Cover

Einfach so

Irene Schwarzenbeck war froh, endlich einen Ausweggefunden zu haben. Die plötzliche und in jederWeise demütigende Trennung von Heinz hatte siein ein tiefes Loch geworfen. Fast zehn Jahre warensie zusammen gewesen. Immer glücklich, wie siedachte. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen,dass es bei Heinz anders sein könnte. Sie hatte keinerleiAnzeichen dafür entdeckt. Heinz war immerfreundlich, charmant und großzügig. Alle Problemedes Alltags meisterten sie mit Bravour. Sie warenein richtig gutes Team. Das machten sie sich auchimmer wieder klar. Es gab nur ein Problem, das sienicht richtig erkannt hatte, und das zum Untergangihrer Beziehung wurde, den Sex. Nicht, dass sie keinenSpaß damit gehabt hätte. Wenn es soweit war,machte sie gerne mit. Aber bis es soweit war, das warein Problem. Woran lag diese Antriebslosigkeit, dieseLustlosigkeit? War es Faulheit? Ja, in einer nichtgeringen Menge schon. Oder lag das an ihrer Beziehungzu Heinz?Liebte sie Heinz wie einen Bruder oder liebte sieihn wie einen Mann? Manchmal war sie sich daselbst nicht so ganz sicher. Du bist wie ein Bruder.Das hatte sie ihm ja öfter mal gesagt. War das so?War das ihre eigentliche innere Position? Oder kanntensie sich einfach nur zu gut? Im Laufe der Jahrewurde der Sex weniger. Ein ganz normaler Vorgang.Es gab nichts Neues mehr am Partner zu entdeckten. War es das? Oder fehlte einfach nur der gewisseKick? Ansonsten kamen sie wirklich wunderbar miteinanderaus.Am Anfang ihrer Beziehung hatten sie mehr Sexmiteinander. Obwohl … auch da hatte sie nicht immerLust dazu gehabt, hatte aber mitgemacht.Mit Radomir war das anders gewesen. Ihn hatte sieverlassen, als sie Heinz kennenlernte. Mit ihm war derSex immer aufregend gewesen. Lag es daran, dass erSüdländer war und sich irgendwie besser auf sie einstellenkonnte? Ja, der Sex mit Radomir war gut gewesen.Aber das war auch das einzig Gute. Ansonstenwar er ein Arschloch. Das hatte sie ihm einige Malean den Kopf geworfen. Er verzockte viel Geld, hingoft in Kneipen herum, führte ein unstetes Leben, ließbei jeder Gelegenheit heftig den Macho heraushängen,war überhaupt unsolide. Sie wusste nie, woherer sein vieles Geld hatte. Alle Anfragen dahingehendhatte er stets abrupt abgeblockt. Deshalb war sie sichsicher, dass es nicht auf legalem Weg erworben war.Als sie ihn wieder einmal löcherte, wo er das vieleGeld herhabe, das er in einer dicken Rolle, aus derHosentasche geholt hatte, wurde er sehr zornig. Dasgeht dich einen Scheißdreck an, hatte er gebrüllt. Undals sie immer noch nicht aufhörte, wurde er schließlichhandgreiflich. Dass er Alkohol getrunken hatte,spielte dabei eine große Rolle. Der Schlag mit der flachenHand ins Gesicht, tat weh. Noch mehr weh tataber, dass es überhaupt dazu gekommen war. Am Tagdanach entschuldigte er sich mit einem dicken Blumenstrauß. Woher das Geld kam, sagte er aber immernoch nicht.Beim Einkaufen lernte sie Heinz kennen. Er standvor ihr in der langen Schlange an der Kasse. Als ersein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche zog,merkte er nicht, dass dabei auch sein dünner Notizblock,den er auf der Baustelle in aller Eile ebenfallsin diese Tasche gesteckt und dann vergessen hatte, heruntergefallenwar. Die Notizen waren wichtig. Dorthatte er alle Besonderheiten notiert, die der Bauherrals Zusatz zu der Standartausführung seines neuenHauses noch wünschte. Heinz war Bauleiter. Zusammenmit dem Bauherrn hatte er bei der Begehungdes halbfertigen Rohbaus noch seine Sonderwünscheaufgenommen, Maße genommen und geprüft, obes möglich war, sie auszuführen. Das Ganze mussteer noch mit dem Architekten besprechen und auchmit dem Bauamt. Dafür waren die Notizen enormwichtig. Irene hatte ihn angesprochen und daraufaufmerksam gemacht, dass er etwas verloren hätte.Heinz bückte sich schnell, hob seinen Notizblock aufund wollte sich bedanken. Genau in diesem Momentkreuzten sich ihre Blicke zum ersten Mal, lange, bissich jemand in der Reihe beschwerte, warum es dennnicht weiterginge. Erst jetzt war Heinz in der Lage,sich zu bedanken. Als er durch die Kasse war und seineSachen eingepackt hatte, blieb er noch stehen. Irenewar sofort klar, dass er auf sie wartete.„Eigentlich spreche ich Frauen nicht so einfachan“, sagte er entschuldigend. „Aber dieser Moment vorhin, als wir in einer Reihe standen, der war fürmich so zauberhaft. Ich will nicht, dass er so sangundklanglos vorbei ist. Darf ich Sie zu einem Kaffeeeinladen? Ich würde Sie gern näher kennenlernen.“Irene überlegte einen Moment. Ihr war sofort klar,dass dieser Mann versuchte, ihre Freundschaft undnoch mehr zu gewinnen. Und er gefiel ihr sehr. Siewar in ihrem Leben immer treu gewesen. Und siehatte einen festen Partner. Nein, sie würde Radomirnicht verlassen. Genau bei diesem Gedanken spürtesie wieder das Brennen auf der Haut, als sie denSchlag ins Gesicht bekommen hatte. Und ihr warwieder einmal klar, dass ihre Beziehung nicht sauberwar. Radomir hatte kein Vertrauen zu ihr. Warummachte er sonst so ein Geheimnis darum, woher ersein Geld hatte? Sie spürte, dass sie sich seitdem innerlichvon ihm entfernt hatte. Warum eigentlichsollte sie sich nicht mit diesem netten Mann unterhalten?Danach konnte sie ja immer noch entscheiden,ob es von ihrer Seite mehr wurde oder nicht. Siewilligte ein.Von Heinz erfuhr sie, dass er erst vor einigen Wochenaus Australien zurückgekommen war. Da hatteer auf einer Großbaustelle gearbeitet und eine MengeGeld verdient. Überhaupt war er als Bauleiter vielin der Welt herumgekommen. Er hatte in Dubaigearbeitet, in Bangkok, in Kapstadt und New York.Nun wollte er kürzer treten und sich in Deutschlandeine solide Basis schaffen. Lange, feste Verbindungenmit Frauen hatte er nicht gehabt und auch nicht haben wollen. Dazu war es wegen seiner Arbeit niegekommen. Jetzt, Ende Dreißig, sah das anders aus.Er hatte sich ein kleines Vermögen erarbeitet. Es waran der Zeit, sesshaft zu werden, vielleicht sogar eineFamilie zu gründen. Dass er so schnell seine Traumfraufinden würde, damit hatte er nicht gerechnet.Sie unterhielten sich sehr angeregt und sehr lange.Am Ende bat Heinz sie um ein neues Treffen.Auch das sagte sie zu. Heinz beeindruckte sie. Undsie hörte gebannt zu, wenn er von seiner Arbeit berichtete.Er war ein guter Erzähler. Sie spürte, wie erihr innerlich immer näher kam. Es gab nur ein Problem,Radomir. Sie musste ihm sagen, dass sie sichvon ihm trennen wollte. Er hatte sie schon einmalgeschlagen. Was würde er tun, wenn sie ihm das sagte?Das würde er sich nicht so einfach gefallen lassen.Heinz merkte, dass sie Sorgen hatte. Es dauertelange, bis er ihr Problem erfuhr.„Die Sache ist ganz einfach“, sagte er. „Wir holendeine Sache und du ziehst zu mir.“„Das geht nicht. Radomir wird bestimmt gewalttätig,wenn er dich sieht.“„Das lass mal meine Sorge sein.“„Außerdem möchte ich nicht gleich zu dir ziehen.“„Das verstehe ich. Es ist ja auch nur vorübergehend,bis du eine eigene Wohnung gefunden hast.“Schließlich ließ sich Irene überreden. Mit großerAngst erwartete sie am Tag ihres geplanten Auszugs,was auf sie zukommen würde. Bis jetzt hatte sie Radomirnoch nichts davon gesagt. Das hatte Heinz ihr geraten. Sie vertraute ihm. Um Punkt zehn Uhrklingelte es an der Tür. Irene wusste, dass das Heinzwar. Sie hatten es so verabredet. Radomir saß amKüchentisch. Sie öffnete. Sofort wurde sie von dreikräftigen Männern umstellt.„Keine Angst“, sagte Heinz. „Die sind dafür da,dich zu beschützen.“Dann sah sie, dass im Hausflur noch weitere Männerstanden.„Das ist mein Umzugskommando“, erklärteHeinz.„Was ist denn da los?“ hörten sie auf einmal Radomirsärgerliche Stimme. Mit zornigem Gesichtsausdruckkam er in den Wohnungsflur. „Was wollenSie hier?“„Irene zieht aus“, sagte Heinz ganz ruhig.„Wie? Was? Wieso zieht Irene aus?“„Weil sie das will.“„Ist das wahr?“ Wütend sah er Irene an.„Ja. Ich verlasse dich.“„Das wirst du nicht!“„Das wird sie doch! Und zwar jetzt“, sagte Heinzmit fester Stimme.„Das wollen wir doch mal sehen.“Radomirs Versuch, Heinz und die anderen Männeraufzuhalten, erstickte im Keim. Sie drängten indie Wohnung, falteten die mitgebrachten Umzugskartonsauseinander, und ohne weiter auf Radomireinzugehen, begannen sie damit, Irenes Sachen zusammenzupacken,wie sie es ihnen angab. Radomir versuchte telefonisch schnell Hilfe herbeizuholen.Es misslang.„Dann rufe ich eben die Polizei. Das hier ist meineWohnung“, brüllte er.„Nur zu. Die wird auch nicht verhindern, dassIrene jetzt auszieht“, sagte Heinz ganz ruhig. „DieWohnung bleibt dir ja erhalten. Allerdings ohne Ireneund ohne ihre Sachen.“Radomir wusste, dass er Recht hatte. „Du willstsie wohl für dich, du Bastard?“ fauchte er. „Hast siewohl schon gevögelt, was?“Heinz blieb gelassen. „Nein. Ich bin ja nicht du.“Ohnmächtig musste Radomir zusehen, wie dieMänner alles zusammenpackten. Es dauerte etwasmehr als eine halbe Stunde, dann waren alle Sachenvon Irene aus der Wohnung entfernt. Mit spitzemFinger übergab Heinz Irenes Wohnungsschlüssel.„Und Tschüss!“ sagte er.„Das wirst du mir büßen. Und diese Schlampeauch“, fauchte Radomir mit Hass in den Augen.„Sei froh, dass du das nicht in Gegenwart von Irenegesagt hast. Sonst hätte ich dir eine gescheuert,dass dir Hören und Sehen vergeht. Lass dich nie wiederin Irenes Nähe oder in meiner Nähe sehen. Dasist ein gut gemeinter Rat.“Damit war Irenes Auszug beendet. Sie zog bei Heinzein. Kurzfristig sollte es sein, langfristig wurde es.Fast zehn Jahre lebten sie zusammen. Dann kamder Bruch. Vielleicht hatte sie zu oft nein gesagt oderihm Krankheiten vorgespielt. Mal hatte sie Migräne, ein alt bekanntes Mittel, um sich zu verweigern,oder Halsschmerzen oder Unterleibsprobleme oderGliederschmerzen. Die Palette der Ausreden wargroß. Natürlich spürte Heinz, dass manches erlogenwar. Aber erzwungenen Sex wollte er auch nicht. Ernahm es widerwillig hin und wurde immer unzufriedener.Das Leben hat für solche Situationen manchmalein Ventil. Vielleicht hätte er sich nie auf eine andereFrau eingelassen. Doch seine Sehnsucht nachgewollter körperlicher Nähe war groß. Durch Zufalllernte er eine andere Frau kennen. Sie gab ihm, waser so lange sehnsüchtig gewünscht hatte.Zu spät merkte Irene, dass sie überreizt hatte. AlleWarnungen hatte sie in den Wind geschlagen. Siewar sich zu sicher, dass Heinz sie nicht verlassen würde,dass er trotz allem bei ihr bleiben würde. Welchein fataler Trugschluss. Als sie den Ernst der Sachewirklich begriff, war es bereits zu spät. Heinz hatteeine andere Frau kennengelernt, die ihm all das gab,was er sich von Irene erwünscht hatte. Und das wollteer sich auf keinen Fall mehr nehmen lassen.Die Trennung von ihm war sehr schmerzlich. Wochenlangweinte sie die bitterlichsten Tränen. Oft warihr so schlecht, dass sie sich übergeben musste. Sogaran Selbstmord hatte sie gedacht. Doch die Angst vordem Tod hielt sie davon ab. Sie begann zu essen - ausFrust. Innerhalb kürzester Zeit war sie einige Kiloschwerer geworden. Ihr Gesicht war aufgedunsen,denn sie tat auch das, was sie vorher so gut wie nie gemacht hatte, sie trank Wein. Jeden Tag. Das fielirgendwann auch ihrem Arbeitgeber auf. Es gab eineAbmahnung. Als sie nach einer durchzechten Nachtmit schwerem Kopf wach wurde und nicht zur Arbeitgegangen war, wurde ihr ihre eigene Lage bewusst.Mit viel Glück und der Hilfe ihres Hausarztesgelang es ihr, der Entlassung aus dem Arbeitsverhältniszu entgehen. „Ich stelle ihnen nur dieses eine Maleinen Freifahrtschein aus“, hatte der Arzt gesagt undsie für eine Woche krankgeschrieben. „Machen Siedas Beste daraus. Noch einmal mache ich das nicht.“Seine Worte hatte sie sich zu Herzen genommen.Von sich selbst angewidert, betrachtete sie sich imSpiegel und fasste den Entschluss, noch einmal ganzvon vorne anzufangen. Ein Spruch ihres Opas fielihr ein, den sie innig geliebt hatte. Merke dir für dasLeben, es ist nicht wichtig wenn man öfter mal hinfällt,wichtig ist nur, dass man immer wieder aufsteht. Irgendwiehatte sie das Gefühl, ihren toten Opa nichtenttäuschen zu müssen. Vielleicht sah er ja von obenzu, was sie machte. Sie war tief gefallen, doch jetztwar sie absolut entschlossen, wieder aufzustehen.Nach nur drei Tagen meldete sie sich vorzeitig aufihrer Arbeitsstelle zurück. „Ich fühle mich wiedergut, ich kann wieder arbeiten“, hatte sie gesagt, waserfreut angenommen wurde. Damit hatte sie einenFehler wieder gutgemacht. Dann begann sie wenigerund gesünder zu essen. Alkohol war absolut tabu.Eines Tages kam sie auf die Idee, wieder richtig fitwerden zu wollen, mal wieder Tanzen zu gehen, Tennis spielen und im kommenden Winter mal wiederSki zu fahren. Darauf wollte sie sich vorbereiten. Siebegann zu joggen.Am heutigen Morgen hatte sie frei. Eine gute Gelegenheit,den großen Stausee zu umrunden. DieLuft war frisch. Tau lag noch auf dem Gras. Der Seewar ruhig. Hier und da schwammen ein paar Entenumher. Auch zwei Schwäne zogen ihre Bahnen.Alle Segelschiffe waren noch an ihren Anlegestellen.Außer ihr war kein Mensch in der Nähe. Sie atmetedreimal kräftig die frische Luft ein, dann lief sie aufdem breiten, geteerten Weg los. Nach einigen hundertMetern machte sie eine kleine Pause, um gymnastischeStreckübungen zu machen. Noch immerwar sie alleine hier. Nach weiteren hundert Meternmusste sie erneut anhalten. Der Schnürsenkel ihresrechten Schuhs hatte sich gelöst. Weit hinter ihrwar ein anderer Jogger. Das wurde aber auch Zeit,dachte sie. So ganz alleine hier um den See zu laufenmachte auch nicht richtig Spaß. Normalerweise warhier immer viel Publikum unterwegs. Aber es war janoch recht früh und das Wetter war auch nicht geradehervorragend. Der Jogger lief an ihr vorbei. Nocheinmal machte sie zwei drei Streckübungen, dannnahm sie ihren Lauf wieder auf. Der Jogger vor ihrwar ein wenig zur Seite getreten. Da, wo der Asphaltin Wiese überging, hatte er sich hinabgebeugt undhantierte an seinem Schuh herum. Dem ist wohlauch ein Schnürsenkel aufgegangen. Irene grinste,als sie an ihm vorbei lief. Nach einigen Metern hörte sie Schritte hinter sich. Er lief also auch wieder. DieSchritte kamen näher. Dann spürte sie einen heftigenSchlag zwischen den Schulterblättern. Der brennendeSchmerz, der danach folgte war nur kurz. Alssie nach vorne fiel, verlor sie ihr Bewusstsein. Denharten Aufschlag auf dem Asphalt spürte sie nichtmehr. Reglos blieb sie am Boden liegen. Der Mannlief unbeirrt weiter.Die Frau lag bäuchlings auf dem Asphalt. Die Beamtender Mordkommission sahen sofort, dass sietot war. Das Herz hatte das Blut nicht mehr durchdie Adern gepumpt. Es war nach unten abgesackt.Deshalb waren ihr Gesicht und ihre Hände an dentiefsten Stellen nun stark rot gefärbt – Totenflecken.Sonst sah man nichts. Auch kein Blut außerhalb.Erst wenn man ganz genau hinsah, fiel einem deretwa drei Zentimeter lange Riss am Rücken der Joggingjackeauf. Das war alles.Die Beamten des Erkennungsdienstes waren zunächstin unmittelbarer Nähe des Tatortes tätig geworden,um Spuren zu finden. Dann in immer größerwerdenden Kreisen um den Tatort herum. Siefanden nichts.Wie große, weiße Zwerge, schoss es HauptkommissarPander, dem Leiter der Mordkommission,durch den Kopf, als er sie mit ihren weißen Schutzanzügenin der Landschaft stehen sah. Dann mussteer über seinen Gedanken grinsen. Große Zwerge?Das war wie tote Leiche. Ach ja, die Leiche. Es sah schlecht aus. So gut wie keine Spuren. Nur zweischwache Fragmente von Schuhsohlen, die abernicht unbedingt vom Täter stammen mussten. Sonstwar da nichts. Keine Tatwaffe. Nichts, was der Tätersonst verloren oder angefasst haben könnte. Nochnicht einmal ein Motiv war zu erkennen. Von Zeugenganz zu schweigen. Allen Mitgliedern der MKwar klar, dass es sehr schwer werden würde.Was könnte der Grund für diese Tat gewesen sein?Raub? Wohl kaum? Was gab es bei einer Joggerinzu holen? Tatsächlich hatten sie in ihren Taschennur ein Schlüsseletui mit Autoschlüssel und Wohnungsschlüsselgefunden. Zwei Beamte der Spurensicherungwaren unterwegs, um nach den Wagen zusuchen. Der war garantiert hier irgendwo in Seenäheabgestellt. Vielleicht fanden sich in ihm Hinweise.Vielleicht Spuren von einem Mitfahrer. Dass dieTote hier allein gefunden wurde, hieß ja nicht, dasssie auch allein hier hergekommen war. Man würdeanschließend auch ihre Wohnung durchsuchen.Vielleicht fanden sie dort Hinweise für die Tat. EinRaub schied mit großer Wahrscheinlichkeit aus.Und wie war es mit einem Sexualdelikt? Hätte jemandsie vergewaltigen oder sexuell nötigen wollen,dann hätte er das Opfer zwar von hinten angegriffen,es höchstwahrscheinlich aber dann nach vornegedreht und auch von vorne zugestochen, wenn sichdas Opfer gewehrt hätte. Aber auch dafür gab esnicht den geringsten Hinweis. Keine Abwehrspurenbeim Opfer, keine Beschädigungen oder Schmutzanhaftungen, die auf einen Kampf hingedeutet hätten.Nichts! Auch ein Sexualdelikt schied mit hoherWahrscheinlichkeit aus. Was also war es dann? EinMordanschlag aus Rache, aus Eifersucht oder aussonstigen Gründen? Eine Erbschaftsangelegenheitvielleicht? Hatte man einen Profikiller auf die Frauangesetzt? Das konnte nur herausgefunden werden,nachdem sie sich intensiv mit dem Leben der Getöteten,vor allem mit ihren letzten Stunden, beschäftigthatten.Für alle Fälle forderten sie Suchhunde an. Es solltenichts unversucht gelassen werden. Aber auch derEinsatz der Hunde brachte sie nicht weiter.Genauso war es mit dem Obduktionsergebnis einigeTage später. Es hatte nur einen einzigen Stich inden Rücken gegeben. Der Stichkanal war 15 cm lang,schräg von oben nach unten bis ins Herz. Die Frauwar sofort tot gewesen. Weil sie nach vorne gefallenwar, war alles Blut nach innen geflossen. Nur winzige,kaum sichtbare Blutpartikel waren am Einstichder dunkelblauen Joggingjacke festgestellt worden.Sie waren dort vermutlich beim Herausziehen desMessers haften geblieben. Sonst gab es nichts, keineMikrospuren, keine Faserspuren, einfach nichts.Trotz des großen Aufsehens und der Veröffentlichungenin den Medien gab es auch von dort keineHinweise.Die Hoffnung, eventuell im Leben der IreneSchwarzenbeck einen Ansatzpunkt oder ein Motivzu finden, verlief ebenfalls im Sande. Dabei hatte es für eine kurze Zeit zunächst recht gut ausgesehen.Über Heinz, ihren Lebensgefährten, hatten die Beamtenerfahren, dass sie mit Radomir liiert gewesenwar und dass man sich vor Jahren mit Hass voneinandergetrennt hatte. Radomir hatte damals Rachegedankengeäußert. Konnte er der Täter sein?Er war nicht aufzufinden. Dann erbrachten dieErmittlungen, dass er in seine Heimat zurückgekehrtwar. Hatte er sich nach Serbien abgesetzt, um seinerFestnahme in Deutschland zu entgehen? Hoffnungkam auf, die aber sehr schnell zunichte gemachtwurde. Radomir war zwei Wochen vor der Tat ausgereist.Drei Tage später war er in ein Krankenhausgegangen. Ihm stand eine schwere Operation bevor.Während der Tatzeit war er mit Sicherheit nicht inDeutschland gewesen. Um ganz sicher zu gehen,überzeugten sich Beamte der Deutschen Botschaftdavon, besuchten ihn im Krankenhaus und befragtenihn auch, ob er eventuell einen Hinweis gebenkönne. Er konnte nicht. Bei den vorsichtig gestelltenFragen ergab sich auch kein Anhaltspunkt dafür,dass er einen Killer geschickt haben könnte. Schoneinen Monat nach der Trennung von Irene war ereine neue feste Bindung eingegangen. Er versicherteglaubhaft, dass er so gut wie gar nicht mehr an siegedacht habe. Auch diese Spur verlief wie alle anderenim Sand. Die Mordkommission hatte nichtsmehr, um dem Täter auf die Spur zu kommen. DieTat wurde als ungeklärt zu den Akten gelegt. Beata war zweiundzwanzig Jahre alt. Vor drei Jahrenwar sie von Polen aus nach Deutschland gekommen.Sie hatte hier geheiratet und vor einem halbenJahr ihr erstes Kind geboren.Es war Sonntagmorgen. Das Wetter war schön.Eine gute Gelegenheit mit dem Kinderwagen einenSpaziergang zu machen. Sorgfältig zog sie ihr Kindan, nahm Pampers, Creme, Puder und andere Babyartikelmit, um für einen Notfall gerüstet zu sein.Und natürlich mussten auch ein Fläschchen, einRäppelchen und der Schnuller mit. Gut gerüstetmachten sie sich auf den Weg.Beata hatte vor, ihre beste Freundin zu besuchen.Die wohnte im Nebenort. Man würde zusammenKaffee trinken, auf dem Balkon gemütlich eine Zigaretterauchen, Kuchen essen und sich mit denKindern beschäftigen. Ihre Freundin hatte ebenfallsein Kleinkind, etwas älter als ihr eigenes. Es konnteschon Krabbeln. Beata freute sich auf das Treffen.Es gab eine Menge zu erzählen. Von ihrem Urlaubin Polen, wo sie alte Freunde, Schulkameraden undFamilienmitglieder getroffen hatte. Von ihren erstenVersuchen, zu reiten, von Christoph, ihrem Mann,der demnächst eine besser dotierte Stelle in der Firmabekommen sollte und anderes mehr.Gut gelaunt und stolz fuhr sie ihren Kinderwagendurch den Ort, grüßte freundlich Bekannte, die ihrentgegen kamen, und freute sich des Lebens. AmOrtausgang gab es einen etwa hundert Meter langenParkweg zum nächsten Ansiedlung. Sie hatte etwa die Hälfte des Weges hinter sich gelassen, alssie plötzlich eilige Schritte hinter sich hörte. Nochehe sie sich umdrehen konnte, verspürte sie einenheftigen Schlag im Rücken. Irgendetwas war in ihrenKörper eingedrungen, das begriff sie sofort. Derbrennende Schmerz kam, nachdem dieses Teil ausihrem Körper entfernt worden war. Entsetzen ergriffsie. Und Angst, wahnsinnige Angst, vor allem umihr Kind.Ein Mann lief teilnahmslos an ihr vorbei. Er reagiertenicht, schien nichts mitbekommen zu haben.Eigentlich war er doch direkt hinter ihr gewesen. Erhätte doch sehen müssen, was sie im Rücken getroffenhatte. Dann begriff sie. Es war ein Anschlag auf ihrLeben.Sie spürte, dass sie im Körper blutete und dass sieschwächer wurde. Verzweifelt hielt sie sich am Kinderwagenfest und schleppte sich vorwärts. Das nächsteHaus war nur wenige Meter entfernt. Da konntesie Hilfe finden. Doch jetzt schien es unendlich weitzu sein.Die Knie wurden weich. Sie biss die Zähne aufeinander.Vor ihr im Kinderwagen lag ihr Baby. Demdurfte nichts geschehen. Sie musste es bis zum Hausschaffen, unbedingt. Sie merkte, wie ihr Kreislaufpurzelte. Immer häufiger und immer mehr wurde ihrschlecht und schwarz vor Augen. Todesangst ergriffsie, schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht einmalmehr um Hilfe rufen. Die Angst und die Sorge um ihrKind machten ungeahnte Kräfte frei. Mit aller Kraft taumelte sie weiter. Dann hatte sie das Haus erreicht.Sie schaffte es noch, die Kinderwagenbremse zu aktivieren.Sie warf noch einen letzten Blick auf ihr Baby,dann kämpfte sie sich die drei Stufen zum Hauseinganghoch. Mit letzter Kraft drückte sie die Klingel.Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie sackte zusammenund blieb liegen. Als die Tür geöffnet wurde, warsie bereits tot.Die Mordkommission arbeitete fieberhaft an derAufklärung dieser Tat. Es gab keinen Zweifel, der Täterhatte zum zweiten Mal zugeschlagen. Das zeigteder Modus Operandi – die Ausführung der Tat. Warenwir hinter einem Massenmörder her?Schon bei dem ersten Mord hatte man über dasBundeskriminalamt prüfen lassen, ob es andernorts inDeutschland eine gleichartige Straftat gegeben hatte.Das Ergebnis war negativ gewesen. Zwischen unserenbeiden Taten lagen einige Monate. Vielleicht hatte derTäter in der Zwischenzeit woanders zugeschlagen. Erneutwurde das BKA um Überprüfung gebeten. Undwieder war das Ergebnis negativ. Also hatten wir esmit einem örtlichen Täter zu tun.Auch diesmal war die Spurenausbeute äußerst dürftig.Allerdings gab es ein paar übereinstimmende Hinweisevon Zeugen, die den Täter vor und nach der Tatgesehen hatten.Er sei etwa eins achtzig groß, jung, so um die Zwanzig,schlank, ohne Bart, kurzes, blondes Haar. Er hatteeine graue Jogginghose und eine schwarze Joggingwestemit Kapuze an. Als er auf den Parkweg gelaufen sei, habe er die Kapuze über den Kopf gezogen. EineStichwaffe habe man aber bei ihm nicht gesehen. AndereZeugen bestätigten, dass sie einen jungen Mannim Jogginganzug gesehen hatten, der vom Parkwegaus in Richtung Ortsmitte gelaufen sei. Die Kapuzesei heruntergezogen gewesen. Die Beschreibung waridentisch. Es war nicht viel, aber doch etwas.Die Lichtbildvorlage von möglichen Tätern verliefnegativ. Kein Zeuge konnte eine der auf Fotos dargestelltenPersonen als Täter identifizieren. Wir ließenein Phantombild erstellen. Mit diesem Bild und derBeschreibung gingen wir an die Medien. Daraufhingab es eine Menge Hinweise, doch sie führten alle insLeere. Wieder einmal musste eine Mordakte als ungeklärterFall abgelegt werden.Die Nachricht von der Ermordung einer jungenFrau erreichte die Mordkommission am Nachmittag.Man hatte ihre Leiche auf dem Frauenparkplatz in derTiefgarage der Universität gefunden. Allem Anscheinnach war sie dort erstochen worden.Als die MK den Tatort erreichte, war dieser von Beamtender Schutzpolizei bereits weiträumig gesichertworden. An der Stelle, wo ein Auto gestanden hatte,lag eine junge Frau in seitlicher Lage und zusammengekrümmtam Rand einer großen Blutlache. Danebenlag eine dick gefüllte Aktentasche. Das Auto wardurch das Blut gefahren, davon zeugten die Reifenspuren.Während sich die Spurensicherung an die Arbeitmachte, befragte der Leiter der Mordkommissiondie Beamten der Schutzpolizei. „Weiß man schon, wer sie ist?“„Sie heißt Beatrix Müller, ist 21 Jahre alt und studierthier an der Uni Jura.“„Woher wisst ihr das?“„Von Kommilitonen.“„Und woher wussten die von der Tat?“„Die haben ihre Schreie gehört und sind sofort hierhergeeilt.“„Und? Haben sie den Täter gesehen?“„Nein. Als sie hier ankamen, war außer der Totenniemand mehr da. Nur ihr Pkw war weg. Sie habendann sofort die Polizei angerufen.“„Haben wir die Namen der Zeugen?“Der Uniformierte holte seinen Notizblock hervor.„Ich habe alles aufgeschrieben. Die vermutliche Tatzeitund die Namen, Anschriften, Telefonnummern allerLeute, die hierher geeilt waren.“ Er übergab den Zettelmit den Informationen.„Haben wir auch das Kennzeichen des Autos?“„Noch nicht. Wir haben aber das Kraftfahrtbundesamtanfragen lassen. Wir erwarten jeden Moment dieDaten.“„Danke. Gute Arbeit.“Dann besah sich der MK-Leiter den eigentlichenTatort. Dass hier ein heftiger Kampf stattgefunden hatte,sah man sofort. An dem Platz, wo das Auto des Opfersgestanden und der Täter zugeschlagen hatte, wardie Blutlache durch Schleif- und Trittspuren zerrissen.Beatrix Müller hatte mehrere Einstiche im Körper.Die meisten im Schulter-, Hals- und Brustbereich, einige aber auch an Armen und Händen. Abwehrspuren!Sie hatte wohl mit allen Mitteln um ihr Lebengekämpft.Der Täter hatte von oben zugestochen. Genau wiein den beiden Fällen zuvor. War die junge Frau dasdritte Opfer des gesuchten Messerstechers geworden?Es war nicht ganz klar. Die Umstände an diesem Tatortwaren anders. Warum? Was war hier passiert? DieMK versuchte, sich ein Bild vom Tathergang zu machen.Wahrscheinlich hatte die junge Frau den Täterkurz vor dem Angriff bemerkt. Vielleicht stand sieneben oder hinter ihrem Auto, um ihre Aktentaschein das Fahrzeug zu legen, als sie vielleicht durch Geräuscheauf ihn aufmerksam wurde. In Tiefgaragensind manchmal auch kleine Geräusche laut. Vielleichthatte sie sich noch rechtzeitig umgedreht, um einemStich in ihren Rücken zu entgehen. Doch nun standder Täter vor ihr, Auge in Auge. Sie wusste, dass es umihr Leben ging. Und der Täter wusste, dass hier eineZeugin war, die er unbedingt töten musste. Es warein ungleicher Kampf, der nur einen Verlierer kannte,Beatrix Müller. War so der Tatablauf? Vieles sprachdafür. Ziemlich sicher war, dass sich der Mörder direktnach der Tat in das Fahrzeug des Opfers gesetzt hatteund damit vom Tatort geflohen war. Oder war dasAuto sein Ziel gewesen? Lag vielleicht ein Raubmordvor? Der Wagen war zwar klein, aber nagelneu. Wardie Habgier nach dem Wagen das Motiv des Täters?Hatte sich die Studentin gegen den Diebstahl gewehrt und war deshalb ums Leben gekommen? Ganz auszuschließenwar dieser Tathergang auch nicht.Inzwischen waren auch die Informationen vonKraftfahrbundesamt in Flensburg eingetroffen. Kennzeichen,Marke, Typ und Farbe des entwendeten Autoswaren nun bekannt. Sofort wurde die Fahndungnach dem Pkw ausgelöst.Das Glück blieb uns weiterhin treu. Wir bekameneine Nachricht vom BKA, dass es vor mehr als zehnJahren hier schon mal eine Tat mit ähnlichem Tatherganggegeben hatte. Damals war eine Frau über denWestring gegangen, eine breite Straße am Rande derInnenstadt. Plötzlich war sie von hinten niedergestochenworden. Nur mit viel Glück hatte sie überlebt.Der Täter hatte ihre Handtasche entwendet und wardamit geflüchtet. Er war nicht weit gekommen. Diedurchgeführte Nahbereichsfahndung war erfolgreichgewesen.Die Ermittlungen der damaligen Mordkommissionhatten ergeben, dass Täter der fünfzehnjährige OliverBlechschmied war. Er hatte die Tat gestanden undmehrere andere brutal ausgeführte Straftaten ebenfalls.Die hatte er bereits im Alter von zwölf Jahrenund danach begangen. Psychiater und andere Fachärztehatten in ihren Gutachten bescheinigt, dass dieserJunge eine tickende Zeitbombe sei, die jederzeitexplodieren könne. Er wäre seelisch verkrüppelt undvöllig gefühllos für das Leid anderer Menschen. IhrFazit war: Dieser Junge darf auf gar keinen Fall je wieder in Freiheit entlassen werden. Doch genau das warpassiert.Zu unserem Erstaunen hatte der damals zuständigeRichter ihn trotz der massiven Bedenken der Fachärztenach einer Haftprüfung auf freien Fuß gesetzt. Erkönne einen jungen Mann nur wegen einer schlechtenPrognose nicht ein Leben lang eingesperrt lassen, warspäter sein Argument. Er wies jede Schuld von sich.Die Polizei hätte den Mann dann eben rund um dieUhr bewachen müssen. Wie das funktionieren sollte,wusste er allerdings nicht. Das wäre ja auch nicht seinProblem.Warum hatten wir nicht eher davon erfahren? DieErklärung war einfach. Akten über Straftaten vonKindern und Jugendlichen werden besonders gesichert.Viele Taten werden auch gelöscht. Damit sollerreicht werden, dass Delikte, die in jungen Jahrenbegangen wurden, einem Menschen nicht ein Lebenlang nachhängen und ihm die Zukunft erschweren.Phantasielos, rücksichtslos, schonungslos brutal.Das waren die Attribute, die die Fachärzte über Blechschmiedniedergeschrieben hatten. Sie passten genauauf unseren Täter.Wir fuhren sofort zu seiner Wohnung. Er ließ sichwiderstandslos vorläufig festnehmen. Wir stellten alleseine Kleidungsstücke sicher. Auch alle Schuhe, sowiealle Messer und spitzen Gegenstände, die als möglicheTatwaffe in Frage kamen.Oliver Blechschmied wies jede Schuld von sich,konnte aber auch kein Alibi für die Tatzeiten nach weisen. Er war sich sicher, dass wir nichts gegen ihnfinden würden. Für einen Moment sah es wiederschlecht aus.Das Landeskriminalamt hatte wieder einmal sehrschnell gearbeitet. Winzigste Blutspuren in der Nahtseiner Laufschuhe, die mit dem bloßen Auge nichtzu sehen waren, hatten ergeben, dass sie von BeatrixMüller stammten. Die Schlinge um Blechschmiedhatte sich zugezogen.„Ich kann das erklären“, sagte er in seiner Vernehmung.„Ich war zufällig in der Tiefgarage. Dann sahich auf einmal die Frau am Boden liegen. Überall warBlut. Da bin ich sofort weggerannt. Ich hatte Angst,man würde mir die Tat in die Schuhe schieben.“„Und wie kommt dann das Blut an ihre Schuhe?“„Ich habe die Frau erst sehr spät gesehen. Vielleichtbin ich in ihre Blutlache getreten und das Blut istdeshalb an meine Schuhe gespritzt.“„Komisch ist nur, dass wir keine blutigen Schuhabdrückeam Tatort gefunden haben. Wenn Sie indie Blutlache getreten wären, hätten beim Weglaufendoch Spuren zurückbleiben müssen. Da waren aberkeine. Was sagen Sie dazu?“Blechschmied konnte nichts dazu sagen.„Die einzigen Spuren, die vom Tatort wegführten,waren Reifenspuren vom Auto des Opfers. Das bedeutet,der Täter hat zwar in das Blut getreten, istaber dann direkt ins Auto eingestiegen und weggefahren.“„Dann hätten Sie doch im Blut Fußabdrücke findenmüssen.“„Haben wir auch. Aber nur schwache Fragmente.Beim Herausfahren sind die Reifen darüber gerollt.“„Wenn ich der Täter gewesen wäre, dann hätte dochbestimmt mehr Blut an meinen Schuhen sein müssen.“„Da war ja auch mehr Blut dran. Sie haben die Schuhesorgfältig gesäubert. Nur an der Naht zwischen Sohleund Oberteil, da haben Sie nicht alles wegbekommen.Das wussten Sie nicht. Sie haben ja keine auchMikroskop-Augen.“Der Untersuchungsrichter erließ einen Untersuchungshaft-befehl. Das gab uns Zeit, in Ruhe weiterzu ermitteln.Die Suche nach dem Wagen des Opfers war ebenfallserfolgreich. Er wurde zwei Tage später in einemdicht bewachsenen Waldweg von Spaziergängern gefunden.Im Wagen fanden wir jede Menge Spuren,die zu Blechschmied führten. Spätestens jetzt war erendgültig erledigt. Das begriff auch er. Er gestand undwar bereit, uns zu zeigen, wo er die Tatwaffe weggeworfenhatte. Zusammen mit zwei Kollegen suchte ichdie Stelle am Fluss auf. Wir fanden das Filetiermesserdurch das drei Menschen ihr Leben verloren hatten.Danach zeigte er uns, wo er seine blutbespritzten Kleidungsstückeentsorgt hatte. Er hatte sich von allementledigt, nur von den Schuhen nicht. Er wollte nichtmit bloßen Füßen in das Blut im Auto treten. Das warsein Fehler. Am meisten interessierte mich, warum er die Tatenbegangen hatte. Ich fragte ihn im Auto auf derRückfahrt zum Präsidium danach. Seine Antwortwar: „Einfach so.“Wenn er frustriert gewesen sei, sich geärgert hätteoder sonst schlecht drauf gewesen sei, dann hätte erdas dringende Bedürfnis gehabt, seine aufgestautenAggressionen loszuwerden. Indem er auf Frauen einstach,wurde er sie los. Außerdem habe es ihm auchgefallen, eine ganze Stadt in Angst und Schrecken zuversetzen. Seine Taten hätten tagelang in allen Zeitungengestanden. Sogar im Fernsehen hätte manausführlich darüber berichtet. Die Kripo hätte dabeiziemlich Scheiße ausgesehen. Es war wie ein Katzeund Maus Spiel. Das hätte er gerne noch eine Weilefortgesetzt. Schade, dass es damit nun vorbei sei.„Warum immer Frauen?“ war meine nächste Frage.„Sie waren die einfachsten und ungefährlichstenOpfer. Mit Männern hätte es schwieriger und gefährlicherfür mich werden können.“„Also keine sexuellen Absichten?“Blechschmied lachte nur. Er schüttelte den Kopf.„Nein, mit Sex hat das alles nichts zu tun.“„Hattest du denn kein Mitleid mit deinen Opfern?“Er sah mich nur dumpf an. Ab jetzt redete er nichtmehr mit mir.Blechschmied hatte drei Frauen getötet und ihreFamilien tief ins Unglück gestürzt.Eine junge Frau, die viel gelitten hatte, hatte sich aus ihrem persönlichen Abgrund aufgerappelt undmit viel Hoffnung auf ein neues, besseres Leben wiedernach oben gekämpft. Er hatte ihr diese Chancegenommen.Eine junge Familie war von ihm zerstört worden.Und ein kleines Kind würde nie seine Mutter kennenlernen.Eine außergewöhnlich hübsche, hochintelligente,junge Frau, voller Träume und mit glänzendsten Zukunftsaussichtenkonnte nichts mehr davon verwirklichen.Er hatte alles vernichtet.Sie war das einzige Kind ihrer Eltern. Die hattenden grausamsten Schicksalsschlag erlitten, den ichmir vorstellen kann. Nicht durch Krankheit, nichtdurch einen Unfall, nein, durch einen völlig unsinnigenMord war ihre Tochter ums Leben gekommen,wie die beiden anderen Frauen auch. Noch heutespüre ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.Sie alle waren tot, von Blechschmied umgebracht– einfach mal so.

Impressum

Texte: Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum
Bildmaterialien: Universitätsverlag Brockmeye, Bochum
Lektorat: Dr. Norbert Brockmeyer
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /