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Schmerz schoss durch ihren Arm. Schmerz, den sie willkommen hieß, er ließ sie für kurze Zeit vergessen was passiert war... Ihr war klar, dass das was sie tat keine Lösung war, doch sie hatte keine Kraft eine richtige Lösung zu suchen. Immer wieder zog sie die Klinge über ihren Arm und spürte immer wieder aufs Neue den erlösenden Schmerz. Blut rann ihren Arm entlang, doch sie kümmerte sich nicht darum. „David! Oh David!“, flüsterte sie mit rauer Stimme und Tränen in den Augen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem alles begonnen hatte...


Sie spazierte durch den Wald. Es war ein kühler Herbstmorgen, erste, zarte Sonnenstrahlen brachen durch das bunte Blätterdach und die Vögel pfiffen fröhlich ihre Lieder. Sie konnte gar nicht beschreiben, wie sehr sie den Herbst hier im Wald liebte... Die Reinheit der Natur machte sie einfach glücklich. Sie sah den Wald mit anderen Augen, als viele ihrer Klassenkameraden und wurde oft dafür verspottet, doch es machte ihr nichts aus...
Vor ihr ging ein langsamer, alter Mann, der sich auf einen Stock stützte. Auch er schien die Natur zu bewundern. Es war einfach idyllisch! Doch plötzlich wurde diese Idylle durch einen Aufschrei zerstört, der alte Mann fiel zu Boden. Ohne lange darüber nachzudenken, was sie eigentlich tat rannte sie zu ihm. Im selben Moment kam auch ein Jogger um die Wegbiegung gerannt. Ohne miteinander geredet zu haben fingen die beiden an erste Hilfe zu leisten. Der Jogger legte den alten Mann in die stabile Seitenlage und überprüfte seine Atmung, während sie versuchte mit ihrem Schal die Blutung am Kopf des Mannes zu stoppen und einen Krankenwagen rief. Sie konzentrierte sich ganz auf die Blutung und vergaß fast, dass der Jogger auch noch da war, bis der Krankenwagen kam. Erst als der alte Mann auf dem Weg ins Krankenhaus war, sah sie den Jogger wirklich an. Er war relativ groß, sportlich gebaut, hatte intensiv grüne Augen, dunkelblonde, kurze Haare und ein hübsches Gesicht. „Ein Glück, dass Sie da waren, ohne Ihre Hilfe hätte ich dem Mann wahrscheinlich wenig helfen können.“, bedankte sie sich für seine Hilfe. „Also in meinen Augen haben Sie ihm schon sehr gut geholfen.“, antwortete er mit einem Lächeln, das ihr Herz höher schlagen ließ. „Finden Sie? Ich hab nämlich keine Ahnung von erster Hilfe. Und Sie müssen mich nicht siezen, dann fühle ich mich immer so alt.“ „Ja, finde ich. Dann musst du mich aber auch nicht siezen. Hast du Lust auf den Schock noch einen Kaffee trinken zu gehen?“ „Ja, gerne. Wie heißt du eigentlich?“ „David. Und du?“ „Thea.“ „Okay, Thea, was hältst du davon, wenn wir in mein Lieblingscafé gehen?“ „Ja, gerne.“ Das Café lag in einer ruhigen Seitenstraße und machte einen verwunschenen Eindruck. Die nicht zusammenpassenden Möbel gaben ihm einen gewissen Charme... Obwohl sie David erst so kurz kannte hatte sie den Eindruck, dass das Café irgendwie zu ihm passte. Er schien ihr geheimnisvoll und chaotisch zu sein, doch sicher war sie sich nicht. Sie tranken Kaffee und unterhielten sich über Gott und die Welt, bis Theas Handy klingelte. Es war ihre Mutter, die mal wieder ihr unschlagbares Talent darin bewies, ihre Tochter zu stören, wenn diese ungestört sein wollte. „Du David, das war meine Mutter, ich soll nach Hause kommen. Sorry. Ich hätte mich gerne noch weiter mit dir unterhalten.“, verabschiedete sie sich nach dem Telefonat von ihm. „Schade, dass du schon gehen musst. Soll ich dich noch nach Hause fahren? Mein Auto steht gleich um die Ecke.“ „Wenn's dir nichts ausmacht, gerne, ich müsste nämlich sonst den Bus nehmen.“ „Mir macht's nichts aus. Ich fahr dich gerne.“ Er lächelte. Beim Hinausgehen aus dem Café hielt er ihr ganz gentlemanlike die Tür auf. Einen so charmanten Jungen hatte sie noch nie getroffen, die Jungs in ihrem Alter machten fast alle einen auf dicke Hose und gaben nicht viel auf gutes Benehmen. Sie musste sich eingestehen, dass David ihr durchaus gefiel.

Als er sie vor ihrer Haustür abgesetzt hatte, war sie fast schon traurig, dass sich ihre Wege nach nur zwei Stunden schon wieder trennen mussten. „Danke fürs heimfahren. Tschüss.“, verabschiedete sie sich. „Hey Thea, warte mal, ich würde dich gern wiedersehen. Wenn du Lust hast kannst du dich mal bei mir melden.“, sagte er und kritzelte seine Handynummer auf ihre Hand. „Ok, ich meld mich bei dir. Jetzt muss ich aber rein. Tschüss.“, antwortete sie glücklich grinsend „Tschüss.“ Sie winkte ihm zum Abschied hinterher. Ja, sie war sogar ein bisschen traurig, als sein Auto um die Ecke verschwunden war... Es schien sie tatsächlich zu geben, die Liebe auf den ersten Blick.
Den ganzen Tag wollte ihr sein Lachen, seine Stimme und seine intensiv grünen Augen nicht mehr aus dem Kopf gehen und immer wenn sie an ihn dachte, merkte sie, wie sich ein Lächeln auf ihr Gesicht schlich. Sie hatte eine gewisse Sehnsucht nach ihm, die immer stärker wurde, je länger es her war, dass sie ihn getroffen hatte. Gegen Abend hielt sie diese Sehnsucht nicht mehr aus und schrieb ihm eine SMS: „Hey David, ich würde dich auch gerne wiedersehen. Wann hast du denn mal Zeit? LG Thea“ Keine fünf Minuten später kam schon eine Antwort von ihm: „Hallo Thea, wie wär's mit Samstag, 15h im Café?“ „Ja, das passt super :). Freu mich schon!“ „Ich freu mich dich zu sehen :)!“ Sie war außer sich vor Freude, sie hatte tatsächlich ein Date mit David und er freute sich sogar darauf sie zu sehen!

Die Zeit bis Samstag erschien ihr ewig, dabei waren es nur 4 Tage. Als es dann schließlich Samstag war, sah Thea dem Treffen gespannt und auch etwas nervös entgegen. Sie zählte die Stunden, Minuten und Sekunden, bis sie ihn wiedersah. Bevor sie das Haus verließ überprüfte sie noch einmal, ob ihr Outfit wirklich angemessen war. Schwarzes T-Shirt, Jeans, weißer Schlauchschal und schwarzer Cardigan schienen ihr angemessen zu sein, also machte sie sich leichtfüßig auf den Weg. Vor dem Café wartete David schon auf sie. Auch er schien nervös zu sein, denn er spielte, wie ihr auffiel, bis sie das Café betraten mit seinen Jackenärmeln. Doch mit Betreten des Cafés schien die Nervosität von beiden abzufallen. Sie setzten sich an den selben Tisch, wie bei ihrem zufälligen Treffen. Die Erinnerung daran ließ Thea lächeln. „Ich mag dein Lächeln.“, platzte es aus David heraus. Noch stärker lächelnd antwortete sie: „Ich mag deins auch.“ David lächelte nun ebenfalls. Sekundenlang sahen sie sich einfach nur in die Augen. Bis David sich vorsichtig zu ihr rüberbeugte und sie mit einem Blick fragte, ob sie einverstanden war. Ihr Kopf näherte sich seinem, bis ihre Lippen schließlich aufeinander trafen. Thea spürte seine Lippen sanft auf ihren. So hatte sie es sich 16 Jahre lang vorgestellt von einem Jungen geküsst zu werden. Als sie sich wieder voneinander lösten blickte sie ihn atemlos an. Wandte ihren Blick jedoch verlegen wieder ab, weil er ihr so liebevoll und gleichzeitig etwas von sich selbst überrascht direkt in die Augen sah. „Hey Thea, was ist los? Hab ich irgendwas falsch gemacht?“, fragte David unsicher. „Du hast nichts falsch gemacht, wie du mich anguckst macht mich nur verlegen.“ „Oh, sorry! Es is nur so, dass ich dich gerne anschaue.“ „Du kannst mich auch angucken, aber nicht so wie eben, als ob du dir nicht sicher wärst das richtige gemacht zu haben.“ „Ich war mir kurzzeitig nicht sicher, eigentlich ist es nämlich nicht meine Art ein Mädchen gleich beim ersten richtigen Date kurz nach der Begrüßung schon zu küssen. Aber ich glaube, es war ok so wie ich's gemacht hab oder?“ „Ja, ich küss normalerweise auch nicht sofort jeden, also genau genommen hab ich vorher noch nie jemanden geküsst, aber egal. Es war ok und ich fand's schön.“ „Gut, dann bin ich beruhigt.“ Wie schon bei ihrem ersten Treffen unterhielten sich die beiden ewig und vergaßen dabei alles um sich herum. Auch diesmal wurden sie überraschend aus ihrem Gespräch gerissen, jedoch nicht wieder durch Theas Handy, sondern durch die Besitzerin des Cafés, die sie aufforderte den Laden zu verlassen, da sie schließen wollte. Draußen war es schon am Dunkelwerden, als sie Hand in Hand das Café verließen. Die Sonne verschwand gerade hinter den Häusern der Innenstadt und tauchte die Welt in einen orangefarbenen Mantel, während sich die beiden noch einmal küssten, diesmal länger und fordernder. Nach dem Kuss standen sie sich einfach gegenüber, hielten sich an den Händen uns sahen sich tief in die Augen. Davids Blick war so intensiv, dass Thea hätte schwören können, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Als sich ihre Blicke nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten flüsterte er leise: „Ich habe mich in dich verliebt. Innerhalb von den wenigen Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben.“ Ungläubig schaute sie ihn an, sie musste sich diese beiden Sätze eingebildet haben! Es konnte doch nicht sein, dass ihr Traumtyp, den sie erst so kurz kannte, dasselbe für sie empfand, wie sie für ihn, oder?! „Hab ich was Falsches gesagt? Ich weiß es ist eigentlich viel zu früh für so ein Geständnis, sorry...“, sagte er zerknirscht und unsicher. „Nein, du hast nichts Falsches gesagt, ich war nur überrumpelt.“, antwortete Thea schüchtern. Leise fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich habe mich auch in dich verliebt.“ Der Kuss, der auf dieses Geständnis folgte, war sanfter und schüchterner, als die beiden Küsse zuvor und machte beiden klar, dass sie zusammen gehörten. Ohne je darüber geredet zu haben betrachteten sie sich ab diesem Moment als Paar.

Abends lag Thea noch lange wach und dachte darüber nach, wie schnell sie mit David zusammen kam. Fast zu schnell... Doch sie ließ diese leichten Zweifel nicht zu, sie wollte glücklich sein und mit David war sie glücklich. Es war ihr egal, dass er 6 Jahre älter war als sie, dass er studierte, während sie die 11. Klasse besuchte und sich in der Schule fast zu Tode langweilte (was aber nicht mehr lange so sein sollte...). Ihr war egal, dass ihre Eltern und ihre Freunde ihn wegen seinem Alter wohl nicht akzeptieren würden und dass die Beziehung wahrscheinlich auf viel Widerstand stoßen würde. Sie liebte ihn und das war das Einzige, das zählte.

Sie trafen sich immer, wenn Davids Studium es zuließ, Französisch und Latein auf Lehramt zu studieren und sich dabei noch auf sein nach den Herbstferien beginnendes Referendariat vorzubereiten nahm jedoch einen Großteil seiner Zeit in Anspruch. Thea freute sich auf jedes Treffen so sehr, wie auf ihr erstes richtiges Date. David und sie unternahmen immer was anderes, mal gingen sie spazieren, mal eislaufen, mal ins Café, doch eines war immer gleich: Ihre verliebten Blicke und die Küsse die sie austauschten. Beide hatten schon über Sex nachgedacht, ohne dass der jeweils andere davon wusste, doch sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass sie damit warten wollten, bis sie etwas länger als 2 Wochen zusammen waren. Ihr vorerst letztes Treffen hatten sie am letzten Tag der Herbstferien.
Am ersten Schultag erzählte Thea ihren Freundinnen freudestrahlend von ihrem neuen Freund. Doch diese waren nicht so begeistert davon, dass sich Thea mit einem 6 Jahre älteren Mann einließ, der ihrer Einschätzung nach sowieso ein Player war. Enttäuscht ging Thea alleine in ihren Französischleistungskurs und setzte sich nicht wie gewohnt in die dritte Reihe neben ihre beste Freundin, sondern in die hinterste Ecke, neben den Nerd ihres Kurses, den sie eigentlich gar nicht leiden konnte. Wieso konnten ihre Freundinnen nicht einfach akzeptieren, dass sie David liebte? Ja, ihr war klar gewesen, dass diese Beziehung Probleme mit sich bringen würde und ihr war auch klar gewesen, dass es schwer sein könnte ihre Freundinnen für ihn zu begeistern, aber dass sie gleich so reagierten hätte sie nicht erwartet. Es schockte sie, dass sie sich so sehr in Menschen geirrt hatte, die sie seit Jahren kannte. Doch das sollte nicht der einzige Schock für diesen Tag sein...
Den zweiten Schock bekam sie, als ihre Französischlehrerin den Raum in, ihr nur allzu gut bekannter, männlicher Begleitung betrat...

„Bonjour mes élèves!“, begann die Lehrerin den Unterricht, worauf der Kurs mit einem verschlafenen: „Bonjour Madame!“ antwortete. „Wie Sie sehen, habe ich heute jemanden mitgebracht. Das ist Herr Lange unser neuer Referendar für Französisch und Latein. Aber er kann sich ja selbst vorstellen.“ Entgeistert starrte Thea nach vorne. Nein! Das konnte einfach nicht sein! Es konnte einfach nicht David sein, der da vorne stand. Es konnte nicht sein, dass er jetzt ihr Lehrer war, dass ihre Beziehung ab jetzt verboten war! Ihre Gedanken kreisten einfach nur noch um die Frage: Warum hatten sie nie darüber geredet, an welcher Schule David sein Referendariat machen würde?! Auch David schaute reichlich verwirrt in ihre Richtung. Sein Gedankengang entsprach in etwa dem ihrigen. Doch er musste sich konzentrieren, also begann er einfach sich vorzustellen. „Bonjour classe! Je suis Monsieur Lange, comme Madame Schmitt a déjà dit. J'étudie le français et le latin à l'université d'ici. Je suis votre prof stagiaire. Et je crois que je vais faire aussi des courses dans votre classe. Est-ce que vous avez des questions?“ Thea starrte ihn immer noch an. „Was glotzt du den denn so komisch an? Hat der so was Interessantes gesagt?“, fragte der Nerd neben ihr. „Nein, er hat nur gesagt, wie er heißt, dass er Französisch und Latein an der Uni hier studiert und dass er unser Referendar ist. Achso und dass er auch mal Unterricht macht.“ „Aha, das erklärt zwar nicht, warum du ihn so anguckst, aber egal.“, murmelte der Junge. „Darf ich ihn denn nicht angucken, wie ich will?“, murmelte sie. „Doch, doch, sorry.“

Sie versuchte David so normal wie möglich anzuschauen, doch es gelang ihr nicht, was auch nicht weiter verwunderlich war, wenn sie sich die Situation jetzt im Nachhinein vorstellte. Auch David fiel es nicht leicht vorne zu stehen und so zu tun, als würde er niemanden aus dem Kurs kennen. Er war regelrecht erleichtert, als die Klingel die Stunde beendete und Thea als eine der Ersten aus dem Klassenraum stürmte. Ihr ersparte das Klingeln weitere Fragen ihres Sitznachbarn und die Qual David länger da vorne vollkommen verwirrt und irgendwie auch traurig stehen zu sehen, während sie sich beide bemühten die Fassung zu bewahren. Sobald sie das Klassenzimmer verlassen hatte konnte sie sich jedoch nicht mehr beherrschen und begann hemmungslos zu weinen. Wie hatte ihr nur so ein grober Fehler unterlaufen können, ihn nicht zu fragen an welcher Schule er sein Referendariat machte? Sie hätte sich nie, wirklich nie auf eine Beziehung mit einem angehenden Lehrer einlassen sollen! Sie sah ja jetzt, was sie davon hatte, nur Sorgen, Liebeskummer, weil sie ihn ja schließlich jetzt nicht mehr treffen konnte und dumme Fragen von Leuten, die sie kaum kannte. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es noch schlimmer kommen sollte...

Als sie nachmittags die Schule verlassen konnte ohne David noch ein weiteres Mal über den Weg gelaufen zu sein, erwartete sie zuhause schon vor der Haustür eine Überraschung von der sie nicht wusste, ob sie sie gut oder schlecht finden sollte. Schon von Weitem sah sie sein Auto vor ihrem Haus stehen, ihr war sofort klar, dass das kein Zufall war. Ihr war klar, dass er genauso verwirrt und aufgewühlt sein musste wie sie. Sie entschied sich, mit ihm zu reden und Schluss zu machen, so sehr sie ihn auch liebte, sie konnte diese Beziehung auf Dauer nicht aushalten, ihr war ja schon dieser eine Tag voll Heimlichtuerei zu viel gewesen. Langsam ging sie auf sein Auto zu. Als er sie im Rückspiegel erkannte stieg er aus und wartete, bis sie von selbst zu ihm kam, er wollte sie nicht dazu nötigen mit ihm zu sprechen, wenn sie nicht mit ihm reden wollte würde er das akzeptieren (müssen). „David, wir müssen reden.“ „Ja, das müssen wir.“ „Warum hast du mir nie gesagt, an welcher Schule du dein Referendariat machst?“ „Ich fand es nicht wichtig. Ich dachte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einer Großstadt an der selben Schule bin, wie du sei so verschwindend gering, dass es egal is, an welcher Schule ich mein Referendariat mache. Du hast mir ja auch nicht gesagt, an welcher Schule du bist!“ „Ok. Aber jetzt zu diskutieren, wer schuld ist, hat keinen Sinn, wir sind wohl beide schuld. Wichtiger ist was wir jetzt unternehmen. Sollen wir zusammen bleiben und damit deine Suspendierung riskieren oder lieber jetzt Schluss machen und so tun, als sei nichts gewesen?“ „Thea, bitte, stell mich nicht vor die Wahl zwischen dir und meinem Job! Es ist mir wichtig Lehrer zu werden, aber mindestens genauso wichtig mit dir zusammen zu sein!“ „Bitte entscheide dich! Ich will nicht diejenige sein, die diese Entscheidung fällt, ich kann sie ja eigentlich noch nicht mal fällen, weil es ja um deine Karriere geht, nicht um meine!“ „Ok, Thea. Ich liebe dich und deshalb möchte ich weiterhin mit dir zusammen sein, wenn dir das recht ist, aber wir müssen extrem vorsichtig sein!“ „Ich liebe dich doch auch. Wir versuchen's ok? Ich weiß nicht, ob ich mit meinen 16 Jahren dem Druck einer verbotenen Beziehung wirklich gewachsen bin, aber ich gebe uns eine Chance.“ Sie verstand selbst nicht wieso sie ihr Vorhaben Schluss zu machen nicht in die Tat umgesetzt hatte, aber gegen Liebe war wohl selbst ihr Verstand machtlos... Nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, ob sie niemand beobachtete, kam David einen Schritt näher und umarmte sie. Thea war froh, dass er sie umarmte und nicht küsste, einem Kuss wäre sie nach diesem Tag wohl doch noch nicht gewachsen gewesen, doch die Umarmung tat ihr einfach gut, durch sie merkte sie, dass er sie verstand, ihre Zweifel akzeptierte und sie bedingungslos liebte. Nach einiger Zeit löste sie sich aus der Umarmung, verabschiedete sich und verschwand im Haus. Sie brauchte jetzt Zeit für sich, um mit der veränderten Situation klarzukommen. Oh man, sie führte jetzt also offiziell eine inoffizielle, illegale Beziehung mit einem Referendar. Wenn das keinen Ärger geben würde...

Über ein halbes Jahr lang ging alles gut. Sie trafen sich in abgelegenen Parks und unternahmen von dort aus Ausflüge in die umliegenden Wälder und Städtchen. Nie sah sie jemand. Bis zu diesem verhängnisvollen Juniwochenende...
Sie hatten beschlossen dieses Wochenende gemeinsam am Meer zu verbringen, es war Davids 23. Geburtstag und sein einziger Wunsch war gewesen, dass sie mit ihm ans Meer fuhr und diesen Wunsch erfüllte sie ihm gerne. Außerdem wollte sie ihm ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk machen...

An seinem Geburtstag erwartete sie ihn nur mit Unterwäsche bekleidet in einer sexy Pose auf ihrem gemeinsamen Bett. „Happy Birthday, mein Süßer. Ich habe ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk für dich: Ich schenke dir etwas, was vor und nach dir keiner bekommen hat beziehungsweise bekommen wird: Meine Jungfräulichkeit.“ „Wow! Aber bist du dir wirklich sicher, dass du mir so was einmaliges schenken möchtest? Ich will nämlich nicht, dass du mir Sex schenkst, weil du denkst, dass du das musst.“ „Ich bin mir sicher.“ Sie zog ihn zu sich aufs Bett und küsste ihn leidenschaftlich. Als sie spürte, dass er sich darauf einließ wurden ihre Küsse fordernder und sie strich mit ihren Händen sanft über seinen Körper. Er erwiderte die Berührungen. Voller Leidenschaft begann sie ihn auszuziehen und seinen muskulösen Oberkörper mit Küssen zu übersähen. Auch er ging dazu über ihren Körper zu küssen. Erregt flüsterte er mit rauer Stimme: „Ich liebe dich, Thea!“ „Ich liebe dich auch!“, murmelte sie mindestens genauso erregt wie er und zog ihm vorsichtig seine Boxershort aus. Auch ihre Unterwäsche hatte inzwischen den Weg zum Boden gefunden. Als er in sie eindrang spürte sein einen kurzen Schmerz, doch dann nur noch Lust und Verlangen. Sie stöhnte leise auf, als er kam. Auch wenn sie nicht kam war dieser Sex schöner, als alles was sie zuvor erlebt hatte. Sie konnte nicht verstehen, wie sie es so lange hatte ohne aushalten können. Nach dem Geschlechtsverkehr lagen sie einfach nur geschwitzt nebeneinander auf dem Bett und atmeten schwer. „Wow.“, keuchte Thea, „Wow.“ David lächelte sie nur glücklich an.

Als sie sich beide wieder „beruhigt“ und angezogen hatten, schlenderten sie die Strandpromenade entlang, Hand in Hand, denn hier konnte sie ja schließlich keiner erwischen, glaubten sie zumindest.
An einem Aussichtspunkt betrachteten sie gemeinsam das Meer und küssten sich innig, bis sie durch ein eindringliches, männliches Räuspern gestört wurden. „Herr Lange, dürfte man mal erfahren, wieso sie hier eine Ihrer Schülerinnen küssen?“, fragte der Mann zu dem das Räuspern gehörte. „Ähm. Oh. Hallo, Herr Alt, was machen Sie denn hier?“, fragte Thea erschreckt. „Das selbe könnte ich dich fragen, Fräulein Jung.“ „Herr Alt, ich kann Ihnen das erklären...“, mischte sich David ein. „Na auf die Erklärung bin ich ja mal gespannt.“ „Thea und ich kennen uns schon länger. Wir waren schon ein Paar, bevor ich ihr Lehrer wurde.“ „Herr Lange, sie wissen genau, dass Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern beziehungsweise in Ihrem Fall zwischen Referendar und Schülerin verboten sind! Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie sich an dieses einfache Gesetz halten.“ „Es tut mir wirklich leid, Herr Alt, aber gegen die Liebe kann noch nicht einmal ein Gesetz etwas tun.“ „Ich habe keine Lust mir Ihre maroden Erklärungen hier länger anzuhören. Sie brauchen ab Montag nicht mehr in die Schule zu kommen, Sie sind suspendiert! Auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen, Herr Alt.“, murmelte David geknickt.

Als Herr Alt gegangen war, fing Thea an zu fluchen: „Fuck, warum war denn der Direx jetzt hier? Spioniert der uns etwa hinterher? Scheiße, scheiße, scheiße, man David, was sollen wir jetzt bloß tun?“ „Ich weiß es doch auch nicht, Thea. Verdammt ich bin meinen Job los!“, erwiderte er den Tränen nahe. Sie schüttelte einfach nur ungläubig den Kopf und fluchte weiter vor sich hin. Ihre fast perfekte geheime, verbotene Beziehung war so plötzlich einfach aufgeflogen, zerstört worden, dass sie es einfach nicht fassen konnte. Sie merkte, wie Tränen über ihr Gesicht flossen, doch es war ihr egal. David begann nun ebenfalls zu weinen. Er hatte seinen Traumjob verloren, würde wahrscheinlich die Beziehung zu seiner großen Liebe verboten bekommen, was hatte er noch für einen Grund fröhlich zu sein, ja überhaupt zu leben? Als Thea seine Tränen sah, hatte sie das starke Bedürfnis ihn zu trösten und zu schützen, also umarmte sie ihn einfach und vergrub ihr nasses Gesicht tief in seinem T-Shirt, während er seinen Kopf an ihren lehnte. Sie standen eine ganze Weile so verzweifelt da und rührten sich nicht, bis ihre Gesichter wieder getrocknet waren.

„Jetzt ist unsere Beziehung wenigstens nicht mehr illegal...“, versuchte Thea die Situation aufzulockern. „Aber dafür bin ich jetzt meinen Traumjob los! Thea, du verstehst nicht, wie wichtig mir dieser Job war!“ „Ich will jetzt nicht mit dir streiten, David. Wir sollten vielleicht erst mal wieder runterkommen, uns beruhigen und dann in ein paar Minuten weiter reden.“ Mit diesen Worten drehte Thea sich um und rannte in Richtung Strand. Sie wollte nicht, dass er sah, wie sehr sie sein letzter Satz verletzt hatte. Sie verstand sehr wohl, wie viel ihm sein Job bedeutete!
Wütend und traurig joggte sie am Meer entlang, durch ihre Tränen konnte sie nur noch verschwommen sehen.

Als sie zum Hotel zurückkehrte, um mit David zu reden, war dieser nicht da. Auch seine Sachen waren alle verschwunden. Thea bekam Panik, wo war er?! Sie suchte noch einmal nach seiner Kleidung, doch alle Spuren von ihm waren verschwunden! Verwirrt setzte sie sich aufs Bett und starrte den Boden an, als sie plötzlich einen Zettel sah. Sie hob ihn auf und las ihn: „Liebe Thea, ich musste nachdenken, was ich jetzt mache, deshalb bin ich schon abgereist, um zuhause meinen Rechtsanwalt aufzusuchen. Ich schicke dir morgen meine Mutter, damit sie dich abholt. Bitte entschuldige meinen überstürzten Aufbruch. Ich liebe dich, bis demnächst David :*“ Entsetzt starrte sie das kleine Blatt Papier in ihrer Hand an. Wie konnte er einfach ohne sie wegfahren? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie verstand ihn einfach nicht! Schon wieder begann sie zu weinen. Liebte er sie überhaupt, wenn er einfach so wegfuhr? Von Selbstzweifeln und unbeantworteten Fragen zerfressen schlief sie schließlich erschöpft und alleine ein.

Am nächsten Morgen wartete tatsächlich seine Mutter auf sie. Thea hatte Frau Lange bisher erst einmal gesehen, doch die Mittfünfzigerin war ihr gleich sympathisch gewesen. Sie unterhielt sich auf der Autofahrt jedoch möglichst wenig mit ihr, da sie nicht wollte, dass Davids Mutter merkte, wie verletzt sie durch seine plötzliche Abreise war. Sie hasste es, wenn man ihre Gefühle in ihrer Stimme hören konnte. Doch kurz vor ihrer Heimatstadt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten und fing hemmungslos an zu weinen. „Thea, was ist denn los? Was ist zwischen David und dir passiert?“, fragte Frau Lange bestürzt. „Ach, es ist egal. Jetzt kann man sowieso nichts mehr dran ändern!“, schluchzte Thea. „Kind, bitte rede mit mir, ich mache mir Sorgen. David war gestern auch schon so komisch, als er mich angerufen hat.“ „Kennen Sie das Gefühl vollkommen machtlos zu sein? Dieses Gefühl habe ich grade! Wir wurden erwischt, verdammt!“ „Wie erwischt, von wem denn?“, erkundigte sich Davids Mutter verwirrt. „Na vom Direktor! David war bis gestern mein Lehrer...“ Die ältere Frau wurde kreidebleich und starrte das Mädchen entsetzt an. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr Sohn und seine Thea, mit der er so glücklich war, keine normale Beziehung führten, sondern ständig auf der Flucht vor neugierigen Mitschülern und Lehrern waren. Sie konnte es nicht fassen, dass er sich auf so eine törichte Sache eingelassen hatte... Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft.

Der Montag in der Schule war ein einziger Horror. Es fing in der Französischstunde an. Eine ihrer Mitschülerinnen fragte wo denn „Monsieur Lange“ sei. Worauf die Französischlehrerin antwortete: „Bon, ben, il est renvoyé d'école, parce-qu'il avait eu une relation avec une élève de notre cours de français. C'est dommage parce-qu'il était un vraiment bon prof, mais, comme vous devez savoir, c'est la vie...“ Der Junge neben Thea verstand mal wieder nicht was die Lehrerin sagte, sodass Thea es ihm leise und mit leicht zitternder Stimme übersetzte: „Also, ähm, er ist entlassen worden, weil er eine Beziehung mit einer Schülerin unseres Kurses hatte. Das ist schade, weil er ein wirklich guter Lehrer war, aber, wie Sie wissen sollten, so ist das Leben...“ „Oh, ok... Sag mal, so wie deine Stimme zittert, könnte man ja fast meinen, du wärst das Mädchen...“, antwortete der Junge. Sie kommentierte es nicht weiter, was der Junge wohl als Bestätigung seiner Annahme empfand, doch es war ihr egal. Ihr war alles egal. Sie war schuld, dass David seinen Traumjob verloren hatte...

So ging es den ganzen Tag weiter, in fast jedem Kurs ließ der Lehrer eine kurze Bemerkung zu ihrer Beziehung mit David fallen, ohne dabei jedoch ihren Namen zu erwähnen. Am Ende des Schultages war jedoch der ganzen Schule klar, dass sie dieses Mädchen war und sie musste sich entsprechende Sprüche anhören. Solche wie der ihrer besten Freundin: „Sag mal, du hast sie doch nicht mehr alle! Wieso hast du was mit einem Lehrer angefangen? Hä? Ich versteh dich nicht mehr! Du hast doch 'nen Vaterkomplex, geh mal zum Psychiater!“ Es verletzte Thea sehr, dass selbst ihre beste Freundin sich gegen sie gestellt hatte. Sie hatte gedacht, dass sie wenigstens ihr vertrauen könnte, doch offensichtlich hatte sie sich in ihr geirrt...

Traurig ging sie nachhause. Jetzt hatte sie also innerhalb eines Tages ihren gesamten Freundeskreis verloren und wurde von der gesamten Schule verachtet. Sie hielt den Kopf gesenkt, um nicht noch mehr Leute zu sehen, die nichts mehr von ihr wissen wollten. So bemerkte sie auch erst, dass die Polizei vor ihrer Haustür stand, als sie fast in einen Polizisten reingerannt wäre. „Vorsicht, junge Dame!“ „Oh, Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gesehen. Warum stehen Sie vor meinem Haus? Ist etwas passiert?“ „Sind Sie Thea Jung?“ „Ja, die bin ich. Was ist denn los?“ „Wir haben unerfreuliche Nachrichten für Sie.“, sagte eine rothaarige Polizistin, die gerade dazugestoßen war. „Oh. Ist meinen Eltern was passiert?“ Panik machte sich in ihr breit. „Nein, Ihren Eltern geht es gut. Können wir vielleicht mit rein kommen? Ich glaube nämlich, dass Sie sich setzen sollten, bevor wir mit Ihnen reden.“ „Ok. Ja, klar.“ Unsicher öffnete sie die Haustür und bat die beiden Beamten hinein. Sie führte sie ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. „Also Frau Jung, sie waren doch mit David Lange liiert, oder?“ „Ja. Was ist mit ihm? Falls Sie mit mir über unsere, ziemlich illegale, Beziehung reden möchten, dazu kann ich nur sagen: Es hat angefangen, bevor er mein Lehrer war.“ „Darüber wollten wir eigentlich nicht reden. Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie: David Lange ist tot.“ „WAS?! Das kann nicht sein! David kann nicht tot sein!“ „Doch, es tut uns leid, er hat sich umgebracht.“ „NEIN! Das kann doch nicht sein, er würde sich nie umbringen!“ Sie wollte es nicht akzeptieren, sie konnte nicht, ihr David lebte noch, sie war sich sicher. Sie fuhr sich durch die langen, braunen Haare. „ER IST NICHT TOT!“, schrie sie. „Frau Jung, bitte beruhigen Sie sich. Er ist tot. Wir haben ihn heute morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Auf dem Boden lag dieser Brief.“, sagte die Polizistin beschwichtigend und hielt Thea einen Briefumschlag entgegen, welchen Thea sofort aufriss.

Liebste Thea,
wenn du diesen Brief bekommst, bin ich tot. Ich habe diesen Weg freiwillig gewählt. Ich hoffe du verstehst mich, nachdem du meine folgenden Worte gelesen hast... Ich habe es nicht mehr ausgehalten, hier auf der Erde. Du wusstest nichts davon, aber ich war depressiv. Bevor ich dich kennengelernt habe war es richtig schlimm, ich war deswegen in psychologischer Behandlung, aber es hat nichts geholfen. Aber dann habe ich dich getroffen, das wunderbarste tollste Mädchen, das ich je kennenlernen durfte. Deine braunen Haare umrahmten dein hübsches Gesicht wie ein perfekter Bilderrahmen das schönste Gemälde der Welt. Ich verliebte mich sofort in dich. Als ich dich wiedersah war ich einfach nur glücklich, ich konnte zum ersten mal seit langem alles vergessen, meine Depressionen, meinen Stress vom Studium einfach alles. Du hast mich immer glücklich gemacht. Unserer Beziehung war die schönste, die ich je hatte. Doch dann kam der letzte Samstag, als der Direktor uns erwischte kamen meine Selbstmordgedanken und Selbstzweifel zurück. Ich wollte dir in diesem Zustand nicht unter die Augen treten, deshalb fuhr ich einfach weg. Es tut mir unendlich leid, dass du so verzweifelt warst. Meine Mutter hat mir vorhin erzählt, du hättest im Auto sogar geweint. Ich wäre geblieben, wenn ich dich nicht lieben würde, aber ich liebe dich und deshalb wollte ich weg. Hier zuhause wurden die Gedanken aber schlimmer und schlimmer. Ich sehe keinen Ausweg mehr! Ich habe meinen Job verloren und ohne Job willst du mich sicher nicht mehr! Ich liebe dich, aber das kann mich nicht von dem nächsten Schritt abhalten.
Leb wohl meine Süße! Wir werden uns eines Tages wiedersehen und dann wird alles gut. Bitte zweifle nicht an meiner Liebe, denn ich werde dich immer lieben, egal ob ich lebe oder tot bin!
In Liebe
Dein David

Geschockt las Thea den Brief ein zweites Mal. Es war tatsächlich Davids Schrift! David war tot! Tränen rollten über ihre Wangen auf das Letzte, das ihr von ihm geblieben war. „Er kann doch nicht einfach tot sein!“, schluchzte sie. „Es tut uns wirklich leid, aber es ist so, er ist tot.“, versuchte die rothaarige Frau sie zu trösten. Zu ihrem Kollegen gewandt sagte sie: „Ruf mal bei der Notfallseelsorge an und frag wo die bleiben.“ Langsam begann Thea zu realisieren, was es bedeutete, dass ihr Freund tot war... Ihr wurde klar, dass sie ihn nie wiedersehen sehen würde, ihn nie wieder küssen würde, nie wieder umarmen... Sie fühlte sich klein und hilflos. Warum hatte er ihr nichts gesagt? Warum hatte er sich einfach so umgebracht? Warum hatte er nicht für sie weitergelebt? Hatte er sie überhaupt geliebt? Fragen über Fragen schwirrten durch ihren Kopf und auf keine von ihnen wusste sie eine gescheite Antwort. Mit der Frau von der Notfallseelsorge, die plötzlich einfach vor ihr stand, redete sie nicht, sie wollte vor keiner fremden Frau ihr gesamtes Liebesleben ausbreiten. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass David tot war! Sie hatten doch noch so viele gemeinsame Ziele gehabt!
Die nächsten 3 Monate zogen wie in einen Schleier gehüllt an ihr vorbei. Hunderte Menschen, wie es ihr vorkam, drückten ihr Beileid aus und versuchten sie aufzumuntern, doch sie wollte nicht mit ihnen reden. Sie zog sich vollkommen in sich zurück und begann sich selbst zu verletzen, weil sie nicht mehr mit ihren eigenen Gefühlen klarkam.


Erneut zog sie die Klinge über ihren Arm. Sie hätte nicht gedacht, dass es noch so schmerzhaft sein würde über das Geschehene nachzudenken. Das Blut färbte ihren Teppich rot, doch es war ihr egal, sie hatte fast alles verloren was ihr wichtig war! Ihre große Liebe war seit fast einem Jahr tot und sie kam immer noch nicht damit klar. Jeden Tag suchten ihre Augen David auf der Straße, in der Schule, wenn sie dann mal dort war und in seinem Lieblingscafé, doch sie fanden ihn nie. Nur das kleine Baby, das in seinem Bettchen lag und schlief hatte sie davon abgehalten David in den Tod zu folgen. Vier Monate nach seinem Tod hatte sie das kleine Wesen zum ersten Mal bemerkt, zuvor war ihr gar nichts aufgefallen, so sehr war sie in ihrer Trauer versunken. Abtreiben ging nicht mehr, das hätte sie auch nie übers Herz gebracht, also beschloss sie das Kind zu behalten. Ihre Eltern waren von Anfang an gegen das Kind gewesen, empfahlen ihr es zur Adoption freizugeben, doch Thea hatte sich nicht kleinkriegen lassen, Luc David war das einzige was ihr, außer dem Brief, von David geblieben war und es kam für sie gar nicht in Frage diesen wertvollen Schatz aufzugeben. Eigentlich wollte sie auch für ihren Kleinen das Schneiden aufgeben, doch so stark war ihr Wille nicht gewesen. Lächelnd sah sie zu ihrem schlafenden Jungen. Ja, es war richtig gewesen, was sie getan hatte, egal wie das alle anderen sahen, sie fand es vollkommen richtig.

Doch nur wenige Minuten später zweifelte sie schon wieder an sich. An das stetige Auf und Ab ihrer Gefühle würde sie sich wohl nie gewöhnen können, aber vielleicht, ganz vielleicht musste sie das ja auch gar nicht...

Impressum

Texte: brokenrose
Bildmaterialien: brokenrose
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2012

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