essen, in der anderen eine bräunliche Medizinflasche.
„Ihr braucht eine Stärkung.“ Der Schwarze Dutt der Ärztin wippte bei jedem Schritt. „Ich habe euch eine Linsensuppe bereitet. Ich hoffe, ihr esst so etwas.“ Linsensuppe. Linsensuppe. Linsensuppe hatte ich oft gegessen – zuhause, in unserer kleinen Kate, neben dem Backofen. Aber keine hatte so lecker, heiß und stärkend ausgesehen. Verdammt, Tränen stahlen sich schon wieder in meine Augen! Schnell griff ich nach der dunkelroten Schüssel. Wir hatten immer nur hölzerne Schüsseln gehabt, so wusste ich im ersten Moment nicht, wie ich den glatten Ton anfassen sollte.
„Ja, natürlich“, antwortete ich hastig auf die Frage. „Bitte hört aber auf, mich mir ‚ihr‘ und ‚euch‘ anzusprechen. Im Norden haben wir solche Bezeichnungen nicht und ein einfaches ‚du‘ reicht mir vollkommen.“
Mein Magen rebellierte gegen meine Selbstbeherrschung. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Ich zwang mich dazu, erst eine kleine Löffelspitze der köstlichen Linsen zwischen meine Lippen zu schieben. Sofort verlangte mein Körper nach mehr, aber das Mädchen kam mir dazwischen.
„Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen!“, ihre Augen weiteten sich kurz in Richtung der Tür, als fürchtete sie, dass dort jemand stehen und sie für ihre Worte bestrafen würde. Leiser fuhr sie fort. „Mein Name ist Aline, und eu-, ich meine, deiner? Du musst übrigens auch nicht ‚ihr‘ und ‚euch‘ zu mir sagen! Wir sind doch bestimmt fast gleichalt, da macht mir das nichts! Wie alt bist du denn genau?“
Sie schoss die Wörter in einer solchen Geschwindigkeit ab, dass mein, immer noch träges, Gehirn Mühe hatte, ihr zu folgen. „Ich heiße Mavinka“, antwortete ich schließlich leise, „und ich bin fünfzehn.“ „Fünfzehn?“, ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, „Nun, das ist ja fantastisch! Ich hatte dich für jünger gehalten! Elf, höchstens zwölf, aber wenn ich mir dein Gesicht genauer anschaue-“, ihre Stimme verlor sich. „Wie dem auch sei, ich bin auch fünfzehn! Weißt du, es ist so schrecklich langweilig hier!“
Sie wirkte so fröhlich, unbekümmert und energiesprudelnd, dass ich mich langsam fragte, ob dies all nur eine Maskerade war. Ihre Augen wirkten so viel klüger, als all das Geplauder, den sie von sich gab. Klug und scharfsinnig musterten sie mich. Oder hatte ich mich getäuscht?
„Iss.“, forderte die Ärztin – Dr. Alissi – mich streng auf. „Du musst zu Kräften kommen, bevor ich dir die weitere Medizin verabreichen kann!“ Glücklich, endlich einen guten Grund zum Essen gefunden zu haben, schaufelte ich mir Löffel um Löffel der dampfenden Linsen zwischen die Zähne. „Köstlich!“; befand ich höflich zwischen zwei Bissen, „Absolut delikat – fast besser, als die, die unsere Köchin immer zubereitet hat!“ Ein kleines Lächeln stahl sich auf die Lippen der verschlossenen Ärztin. Nun ebenfalls Lächelnd wandte ich mich wieder meiner Suppe zu.
Später, nachdem ich aufgegessen hatte, verabreichte mir Dr. Alissi einige Tropfen der Flüssigkeit aus der bräunlichen Flasche. Müde machten sie mich, müde und träge. Ich bemerkte noch, wie Aline ziemlich barsch aus dem Zimmer befohlen wurde, dann begab mein erschöpfter Geist sich auf die gewundenen Wege des Schlafs….
Ich schreckte hoch. Irgendwo hatte es einen furchtbaren Knall gegeben!
„Wer, wo, was?“, stammelte ich noch im Halbschlaf. Nun erkannte ich, dass ich noch immer im selben Bett lag. Wo auch sonst? Dr. Alissi kam auf mich zugehastet. „Es ist alles gut, die liebe Aline weiß allerdings leider nicht, wie man Türen leise schließt!“ Sie feuerte einen wütenden Blick auf einen Punkt links meiner Füße ab.
Aline trat langsam, mit hochgezogenen Schultern in mein Blickfeld. „Es tut mir Leid. Wirklich!“ Ihre Stimme klang ehrlich betrübt, allerdings sagten ihre Augen andere Dinge. Lasst mich in Ruhe, sagten sie, Lasst mich in Ruhe, lasst mich in Ruhe! Oder täuschte ich mich schon wieder?
„Es – es ist alles in Ordnung!“, beeilte ich mich zu sagen, „Wirklich!“ Dr. Alissi funkelte mich an. „Nein“, ihre Augen funkelten immer noch Aline an, „Ist es nicht. Du hättest noch zwei weitere Stunden schlafen sollen – und das hättest du auch gekonnt, wenn dieses junge Fräulein inzwischen begriffen hätte, dass es auch andere Zufluchtsorte, als ein Krankenzimmer gibt!“ Das war scheinbar eine Anspielung zu viel gewesen, denn Aline riss die Augen auf und drehte sich zu Dr. Alissi um. Still, sagten ihre Augen, Sei Still!
Aus Dr. Alissis Worten und ihrer Reaktion schloss ich nun, dass Aline definitiv etwas zu verbergen hatte. Bloß was?
Dr. Alissi musterte Aline bloß abfällig und wandte sich dann wieder mir zu. „Hast du noch irgendwelche Beschwerden? Wenn ja, was?“
„Kopfschmerzen und Rückenschmerzen. Allerdings haben sich die Kopfschmerzen verbessert.“ Ich biss mir auf die Lippen, und hoffte, dass ich die richtigen Wörter benutzt hatte. Zuhause hatte wir diese Schmerzen so genannt, aber hier gab es bestimmt edlere Wörter – edlere Bezeichnungen, gleich würden sie etwas bemerken – “
„Kopfschmerzen also?“, Dr. Alissi musterte mich und ich atmete erleichtert auf. Nickend setzte ich mich auf, was meinem Rücken allerdings gar nicht gefiel.
„Mhh“, sie tippte mit zwei Fingern auf den kleinen Holztisch neben meinem Bett, „Leichte Kopfschmerzen könnten eine leichte Gehirnerschütterung bedeuten. Die Rückenschmerzen sind wahrscheinlich Prellungen. Ich habe außerdem gesehen, dass du viele Blasen an den Füßen hast. Ich werde Salben dafür anmischen, die Gehirnerschütterung muss allerdings von selbst verschwinden. Wenn es denn eine ist… Aline? Hole mir bitte ein wenig Breitwegerich aus dem Kräutergarten! Ach ja, reichlich Beinwell bitte auch, der Sammelkorb steht neben der Tür!“
Aline, nun wieder mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen, verschwand wieder aus meinem Sichtfeld.
Dr. Alissi machte sich auch sofort wieder an die Arbeit und sammelte Kräuter, Wurzeln und verschiedene Erdsorten aus verschiedenen Gläschen. Ich richtete mich vollkommen auf und stopfte ein paar der übermäßig vielen Kissen in meinen Rücken, damit ich gut sitzen konnte. Nun sah ich mir den Raum, in dem ich lag, genauer an. Die gekachelte Decke hatte ich ja schon gestern bewundert, nun sah ich mir den Raum an sich an. Hohe Fenster aus Buntglas erinnerten mich an das Kloster, in das meine Familie einmal zu Mitwinter gefahren war. Meine Familie.
Nein.
Ich durfte nicht an sie denken. Nicht an Ivankas süßes Lachen, ihre kleinen Hände, wie tapsig sie laufen gelernt hatte –
Verdammt, jetzt weinte ich schon wieder fast. Verzweifelt versuchte ich mich weiter auf den Raum zu konzentrieren.
Über die Ganze Decke waren Schnüre gespannt, an denen Pflanzen, aber auch etwas, das aussah wie Vogelflügel, zum Trocknen aufgehängt waren. Das Zimmer war groß, sehr groß, und es standen noch mindestens sieben andere Betten darin. Sie waren alle an den Wänden angeordnet, sodass in der Raummitte Platz für einen riesigen Eichenholztisch war. Darauf verteilt standen die verschiedensten Flaschen, Becher, Gläser, Körbe, Mörser und Holztruhen. Im ganzen Raum roch es ein wenig nach Schnaps, Kräutern und etwas unbekanntem, süßlichen.
Dr. Alissi säuberte sorgfältig ein kleines Stück der Tischfläche und sammelte alle benötigten Utensilien zusammen. Einen großen Mörser aus Stein, zwei gebogene, goldene Messer, ein Glas, gefüllt mit einer gelblichen Salbe und ein Schneidebrett.
Meine Sitzposition war schon wieder unbequem geworden, also stopfte ich mir noch ein paar mehr Kissen in den Rücken. Die Ärztin hatte meine Bewegung scheinbar bemerkt und blickte mich an. „Schau mal, ob du aufstehen kannst“, sagte sie in meine Richtung, während sie das Schneidebrett mit einem feuchten Lappen abwischte. Verdutzt folgte ich ihrer Anweisung und schob meine Füße unter der Decke hervor. Schon allein diese Bewegung schmerzte. Das konnte ja eine schöne Geschichte werden.
Mit einem Ächzen stellte ich mich auf die Füße, während Dr. Alissi immer noch vollkommen unbeeindruckt ihr Brett reinigte.
„Dr. Alissi?“, druckste ich fragend. „Was?“ Eigentlich hatte ich sie fragen wollen, ob sie mir zum Tisch helfen könnte, allerdings besann ich mich bei ihrem Tonfall schnell anders. „Ach, es ist nichts. Mich interessiert bloß, was das für eine gelbe Paste dort in dem Glas ist.“
„Eine Salbe aus den Blütenblättern der Arnika“, kam die Antwort zurück, „Ich werde sie auf die Prellungen an deinen Armen auftragen. Ist dir, jetzt, wo du stehst, schwindelig?“
„Nein“, antwortete ich leise.
„Nun, das ist ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich hast du keine Gehirnerschütterung.“, sie wandte sich wieder ihrem Schneidebrett zu.
Ächzend und stöhnend bewegte ich mich auf den Tisch zu. Mein Rücken fühlte sich an, als hätten hundert trächtige Pferde darauf Walzer getanzt und meine Beine waren nicht viel besser dran. Von meinen Füßen ganz zu schweigen. Dr. Alissi hatte mir auf dem ganzen Weg nur einen einzigen, verächtlichen Blick zugeworfen. Ich konnte es ihr nicht verdenken, so sehr, wie ich jammerte. Ich fand es selbst ein wenig seltsam, wie sehr die Verletzungen meinem Körper zusetzten. An sich war ich ja eine Bauerntochter, an ein hartes Leben und Entbehrungen gewöhnt – ich mochte mir also gar nicht vorstellen, was eine echte Fürstentochter an meiner Stelle getan hätte. Nun hatte ich auch endlich den Tisch erreicht und stützte mich auf die gewaltige Eichenplatte. Wie man einen solchen Tisch wohl herstellte? Ich glaube, kein Tischler meines Dorfes hätte die Antwort gekannt.
„Arm her.“ Die barsche Stimme der Ärztin riss mich aus meinen Gedanken. Schnell schüttelte ich den Ärmelsaum des weißen Nachthemdes, das man mir wohl angezogen hatte, zurück und streckte Dr. Alissi meinen linken Arm entgegen.
„Was treibt Aline bloß schon wieder“, grummelte sie, während sie mir die gelbe Arnika-Salbe auf den Arm, und meine vielen blauen Flecken, strich. „Was bewirkt diese Salbe?“, wagte ich zu fragen, während ich angestrengt nicht zu Dr. Alissi schaute. „Arnika ist eine vielseitige kleine Pflanze. Diese Salbe wird, wie schon gesagt, aus den Blütenblättern hergestellt und hilft gegen Prellungen, Stauchungen, Blutergüsse und noch ein wenig mehr.“ Die Stimme der Ärztin war plötzlich viel sanfter. „Man kann allerdings auch die Wurzel für bestimmte Tinkturen verwenden, die dann die Gicht lindern können. Du kannst eine Essenz aus den Blüten nutzen, um deinen Mund damit auszuspülen, wenn du Verletzungen im Mundraum hast, außerdem-“ Doch mir war eine Idee gekommen. „Verletzungen im Mundraum?“, unterbrach ich kühn ihre Erklärungen, „Auch, wenn es mehr eine Fäule, als eine Verletzung ist?“ „Wenn du von der Zahnfäule sprichst: nein. Andere Fäulnisserscheinungen im Mundraum sind mir nicht bekannt. Arnika verwendet man eher bei Verletzungen, die durch irgendeine Gewallt ausgelöst wurden. Zum Beispiel bei einer Quetschung, die ein Schmied sich zugezogen hat, weil er versehentlich auf seinen Daumen geschlagen hat. Hätte er sich den Daumen verbrannt und er hätte angefangen zu faulen, hätte man im frühen Stadium andere Heilmittel verwendet und den Daumen im späteren Stadium amputiert, wenn die frühere Medizin nichts genützt hätte.“ Zeitgleich mit den letzten Worten der Ärztin war Aline ins Zimmer gekommen – einen Weidenkorb unter dem Arm, voll mit hellgrünen, kleinen Blättern und Wurzeln.
Dr. Alissi drehte sich zu ihr um. „Na Endlich!“, war der einzige Kommentar, den sie abgab, bevor sie Aline den Korb aus der Hand nahm.
„Du kannst ruhig bei der Herstellung der Salben zusehen“, Dr. Alissi drehte sich wieder zu mir. „Ich habe das Gefühl, du hast ein gesundes Interesse für Heilpflanzen und ein bisschen Wissen schadet nie.“ Sie ging, gefolgt von mir und Aline auf die andere Seite des Tisches, wo einige Kessel, Pfannen und Töpfe bereitstanden. „Aline, mach bitte ein Feuer im Herd“, wies sie sie an und deutete mit einem Kopfnicken auf einen großen, steinernen Küchenherd. Wir hatten zuhause einfach nur eine einfache Kochstelle gehabt, deshalb war ich umso faszinierter von dem großen Ungetüm, in dessen inneren man Feuer machte um etwas darauf zu erhitzen. Doch die Ärztin riss mich ein weiteres Mal unsanft aus meinen Gedanken. „Träum nicht in der Gegend herum! Du kannst mir ruhig auch helfen, deine Finger sind nämlich keineswegs geprellt!“ Hastig humpelte ich ihr hinterher, wieder um den Tisch herum, zu dem riesigen Schneidebrett, welches sie vorhin so sorgfältig geputzt hatte. Mir war schleierhaft wieso, denn die Wurzeln, die sie auf das saubere Holz legte, waren voller Erde und Sand.
„Was sind das für Wurzeln?“ Ich konnte die Frage einfach nicht unterdrücken. „Beinwell. Den einen Teil der Wurzeln werden wir zu einer Salbe verarbeiten, den anderen Teil einfach stampfen. Die Salbe hält sich länger, wir werden ein paar Gläser vorrätig machen. Du säuberst bitte alle Wurzeln von der Erde und schneidest sie klein.“ „Alle?“, mir wurde mulmig zumute, angesichts des riesigen Berges Wurzeln. „Alle“, kam die deprimierende Antwort zurück, „Arbeit ist bei leichten Verletzungen sowieso die beste Medizin, finde ich. Du wirst sehen, nach kurzer Zeit denkst du gar nicht mehr an etwaige Schmerzen.“ Damit drückte sie mir eine Bürste, einen kleinen Eimer Wasser und eins der goldenen Messer in die Hand.
Sie selbst schüttete alle Blätter die noch im Korb lagen auf den Tisch und tat sie dann in den Mörser.
„Was sind das für Blätter?“ Verdammt, meine Neugier würde mich eines Tages noch Kopf und Kragen Kosten. Ihr Blick verdeutlichte das.
„Das sind Breit- und Spitzwegerichblätter. Man verwendet sie bei blauen Flecken, Wunden und Blasen. Man zerstampft sie zu einem Brei und trägt sie auf. Reicht das? Fang an, die Wurzeln zu säubern!“ Ihr Tonfall war so endgültig, dass ich mich sofort ihren Worten fügte.
Ich hatte auch Zuhause Kartoffeln, Möhren und Schwarzwurzeln geputzt, sodass mir das Säubern nicht weiter schwerfiel. Es war allerdings sehr kräftezehrend, so lange auf meinen Schmerzenden Beinen zu stehen und meinem Rücken tat es auch nicht gerade gut. Aline half mir zwar inzwischen, da das Feuer nun von selbst brannte, aber trotzdem schien der Haufen von dreckigen, ungeputzten Wurzeln nicht kleiner zu werden. Nicht einmal Aline redete während wir die Wurzeln schnitten, und dies verstärkte nur noch meine Theorie, dass sie nicht das überdrehte, dümmliche Mädchen war. Außerdem putzte und schnitt sie mit solch einer Geschwindigkeit Wurzeln, dass klar wurde, dass sie solch eine Arbeit schon öfter gemacht hatte. Und würde Dr. Alissi ein albernes und überdrehtes junges Ding für sie Kräuter sammeln gehen? Wohl kaum.
Als schlussendlich alle Wurzeln, sauber und in Stückchen geschnitten, auf dem Schneidebrett lagen, hatte ich das Gefühl, überhaupt keine Beine mehr zu besitzen. Die Ärztin kam zu uns herüber und begutachtete unser Werk kritisch.
„Mann hätte die Wurzeln vor dem Schneiden viel mehr schrubben können. Außerdem sind die Stücken teilweise sehr groß. Aber ich habe schon schlechtere Wurzeln gesehen. Ihr könnt euch ausruhen. Mavinka, ich werde deine Blasen gleich mit den Wegerichblättern behandeln, setz dich auf dein Bett.“ Erleichtert wankte ich auf meine Schlafstätte zu. Kurz davor blieb ich noch einmal stehen und drehte mich wieder um.
„Was wird jetzt aus den Wurzeln hergestellt?“
Dr. Alissi schaute flehend zur Decke. „Salbe. Und ein Teil wird einfach im Mörser zu einem Brei gestampft. Bevor du fragst: Man lässt die Wurzelstücken zusammen mit Schweineschmalz in einer Pfanne ausbraten und zerdrückt sie dann zu einer Salbe.“ Ihr Tonfall ließ keine weiteren Fragen zu. Eigentlich hatte ich auch erstmal keine mehr.
Erschöpft ließ ich mich in die weichen Kissen fallen und wollte schon die Augen schließen – „Mädchen, setzt dich hin, wie soll ich sonst deine Füße verarzten?“ Schnell setzte ich mich wieder auf, wobei mein Rücken empört protestierte.
Aus einer Tonschale in ihrer Hand löffelte sie grünen Blätterbrei auf meine Blasen und fixierte das Ganze mit Leinentüchern. Am Ende erinnerten meine Füße von der Form her eher an Mehlsäcke, als an Füße, allerdings bemerkte ich schon nach kurzer Zeit eine Linderung.
„Jetzt kannst du schlafen“, Dr. Alissi stand auf. „Wenn du wieder wach bist, entferne ich den Wegerich und trage die Beinwellsalbe auf.“ Mit diesen Worten entfernte sie sich wieder vom Bett und ging hinüber zum Herd. Meine Augen folgten noch eine Weile träge ihren Bewegungen, klappten dann aber langsam immer weiter und weiter zu.
Ein angenehmer Essensgeruch weckte mich. Durch die hohen Fenster des Krankenzimmers fielen die kupferroten Strahlen der untergehenden Sonne. Nein – das konnte nicht stimmen. Gestern Nachmittag hatte sich die Sonne nicht auf dieser Seite befunden, also konnte sie hier nicht untergehen. Aber Sonnenaufgang? Hatte ich so lange geschlafen?
„Guten Morgen!“, drang Alines Stimme zu mir herüber. Scheinbar hatte ich tatsächlich den ganzen Nachmittag und die Nacht verschlafen.
„Es gibt Frühstück!“, redete Aline weiter, und ich setzte mich auf. An meinen Rückenscherzen hatte sich seit gestern jedenfalls nichts geändert. Wie auch, Dr. Alissi hatte die Salbe ja nicht einmal mehr auftragen können.
„Ist es nicht noch ein wenig früh?“, gähnte ich hinter vorgehaltener Hand.
„Oh nein!“, Aline strahlte mich an. Ein weiteres Mal hatte ich das Gefühl in Wirklichkeit von oben bis unten mit Blicken abgetastet zu werden. „Wir fangen hier eigentlich immer vor Sonnenaufgang mit allem an! Meine Mutter wollte zuerst nicht erlauben, dass ich zuerst zu dir gehe, aber ich konnte sie überzeugen. Ich muss bloß pünktlich zum Frühstück zu kommen!“
„Sehr gut“, antwortete ich zerstreut. „Was gibt es denn?“ Mir stieg schon wieder dieser leckere Duft in die Nase, von dem ich geweckt worden war.
„Salbe“, antwortete Dr. Alissi trocken, die, wie ich nun bemerkte, am Herd hantierte. Nun ließ sie die Pfanne stehen, nahm einen großen Tiegel vom Tisch und kam auf mich zu.
„Für dich gibt es heute nur Salbe.“ Aline kicherte verhalten. „Natürlich nicht!“, fügte Dr. Alissi auf meinen Blick hinzu, „Gott, Mädchen, glaubst du alles, was man zu dir sagt?“
„Nein.“ Ich blickte auf meine Füße, die immer noch in den Leinenverbänden steckten. Aline konnte sich nun nicht mehr beherrschen und lachte lauthals los.
Dr. Alissi runzelte nur die Stirn und machte sich an meinen Füßen zu schaffen. Der getrocknete Pflanzenbrei klebte ganz schön fest, hatte aber auch sichtlich geholfen. Einige schlimme, rote stellen an meinen Fersen sahen schon fast wieder normal aus und meine Füße fühlten sich auch wieder so an, als ob sie zu meinem Körper gehören würden.
Nachdem der ganze grüne Matsch abgewaschen war, fühlte ich mich schon fast wieder gesund. Wenn da nicht noch mein Rücken gewesen wäre.
„Auf den Bauch legen“, befahl Dr. Alissi, nachdem sie meine Füße fertig hatte. Ich tat wie geheißen und sie begann meine Beine von den Knöcheln aufwärts mit der Salbe aus dem Tiegel einzureiben. Die Berührungen an den Beinen erinnerten mich allzusehr an meine Begegnung mit dem Grafen, sodass ich mich sehr zusammenreißen musste um still liegen zu bleiben. Es war eine Qual. Als meine Beine eingeschmiert waren, öffnete Dr. Alissi den Verschluss des Nachthemdes und wandte sich meinem Rücken zu. Aline war in der Zwischenzeit aus dem Raum gehuscht, ich vermutete, dass sie zum Frühstück musste.
Nun, beim Rücken, war ich wesentlich entspannter und genoss das einsalben sogar ein wenig. Als Dr. Alissi fertig war, wollte ich das Nachthemd schon wieder verknoten, sie hielt mich jedoch davon ab.
„Die Herren des Hauses wollen dich heute Abend sehen, du ziehst ein richtiges Kleid an. Aline müsste bald wiederkommen. Sie wollte dir eins mitbringen. Aber frühstücke erst einmal. So lange musst du den Rücken eh noch frei lassen, die Salbe zieht sonst nicht gut ein.“
„Gut.“ Ich hatte jetzt wirklich Hunger und fragte mich, wie lange ich noch warten musste, als Dr. Alissi auch schon mit einem gut gefüllten Teller zurückkehrte.
Graubrot mit gebratenen Tomaten, Eier, Zwiebeln, schwarzviolette Beeren, Nüsse – es war eine Ziemlich bunte Mischung an Essen, die dort auf dem Teller lag. Und es sah unglaublich wohlschmeckend aus.
„Die Beeren sind vielleicht nicht ganz so gut“, warnte Dr. Alissi mich, „Aber du solltest sie probieren, sie werden von manchen auch sehr geschätzt.
„Wie heißen sie?“, die Worte rutschten zwischen meinen Lippen hervor, bevor ich sie aufhalten konnte.
„Apfelbeeren. Auch wenn sie wenig mit Äpfeln gemein haben.“
Zustimmend nickte ich und biss in das Brot. Es war perfekt gebacken, innen weich, aber mit einer knusprigen Kruste – Die Körner auf der Rinde waren nicht verkohlt und krümeln tat es auch kaum.
„Woher bekommt man solch gutes Brot?“ Als ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich, was ich für eine Dummheit begangen hatte. Hier war ich nicht Mavinka, das Bauernmädchen – nein, hier war ich Mavinka, die Fürstentochter! Und als Fürstentochter hätte ich garantiert ebenso gutes Brot zu Essen gehabt. Garantiert würde Dr. Alissi gleich etwas bemerken, einen Fehler in meiner Geschichte, dann war es vorbei – man würde mich aus diesem Haus jagen!
Doch die Ärztin lachte nur. „Der Hofbäcker bäckt es. Er versteht seine Kunst außerordentlich gut – es heißt, er sei der beste Bäcker der Welt. Ganz lange wollte der König, dass er auf seinem Schloss lebt und nur für ihr Bäckt. Der Bäcker hat dies abgelehnt, aber angeboten, den König mit Brot zu beliefern. Jedem anderen hätte der König für diese Weigerung die Zunge herausgeschnitten, aber nicht dem Bäcker. Er wusste wohl, dass es dann im ganzen Land nie wieder auch nur einen Kanten von solch gutem Brot gegeben hätte und ließ dem Bäcker seinen Willen.“
Ich war beindruckt. Wie groß musste der Mut des Bäckers gewesen sein, dass er daran festgehalten hatte, hier auf diesem Schloss leben zu bleiben? Ein wenig ehrfürchtig aß ich weiter. Die gebratenen Tomaten waren herrlich zubereitet, ebenso wie die Spiegeleier. Während ich noch aß kam Aline zurück ins Zimmer, gefolgt von einem Mädchen, das scheinbar eine Dienerin war und zwei riesige, rüschige Kleider unter den Armen trug.
Siedend heiß fiel mir Dr. Alissis Ankündigung wieder ein. Die Herren des Hauses wollten mich sprechen. Was konnten sie von mir wollen? Natürlich wollten sie mich einfach nur kennenlernen, schließlich wohnte ich seit neuestem einfach in ihrem Schloss!
Ich aß fertig, pickte noch die letzten Beeren vom Teller (sie schmeckten tatsächlich nicht sonderlich gut) und überreichte den leeren Teller Dr. Alissi.
„Ich habe zwei Kleider gefunden, die dir möglicherweise passen könnten! Es war gar nicht so einfach etwas damenhaftes zu finden, du bist ja so schmal und klein, aber ich wollte dir auch keine Kleinmädchenkleider mitbringen!“, sprudelte Aline hervor, sobald sie sah, dass ich nicht mehr aß. „Wie gefallen sie dir?“
Die Dienerin, die scheinbar auch kaum älter war als ich, hielt beide Kleider hoch, sodass ich sie betrachten konnte. Das eine war hellblau mit Violetten Röschen am Ausschnitt. (der meiner Meinung nach etwas zu tief war) Die Ärmel gingen nur etwa bis zu den Ellbogen, von dort hingen dünne dunkelblaue Seidenbänder hinab. Es sah nicht schlecht aus, aber ich würde niemals essen können, ohne, dass die Hälfte von allem in diesen Bändern hängen bleiben würde. Meine Augen wanderten zum anderen Kleid. Ein schwarzer Rock mit einem halblangen, nachtblauen Überkleid. Dazu gab es eine hübsche, kurze, ebenfalls dunkelblaue Weste, die man über der Brust mit einer Schnürung zuziehen konnte, sodass es eigentlich keinen Ausschnitt zu sehen gab. Dieses Kleid sagte mir auf der Stelle zu und ich deutete entschlossen darauf.
Aline zog eine enttäuschte Schnute. Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass auch sie das dunkelblaue Kleid gewählt hätte, so sehr sie jetzt auch enttäuscht zu dem anderen schaute.
„Gut, ihr habt euch entschieden?“, die Dienerin sah zu mir auf. Ich war nicht daran gewöhnt, mit ‚ihr‘ angesprochen zu werden, sodass ich zuerst gar nicht reagierte. Als das Mädchen mich jedoch weiterhin fragend ansah, wurde mir klar, dass sie mich gefragt hatte, und nickte energisch.
„Schön!“, die Dienerin legte das andere Kleid zur Seite, „Ihr müsst aufstehen.“
„Ah, ja, natürlich!“, antwortete ich schnell und kam mir unglaublich tölpelhaft vor, als ich mich mit immer noch schmerzendem Rücken aus dem Bett quälte. Die Salbe war eingezogen, hatte aber noch nicht ihre ganze Wirkung entfaltet.
Mit schnellen und geschickten Fingern schälte mich das Mädchen aus dem Nachthemd und zog mir das nachtblaue Kleid an. Es war komisch, angezogen zu werden – und noch komischer war das Gefühl, solch feinen Stoff auf der Haut zu spüren, wie dieses Kleid. Aber etwas stimmte nicht. Es saß nicht richtig.
„Das ist zu groß“, befand Dr. Alissi schlicht. "Wenn sie aussehen soll, als könnte sie sich nicht anziehen, dann lasst sie das tragen. Wenn sie ordentlich aussehen soll, dann braucht sie ein Kleid, welches genau mit ihrem Körper abschließt. Mavinka, probier das hellblaue an.“
Schicksalsergeben tat ich, was sie sagte, und fand das Ergebnis nicht einmal allzu schlecht. Vom Aussehen her. Aber bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, dass das Kleid verrutschen und viel zu viel meiner spärlichen Oberweite preisgeben würde. Außerdem konnte ich nur beten, dass ich mit diesen „Bänderärmeln“ nichts essen musste.
„So sieht sie erwachsen aus“, lautete Dr. Alissis Kommentar zu meinem Aussehen, „So wird bestimmt der ein oder andere Diener in diesem Haus ein Auge auf sie werfen – bevor er bemerkt, wen er da gerade anstarrt.“ Auf diese Worte hin hatten die Dienerin und Aline wie verblödet gekichert, während ich verkniffen gekuckt und keinen Ton von mir gegeben hatte.
„Bloß Schuhe fehlen noch!“, hatte die Dienerin plötzlich ausgerufen, war schnell aus dem Zimmer gehuscht und kurze Zeit später mit zwei Ungetümen von hellblauen Schnallenschuhen zurückgekehrt, die an den Zehen drückten.
Im Krankenzimmer hing ein großer Spiegel, sodass ich meine ungewohnte Erscheinung begutachten konnte.
„Wieso hängt dieser Spiegel hier?“ Ich ging auf ihn zu.
Aline kicherte schon wieder. „Es gibt in diesem Haus einige Patienten, die ihre Wunden nach der Verarztung immer noch einmal ansehen wollten, zur Prüfung, ob Dr. Alissi auch alles richtig gemacht hat – der Spiegel ist eben dafür da, es ist einfacher in einen Spiegel zu schauen, als seine Körperteile zu verbiegen, bis man die Verletzungen sieht.“
Ich sah wieder in den Spiegel. Eigentlich sah ich wirklich nicht schlecht aus. Das Mädchen hatte meine Haare gekämmt und geflochten, ich trug ein Kleid aus schönem Stoff, aber wohl fühlte ich mich nicht. Der Ausschnitt war für mich viel zu tief und ich fand die Ärmelbänder einfach nur albern. Seufzend drehte ich mich auf dem Absatz der engen Schuhe um und folgte Aline, die, zusammen mit der Dienerin, schon fast aus der Tür verschwunden war.
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2019
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