Cover

1

Ich war nicht wie die anderen. Das hatte ich schon immer gewusst. Und der Vorfall heute morgen hatte das nur noch bestätigt. Ich hasste Gesellschaft. Bis auf die von Tieren und Pflanzen.

Wieso hatte Kira nicht einfach den Mund halten können? Die ganze Geschichte war doch schon ein halbes Jahr her! Wieso musste sie jetzt darauf herumreiten? Ich hasste das! Es war kein großes Ding gewesen, sie hatte mich nur dabei beobachtet, wie ich mit einer Füchsin gespielt hatte. Draußen, auf der Wiese im Wald. Nur heute hatte Kira, als ich in der Kunststunde einen Fuchs gezeichnet hatte, plötzlich ganz laut zu ihren Freundinnen gesagt: "Ohh, schaut mal, die verrückte malt den einzigen Freund, den sie überhaupt hat, diese Außenseiterin!" Natürlich hatte es die ganze Klasse gehört und alle hatten gelacht. In der Pause danach war es noch schlimmer geworden. Es schien, als ob irgendetwas machte, dass alle auf einmal wussten, dass die Verrückte Elva mit Tieren spielte. Da hatte es mir gereicht und ich war vom Schulhof gestürmt. Es war mir egal, wenn ich Ärger bekam, wegen des Schwänzens und so. Ich war einfach nur unglaublich frustriert. Es reichte schon, dass ich IMMER komisch angesehen werde, weil ich andere Kleidung trage als alle anderen oder fünf Haustiere habe. Dass ich jetzt auch noch als verrückt bezeichnet wurde, war einfach zu viel.

"ES REICHT!!!!!!!!!!", schrie ich so laut ich konnte in die Bäume.

Schluchzend vergrub ich meinen Kopf im Fell der Füchsin, die der Grund für Kiras Glaube war, dass ich nun vollends durchgedreht war.

Java, meine fabelhafte Begleiterin....

 

Ich und Java saßen im hohen Gras und schauten zu, wie die Sonne langsam Stück für Stück tiefer hinter den Baumkronen versank, um Platz für ihren Bruder Mond zu machen. Ganz still saß ich da, streichelte gedankenverloren Javas Fell, und schaute zum dämmrig werdenden Himmel hinauf.

Da! Ein Knacksen im Unterholz! Leise pfiff ich dreimal und schon schob sich Mailu aus dem Dickicht. Java und die Hirschkuh Mailu waren im Wald zusammen mit dem Raben Evio meine besten (und einzigen) Freunde. Sobald es dämmrig wurde pfiff ich immer und falls sie nicht schon vorher dagewesen waren, dann kamen sie dann zu unserer Lichtung.

"Hey, meine kleine!" begrüßte ich Mailu. "Du bist ja richtig früh dran!"

Zur Antwort versuchte Mailu mir ihren Kopf in die Jackentasche zu stecken.

"Nee, heute hab ich nichts dabei." Ich streichelte sie gedankenverloren.  Mailu! Ich bin kein Schubberfposten!", rief ich lachend, als sie mich durch ihr neugieriges schubsen fast umstieß und schob ihren Kopf beiseite.

Doch dann war es vorbei mit der Fröhlichkeit, denn mir fiel wieder ein, was der Grund dafür gewesen war, dass ich nichts dabeihatte! Diese dumme Tusse Kira, wegen der ich schon in der Mittagspause in den Wald gerannt war. Ein bitterer Geschmack stieg in meinem Mund auf. Der Geschmack von Hass. Kira war so furchtbar! Immer musste sie andere Leute bloßstellen, sodass sie noch den letzten Rest Anerkennung verloren! Aber da stupste Java mich in die Seite, was wohl heißen sollte: "He! Träumermädchen! Los! Wir stehen hier schon seit Ewigkeiten!" Also pfiff ich nach Evio und lief Java hinterher.

Inzwischen war die Sonne vollkommen untergegangen und es war sehr dunkel im Wald. Java lief mit zügigem Schritt voraus, in die Dunkelheit unter den Bäumen. Nach zwei Minuten hörte ich auch ein heiseres Krächzen über sich, Evio war auch da. Mailu trabte mit hoch erhobenem Kopf neben mir, jedoch nicht, ohne immer mal wieder auf meine Jackentasche zu schielen. Wir liefen bis zum kleinen Bach, dort  setzte ich mich ans Wasser und strich Evio über das Gefieder. Java und Mailu jagten sich spielerisch zwischen den Bäumen und stolperten einmal sogar fast in den Bach. Kurz nachdem wir getrunken hatten machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte mir, dass es mächtig Ärger geben würde…

*****

Drei Stunden später lag ich in meinem Bett und war noch frustrierter als vorher. Meine Eltern hatten mich angeschrien, wegen des Schwänzens rumgekeift und Kira in allen Punkten rechtgegeben.

"Du sollst dich nicht mit irgendwelchen Räudigen Tieren abgeben, wer weiß, die haben bestimmt Tollwut!",mein Vater, und "Geh in dein Zimmer, Elva, du solltest dir darüber Gedanken machen, wie du dich in den nächsten Tagen mehr um menschlicher Gesellschaft bemühst, du hast Hausarrest, als Strafe fürs Schwänzen!!!", meine Mutter.

Ich lag also in meinem Bett, als mir so ein kleiner, aber alles verändernde Gedanke in den Sinn kam.

Dann fasste ich einen Entschluss…

 

 

2

 So schnell und leise wie ich konnte, packte ich Sachen in meinen Rucksack. Ein Glück hatten meine Eltern mir meine vier Katzen und den Hund gelassen! Ich suchte in meinem Schrank noch schnell Futter zusammen, dann öffnete ich die Tür und schickte meine Tiere mit ein paar gemurmelten Worten die Treppe hinunter. Ich öffnete mein Fenster und schloss die Augen. Das, was nun kommen würde, war alles andere als angenehm für mich. Ich war überhaupt nicht schwindelfrei und mein Zimmer lag auf dem Dachboden. Ich kniff die Augen zusammen, straffte mich innerlich und schob mein Bein aus dem Fenster.

Meine Hände zitterten. Meine Stirn wurde feucht. 'Toll', dachte ich mir, 'du hast gerade dein Bein aus dem Fenster gestreckt, und bist jetzt schon verschwitzt und zittrig!' Das konnte ja heiter werden! Vorsichtig schob ich mich ganz aus dem Fenster, aufs Dach hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier runterkommen sollte, kroch aber vorsichtig und im Schneckentempo auf den Dachrand zu. Langsam, ganz langsam, bewegte ich mich zum Regenrohr. Nein, nein, nein, nein! Da konnte ich doch nicht runter! Das Regenrohr war an der Stelle zwischen Hauswand und Rinne ÜBERHÄNGEND!!! Nein! Aber es gab keinen anderen Weg aus meinem Zimmer. Mit bebenden Knien und Fingern schob ich meine Füße über den Rand. Einen Blick, um zu sehen, wo das Regenrohr lag, gab es nicht, er währe mein Todesurteil gewesen. Als ich schon meinen Bauch über die Rinne geschoben hatte, und mit den Füßen immer noch kein Rohr gefunden hatte, bekam ich langsam Panik! Wo war denn dieses verdammte Rohr? Als ich schon beim Oberkörper war, ertasteten meine Füße endlich das blöde Rohr! Ich griff auch mit den Händen danach, ließ mich ein Stück hinunterrutschen und blieb prompt an der überhängenden Stelle hängen. Das Rohr begann zu ächzen und meine Arme zitterten so stark, dass ich dachte, sie würden mir nicht mehr gehorchen. Das Rohr knackte und ich schrie leise auf.

„Gottverdammter Mist!“, zischte ich und versuchte mich weiter nach unten zu schieben. Puh, ich hatte es über die Stelle geschafft! Jetzt ging es nur noch gerade nach unten! Doch zu früh gefreut, als ich ein wenig nach unten geklettert war, sah ich mit Schrecken, dass das Rohr direkt am Zimmer meiner Eltern vorbeiführte. Ich drehte mich so, dass ich auf der Fenster abgewandten Seite des Rohrs kletterte. Ich stemmte mich mit den Füßen gegen das Rohr und hielt mich noch mit den Händen fest. Ein Blick nach unten sagte mir, dass es noch mindestens sieben Meter bis zum Boden waren. Eher acht. Schnell schaute ich wieder zum Rohr. In dieser unbequemen Haltung schob ich mich Millimeter um Millimeter nach unten.

Aber das Rohr schien die Mischung aus drücken (Füße) und ziehen (Hände) nicht so gut zu verkraften. Es krackte laut und vernehmbar, gerade als ich direkt neben dem Fenster hing. „Hast du das gehört?!“, hörte ich die Stimme meiner Mutter durch das, auch noch gekippte, Fenster dringen. „Ich? Ich hab nichts gehört!“, antwortete mein Vater müde.

„Da war aber was, ganz sicher!“

Bevor das Rohr nochmal knackte, ließ ich mich zu einer Panischen Reaktion verleiten, nahm kurzzeitig die Hände vom Rohr, stieß mich ab und rutschte mit Vollgeschwindigkeit daran hinab. Vier Meterüber dem Boden bekam ich das Rohr endlich zu fassen. Mein Puls ging wohl so auf zweihundert zu, mein gesamter Körper zitterte und mein Atem ging stoßweise. Ich rutschte langsam weiter hinab, aber bei ca. zweieinhalb oder drei Metern, wollte das Rohr nicht mehr. Es brach mit einem lauten Knall, und vollkommen unvorbereitet stürzte ich auf die Betonfläche, vor der Garage.

3

 "Fuck!" Gott, hatte mein Rücken irgendwann schon einmal so weh getan? Hatte ich jemals zuvor so wenig Luft in der Lunge gehabt? Ich wusste es nicht. Aufstehen? Fehlanzeige. Ich wusste, dass ich auf die Beine kommen musste, wusste, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte - dass meine Eltern jederzeit auftauchen würden -

Es ging trotzdem nicht. Ich brauchte Luft. Alles in meinem Körper schrie nach Luft. Und dann hörte ich das Winseln meines Hundes. Ich erinnerte mich, dass nicht nur ich ein Problem hatte, wenn meine Eltern unten waren. Und ich atmete wieder. Es tat weh, verdammt weh - aber ich stemmte mich auf meine Füße.

Da war es wieder, das verzweifelte Winseln. Nimo war es, der so winselte. Ein Cockerspanielmix. Immer und immer wieder stieß er seine Schnauze an die Festerscheibe. Ich rannte darauf zu. Das heißt, ich versuchte es. Aber ich konnte nur humpeln. Langsam, furchtbar langsam kam ich meinen Tieren näher.

Das Fenster war zu.

Nein. Das konnte einfach nicht sein. Es war immer offen. Immer angekippt. Immer.

Verzweifelt starrte ich auf die Glasscheibe. Ganz so, als könnten meine Blicke sie zertrümmern.

Das Fenster war immer noch zu.

Verzweifelt sah ich mich um. Nicht, dass es etwas genützt hätte, Luft öffnet keine Fenster. Mein Kopf schmerzte vom Sturz, ich konnte einfach nicht Nachdenken. Aber ich musste nachdenken!

Einschlagen. Ich musste das Fenster einschlagen. Das ich dabei mich und meine Tiere schwer verletzen konnte, kam mir nicht in meinen vernebelten Kopf.

Gut. Ich hatte eine Lösung. Jetzt zur Umsetzung. Womit wollte ich das Fenster einschlagen? Hand? Schlechte Idee. Stein? Besser. Bloß, wo war ein geigneter Stein? Mir lief die Zeit davon! Ich sah, wie das Licht im Flur anging - sah schmemenhaft meine Eltern und schlug einfach zu. Mit meiner nackten Faust gegen das Glas. Es passierte nichts. Natürlich passierte nichts. Abermals sah ich mich verzweifelt um. Am Sockel des Hauses lagen kleine Steine herum, nicht breiter als mein Daumen. Aber ich musste es versuchen. So schnell es ging grapschte ich mir eine Hand voll und schlug so fest ich konnte gegen die Scheibe. Diese gab nach.

Aber meine Hand hatte so viel Schwung, dass ich sie nicht stoppen konnte. Glassplitter bohrten sich überall in meinen Arm.

Nimo sprang neben mir durch die Scheibe, gefollgt von all den anderen. Sie hattten verstanden, dass sie fliehen mussten. Ich jedoch konnte nur ungläubig meinen Arm anstarren. Blut tropfte von meinen Fingerspitzen. Rot, so rot im Licht der Garagenlampe. So rot, in dem Lichtstrahl, der aus der geöffneten Haustür viel.

Es war zu spät zum rennen. Ich konnte allerdings gar nicht rennen.

Rot, rot überall um mich herum. Dann schwarz.

Impressum

Cover: Lizenzfreies Bild von Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2019

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /