Die eiserne Nacht nahm einem fast den Atem. Der Mond schien kalt zwischen unzähligen kleinen Sternen vom weiten, dunklen Himmelszelt herab, an dem der leichte Wind fast schwarze Wolkenfetzen vor sich her trieb.
"Komm zu mir, komm zu mir...", säuselte der Wind, "Komm zu mir..."
Eine Frau in einem weißen Gewand erschien, so leicht gehend, dass sie zu schweben schien. Ihr Ausdruck schien kalt und eisern, aber doch so vertraut.
Immer wieder die selbe Person.
Immer wieder der gleiche, unbekannte Ort.
Immer wieder die gleichen Worte: Komm zu mir, folge mir...
Und immer wieder kann man ihr nicht folgen, wird in einem Meer aus menschlichen und tierischen Knochen zurückgelassen.
Ertrinkend in einer unaufhaltsamenden Masse aus Blut...
Das Klingeln ihres Weckers rettete Jane wieder einmal aus ihren Träumen. Verschlafen blinzelte sie in das warme Sonnenlicht, das durch das große Fenster an der Wand neben ihr zu ihr hinein lachte. Sie stand auf und reckte sich ausgiebig, bevor sie aus dem Zimmer schlenderte und die Tür hinter sich schloss.
"Jane, dass ist doch nicht dein Ernst!" Verblüfft schaute Janes Mutter ihr in die mit Augenringen und Tränensäcken gezierten Augen. "So kannst du doch nicht rumlaufen! Jetzt mal im Ernst: kämm dir die Haare und zieh dir was an! Du musst noch zur Schule!"
"Mann, Ma! Ich schaff das Schon. Ich esse sowieso nichts. Kannst du mich nicht mal zur Abwechslung zur Schule bringen? Ich muss heute ja noch ne Arbeit in Bio schreiben." Damals hatte Jane den Dackelblick bei ihrer Mutter ausüben können, doch seit sie diese Albträume hatte, wollte ihre Mutter ihr nicht einmal mehr in die einst so schönen, mittlerweile jedoch nicht mehr so ansehnlichen Augen blicken.
"Nein, so ein Junge hat eben angerufen. Wie hieß der noch mal? Jason, glaub ich. Naja, auf jeden Fall hat der gefragt, ob er dich mitnehmen soll. Ich habe ihm gesagt, er soll so in einer halben Stunde da sein."
"Und wann hasst du ihm das gesagt?"
"Vor zwanzig Minuten, also beeil dich!"
"Oh mein Gott! Ma!" Wütend sah Jane ihrer Mutter in die dunkelbraunen Augen. Sie selbst hatte glasklare, blaue Augen, beige braune Haare und dunkle Augenbrauen.
"Tut mir leid." Achselzuckend verschwand ihre Mutter in ihrem mit Doppelbett versehenem Zimmer, das sie ganz für sich alleine hatte. Jane war manchmal richtig eifersüchtig- obwohl sie selbst ja ein riesiges Zimmer besaß!
Schnell verschwand sie in dem geräumigen Badezimmer das sich neben dem Zimmer ihrer Mutter befand. Sie kämmte sich ausgiebig die Haare, die sich jedoch im Kampf mit dem Kamm nur noch mehr ineinander verfingen.
Als sie in den Spiegel blickte, sah sie eine müde Person ohne Lebensfreude an, die sie nicht zu kennen schien.
Damals hatte sie oft ihrem Spiegelbild entgegen geblickt und es ausführlich betrachtet. Früher schillerten ihre Augen in einem kristallklaren blau und ihre beigen Haare vielen geschmeidig wie Seide auf ihre Schultern hinab.
Mittlerweile fand sie sich jedoch abartig, hässlich und nicht gern gesehen.
Seit einem Jahr hatte sie diese Alpträume.
Seitdem ging sie nur noch selten unter Leute.
Traf sich kaum noch mit Freunden.
Fühlte sich allein und zurückgelassen.
Nur einer schien sie nicht aufgegeben zu haben.
Jason.
Er klingelte an der Tür und riss sie somit aus ihren Träumereien.Jane stürzte die Treppe hinunter, blickte noch einmal prüfend in den Spiegel und drehte sich um, um die Tür zu öffnen.
"Morgen...", begann Jason.
"Hey. Sollen wir dann mal los?" Sie sah ihm unsicher, verlegen aber auch überglücklich in die dunklen Augen.
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2012
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