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Ich sitze in der U-Bahn, auf dem Platz direkt an der Tür. Der beste Platz in der langen Reihe von Sitzen, weil man sich hier so schön an die gläserne, verkratze und verschmierte gläserne Trennscheibe anlehnen kann. Anlehnen ist wichtig, genauso wichtig wie wachbleiben.

Obwohl es bereits fast fünf Uhr morgens ist, ist wachbleiben heute gar nicht so schwer. Der Abend war lustig und ich bin immer noch ganz aufgekratzt und überdreht vom Tanzen, Quatschen und Lachen. Ich war mit ein paar Freundinnen unterwegs, die ich länger nicht gesehen hatte. Da hat man sich viel zu erzählen, muss sich erst mal wieder nachrichtentechnisch auf den neuesten Stand bringen. Was macht der Job? Nervt der Chef immer noch? Und was macht die Beziehung? War da nicht was mit einem tollen Typen aus dem Internet?

Ich liebe solche Abende, die es leider immer seltener gibt. Oft bin ich zu müde vom Arbeiten oder lungere am Wochenende lieber mit meinem Freund auf der Couch rum. Immer häufiger ist das gemütliche Bierchen in der Kneipe um die Ecke attraktiver als ein spannender Abend auf einem Konzert oder in einem Club. Da müsste man ja erst hinfahren. Und das mit den Öffentlichen! Wie kommt man da überhaupt hin? Das dauert ja wieder ewig! Und zurück? Fährt die Bahn denn dann überhaupt noch? Ist doch bestimmt ausverkauft, das Konzert! Bleiben wir lieber hier.

Die Großstadt, die mich, das Mädchen vom Dorf, vor etwas mehr als 10 Jahren so sehr in ihren Bann gezogen hat, wird mir heute immer häufiger zu viel, zu anstrengend, zu groß. Sie ist ermüdend, lässt jeden Schritt zur Anstrengung werden und scheint mich manchmal zu überrollen mit ihrer Hektik, den Menschenmengen und ihrem Dreck. An schlechten Tagen habe ich das Gefühl, sie nimmt mir die Luft zum Atmen, schnürt mir den Brustkorb zu, zwängt mich in ein Korsett, das mich in allen Bewegungen einzuschränken versucht. Es ist Winter, da gibt es besonders viele dieser schlechten Tage, an denen die Stadt nass und grau ist, die herunter gekommen Häuser noch hässlicher aussehen, die verschmierten Häuserwände und U-Bahnen noch dreckiger wirken und die Gesichter der Menschen missmutiger und unzufriedener erscheinen.

Als ich nach Berlin zog, war die Stadt für mich so etwas wie eine nie enden wollende Party. Immer war etwas los, alles gab es im Überfluss. Die Clubs der Stadt, die Museen und die Theater öffneten Türen in ein kulturelles Schlaraffenland. Für alle ist etwas dabei, jeder findet hier das, was ihm gefällt und Menschen, die die gleiche Einstellung und die selben Interessen haben. Hier kann man einfach nicht auffallen, man geht unter in der Menge, man wird nicht erkannt, hat keine Geschichte und keine Verantwortung. Unabhängigkeit! Freiheit!

In der Zwischenzeit ist auch das Mädchen vom Dorf im Großstadt-Alltag angekommen. Das Studium ist beendet, die durchfeierten Nächte liegen hinter mir. An den Sehenswürdigkeiten der Stadt, die ich früher fasziniert aus Fernsehserien oder Filmen wieder erkannt habe, fahre ich heute achtlos vorbei. Der Arbeits-Alltag hat mich eingeholt und obwohl ich zwischendurch immer mal wieder versucht habe, mich ihm zu entziehen, die Zeit der Unabhängigkeit noch ein klein wenig zu verlängern, kann ich dem geregelten Leben nicht entfliehen. Offensichtlich eine Frage der Erziehung.

In dieser Nacht sitze ich in der Bahn auf dem Weg zurück zur Warschauer Straße und schaue es dem Fenster. Berlin besitzt – soweit ich weiß – die einzige U-Bahn, in der es sich lohnt, aus dem Fenster zu schauen, denn die U1 fährt fast auf ihrer gesamten Strecke durch das Künstler- und Szene-Viertel Kreuzberg auf einem Stahlgerüst ca. 5 Meter über der Straße entlang. Diese Tatsache hat mich schon immer fasziniert und als Berlin-Neuling vor allem irritiert. Wer sucht schon mit dem Blick noch oben gewandt nach einem U-Bahn-Eingang? In meiner Hand, die ich zum Schutz vor der Kälte tief in den Ärmel meiner dicken Winterjacke eingezogen habe, halte ich ein „Wegbier“. Auch etwas, das ich erst hier kennen gelernt habe. Wegbiere gab es bei uns auf dem Dorf nicht. Man hatte ja kaum lange Wege zurück zu legen. Hier habe ich mir das Wegbier angewöhnt. Vor allem nachts auf dem Rückweg nach Hause, wenn man an der U- oder S-Bahn-Station ankommt und feststellen muss, dass man seine Bahn soeben verpasst hat und die nächste Bahn erst in 15 Minuten fährt.

In der Bahn herrscht trotz der fortgeschrittenen Stunde mehr oder weniger reges Leben. Mir gegenüber sitzt ein knutschendes Punker-Pärchen. Ihre Iros bekommen sich beim Küssen immer wieder „in die Haare“ und ich überlege mir, was passieren würde, wenn sich eines ihrer Piercings an dem des anderen verheddert und sie nicht mehr voneinander loskämen. Die Vorstellung bringt mich zum Kichern. Neben mir diskutiert eine Gruppe junger Spanier lauthals über die fantastische Clubszene in Berlin und darüber, wie toll es doch sein muss, in dieser Stadt zu leben. Komisch, noch vor einigen Jahren ging es mir in Barcelona genauso.

Das ganze Bahn-Abteil scheint vor Stimmen und Stimmungen nur so zu schwirren und mir wird bewusst, dass ich gerade völlig entspannt bin. Ich ertappe mich dabei, dass ich vor mich hin grinse und überlege mir, was meine Mitfahrer wohl von mir denken. Sicherlich schieben sie mein dümmliches, abwesendes Grinsen dem Wegbier in meiner Hand zu, womit sie nicht ganz unrecht hätten. Aber da ist noch mehr. Da ist das Gefühl, zu Hause zu sein, das Gefühl, genau zu wissen, wo man ist und was man hier macht, sich wohl zu fühlen, dort wo man ist. Das Wissen, alles um sich herum schon Tausend mal gesehen zu haben. Zu wissen, dass man gleich an der Warschauer Straße aussteigen wird und über die Warschauer Brücke nach Friedrichshain reinlaufen wird. Auf der Brücke werden trotz der späten Stunde noch mehr Menschen unterwegs sein als in dem Dorf, in dem ich groß geworden bin, zur Rush-Hour. Mitten auf der Brücke wird der Blick nach Links wandern, über die dunklen Bahngleise hin zum Alexanderplatz und dem erleuchteten Telespargel, der mich immer zu grüßen scheint, wenn ich hier aussteige. Keinen anderen Platz Berlins, keinen anderer Anblick verbinde ich tiefer mit dem Gefühl, zu Hause zu sein, als den Blick von der Warschauer Brücke auf die schlafende Stadt.

Vorbei am Döner an der Ecke, der auch um fünf Uhr morgens immer noch voll ist, geht es durch die nächtlichen Straßen, die im dunkeln gar nicht mehr so dreckig aussehen. Die beschmierten Hauswände verschwinden in den Schatten der Dunkelheit, der Blick wird von den Leuchtreklamen der Geschäfte und den letzten Kneipen, die um diese Uhrzeit noch geöffnet haben, angezogen. Ich folge dem Strom der Menschen, die aus der Bahn steigen und sich teilweise laut lachend und gestikulierend, teilweise ganz ruhig und still auf ihren Nachhauseweg machen. Unmerklich zieht mit dieser Strom immer weiter hinein in „meinen Kiez“. Ich genieße die kalte, nächtliche Winterluft, das Gefühl, ganz alleine mitten in der Nacht in so einer großen Stadt unterwegs sein zu können, ohne Angst haben zu müssen, immer von Menschen umgeben zu sein und trotzdem meine Distanz wahren zu können.

Ich biege ab in die kleine, baumgesäumte Straße, in der ich wohne, schleppe mich die Treppen in den vierten Stock des Hinterhauses hoch und versuche, so leise wie möglich, die Tür zu meiner Wohnung aufzuschließen, damit mein Freund nicht wach wird, der sicherlich schon seit einigen Stunden schläft. Ich stelle mein Bier auf dem kleinen Tischchen im Flug ab, ziehe meine nassen Schuhe aus, hänge meine Jacke auf und werfe aus dem Wohnzimmer-Fenster einen Blick auf die Fassade des Nachbar-Hauses. Auch hier brennt in einigen Fenstern noch Licht. Auch hier sind noch Menschen wach, kommen gerade nach Hause oder stehen schon wieder auf, um sich auf den Weg zur Frühschicht zu machen. Diese Stadt schläft nicht, das Leben pulsiert in ihr und mein Herzschlag scheint durch eine unsichtbare Verbindung mit ihr verwoben.

Ich bin glücklich. Heute Nacht liebe ich diese Stadt, ihr Leben, ihren Puls, ihre Einmaligkeit. So lange, bis ich am nächsten Morgen verkatert aus dem Fenster schaue und mir ein neuer nasser, kalter, grauer Tag ins Gesicht blickt.

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Tag der Veröffentlichung: 27.04.2009

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