1.
Der Mann lag mit Bauch und Gesicht nach unten im Wasser.
Arme und Beine waren ausgestreckt wie bei einem Fallschirmspringer,
bei jeder Welle schwappte der Körper gegen eines der
Motorboote, zwischen denen er lag.
Der Mann war tot. Anselm Becker stand vornüber gebeugt
am Steg des Bergkamener Marinahafens und schaute auf die
Leiche. Er brauchte sich nicht zu bücken, um den Körper zu
untersuchen, er sah es auch so. Dann blickte er auf das Motorboot
rechts von der Leiche und bemerkte Blut an Reling und
Bootsrand. Dort hatte der Mann sich die Verletzungen zugezogen,
die zum Sturz ins Wasser geführt hatten. Aber wie war
das passiert, fragte sich Anselm, aus welchem Grund? War er
unglücklich gestürzt und hatte sich dabei schwer verletzt, oder
hatte jemand Gewalt ausgeübt?
Der Doktor war schon vor ihm am Tatort gewesen, jetzt sah er
Anselm Becker erwartungsvoll an.
„Können wir?“
Anselm nickte. Er sah, wie der Doktor mit zwei Mitarbeitern
begann, die Leiche aus dem Wasser zu ziehen. Auf dem Rücken
legten sie sie auf den Steg. Anselm bemerkte die schwere
Verletzung an der rechten Stirn. Der Knochen war durchschlagen,
es schimmerte gelblich aus der Wunde. Es war ein älterer
Mann, Anselm schätzte ihn auf Mitte sechzig. Er hatte graues,
aber noch volles Haar. Die Augen waren wie vor Schreck weit
geöffnet.
Hinter Anselm stand der Hafenmeister, der ihn gefunden und
die Polizei informiert hatte. Nein, er hätte nichts verändert,
antwortete er auf Anselms Frage.
„Ich habe mir gleich gedacht, dass er tot ist. Ich habe schon
zwei Wasserleichen hier im Hafen gesehen, da sah es genauso
aus.“
„Kennen Sie den Mann?“
Der Hafenmeister nickte. „Natürlich, das ist Werner Bäumler.
Der hat hier schon lange einen Liegeplatz gemietet. Wir kennen
uns gut, manchmal trinken wir drüben im Café eine Tasse
Kaffee. Haben wir getrunken, muss ich ja jetzt sagen.“
„Lebte Bäumler auf seinem Boot, weil er keine Familie hatte?“
„Nein, Bäumler hatte Familie. Die wohnt hier am Ort. Das
heißt, seine Frau wohnt hier, die beiden Söhne sind längst aus
dem Haus, wohnen in Hamburg und Köln, so viel ich weiß.
Aber Bäumler liebte die Ruhe im Hafen, deshalb war er oft
hier, meistens ohne seine Frau.“
Anselm ließ sich die Adresse nennen und notierte sie auf einem
Zettel, den er für solche Fälle in der Innentasche seiner Jacke
stecken hatte.
„Ist Ihnen etwas aufgefallen, das Bäumlers Tod erklären könnte?“
„Nein, nichts. Was soll mir auch auffallen? Ich kann nicht alle
Boote im Auge behalten, habe genug anderes zu tun. Und
wenn jemand ins Wasser fällt, muss man schon ganz in der
Nähe sein, um das zu hören.“
Anselm nickte. Er blickte sich um. Heute früh hatte es noch
geregnet, aber jetzt war die Sonne hinter den Wolken hervorgetreten
und beschien das Wasser im Hafen und im angrenzenden
Kanal. Die kleinen Wellen glitzerten golden. Ein idyllischer
Anblick, der zum Verweilen einlud, aber Anselm war
nicht zum Entspannen hierher gekommen.
„Sag mir, ob es sich um einen Mord oder einen Unglücksfall
handelt“, wandte er sich an den Doktor.
Der nickte. „Mach ich, sobald wie möglich.“
„Und, hast du schon einen Verdacht?“, fragte Anselm, weil er
gesehen hatte, dass sich der Doktor die Wunde ganz genau angesehen
hatte.
Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Sicher bin ich mir
nicht. Sieht eher nach Mord aus, würde ich sagen. Dass jemand
so heftig gegen die Reling knallt, ganz ohne Fremdeinwirkung,
kann ich mir kaum vorstellen.“
Anselm leuchtete das ein. Im Grunde hatte er dasselbe gedacht.
Er schaute sich noch kurz das Schiff an. Ein Liegestuhl stand an
Deck, in der Nähe der Reling stand ein Eimer mit einem Putzlappen
darin. Klar, so ein Boot musste genauso geputzt werden
wie eine Wohnung.
Dann sah er hinüber zu den anderen Bootsstegen. Alle waren
durch ein hohes Gittertor vom übrigen Hafen abgetrennt
worden. Die Tore waren zu beiden Seiten durch Stacheldraht
gesichert, so dass man nicht an ihnen vorbei auf den Steg springen
konnte. Hierher kam nur, wer einen Schlüssel hatte oder
trotz des Drahtes an der Absperrung vorbei klettern konnte.
Unmöglich schien es nicht zu sein, aber man musste schon sehr
gelenkig sein, wenn man das schaffen wollte.
Er blickte auf die Uhr, es war kurz vor elf. Mal sehen, wie weit
er heute in dieser Sache kommen würde.
Auf dem Kanal zog ein großes Frachtschiff vorbei. Es hatte
Kohle geladen, vermutlich für das Kraftwerk in Richtung Lünen.
Aus dessen Kühlturm stieg Dampf auf. Es war ein Anblick,
der die Hafenidylle ein bisschen trübte.
2.
Sein Freund hatte ihm das Boot überlassen. Er musste für ein
halbes Jahr nach Buenos Aires gehen, um dort für seine Bank
eine Zweigstelle aufzubauen. Wenn das Boot zu lange nicht be-
treut würde, würden schräge Vögel darauf aufmerksam und wer
könnte wissen, was dann damit passieren würde. Da würden
die sich auch nicht durch einen hohen Zaun, der den Zutritt
zum Steg versperrte, abhalten lassen, hatte er ihm erklärt.
„Am liebsten wäre mir sogar, du würdest eine Zeitlang ganz
darauf wohnen.“ Daran hatte er gemerkt, dass sein Freund
längst wusste, dass seine Ehe kaputt war. Diskreter konnte
er ihm keine Ersatzwohnung anbieten, damit er endlich die
Chance hatte, zu Hause auszuziehen.
Die Idee mit dem Boot war gut gewesen, auch wenn der Platz
beengt war. Aber es war alles vorhanden, was er brauchte. Eine
kleine Küche, eine Schlafkoje, ein kleiner Wohnraum mit Fernseher
und ein Deck zum Sonnenbaden. Das war überhaupt das
Beste, das Deck mit dem Liegestuhl. Hier konnte er sich nach all
dem Ehestreit endlich erholen. Annika, seine zehnjährige Tochter,
war ganz auf ihre Mutter fixiert. Seit er ausgezogen war, hatte
er sie einmal wieder gesehen, und das nur zufällig beim Einkauf
im Supermarkt. Seine Einladung, sie auf dem Schiff zu besuchen,
hatte sie abgelehnt. So waren ihm nur seine Eltern geblieben, die
zwar auch nicht hierher kamen, die er aber regelmäßig besuchte.
Es fiel ihnen schwer, ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie von ihm
enttäuscht waren. Dass er es nur zum Verkäufer in einem Brillenfachgeschäft
gebracht hatte, der noch dazu vor ein paar Monaten
arbeitslos geworden war. Bald drohte Hartz IV. Fast noch mehr
hatte sie getroffen, dass auch seine Ehe gescheitert war, und sie
ihre Enkeltochter kaum noch sahen. Ja, es stimmte, sie sagten
ihm das nicht. Sie taten sogar alles, um ihre Enttäuschung vor
ihm zu verbergen. Aber sie konnten ihm nichts vormachen, er
spürte genau, was sie dachten. Und es stimmte ja auch. Er hatte
im Leben nicht die Kurve gekriegt. Irgendwie war er immer hinter
den Erwartungen zurückgeblieben, auch hinter seinen eigenen.
Das hatte schon in der Schule begonnen. Es war immer klar
gewesen, dass er studieren würde, etwas Naturwissenschaftliches
am besten, vielleicht sogar Physik. Ja, das war sein Traum gewesen
und auch der seiner Eltern. Alles hätten sie dafür getan, um
ihm diese Chance zu eröffnen, aber dazu war es nicht gekommen,
weil, ja weil…
Völlig unerwartet hatte er ihn plötzlich gesehen, auf einem Boot,
zwei Stege weiter. Er hatte keine Sekunde lang daran gezweifelt,
dass er es war. Zu tief waren die Erlebnisse, die er mit ihm gehabt
hatte, in ihm verankert, zu klar waren die Bilder in seinem
Gedächtnis haften geblieben, auch wenn noch so viele Jahre vergangen
waren.
Er hatte gesehen, wie der andere sein Boot flott machte, um auf
dem Kanal zu schippern, und musste sich zwingen, nicht zu offensichtlich
hinüber zu starren. Er wollte nicht auffallen, denn er
wusste noch nicht, wie er auf diese Nähe reagieren sollte. Sollte er
ihn übersehen, einfach so tun, als gäbe es ihn gar nicht?
Er hatte dann angefangen, selbst sein Boot flott zu machen
und ihn aus den Augenwinkeln heraus beobachtet. Ja, er war es
wirklich und er hatte sich kaum verändert seit damals. Er war
älter geworden, natürlich, die Haare waren grauer geworden,
aber die Bewegungen, der Blick, das ironische Grinsen, alles
das war genauso wie er es in Erinnerung hatte.
Und das Beste war, der andere ahnte nichts davon, dass er beobachtet
wurde. Er war ahnungslos, ganz auf sein Schiff konzentriert,
das größer war als das seines Freundes. Ja, er hatte
sich was gegönnt, dieser elende Typ. Genau das war es gewesen,
was er gedacht hatte: elender Typ. Und schon dabei hatte er
gemeint, dass die Bezeichnung viel zu harmlos sei für das, was
er ihm angetan hatte. Er hatte noch nicht gewusst, was er mit
seinem Wissensvorsprung anfangen sollte. Aber irgendetwas
würde er damit anfangen, so viel war klar.
3.
Die Frau, die Anselm in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa gegenüber
saß, weinte bitterlich. Sie hielt ein Taschentuch in den
Händen, wischte sich damit in regelmäßigen Abständen über
die Augen, und knüllte es danach in ihren Händen.
„Ich will ihn sehen“, sagte sie, und dann, nachdem sie sich wieder
über die Augen gewischt hat: „Wie konnte das passieren,
mein Gott, warum nur?“
Anselm sah sie nachdenklich an. „Wir wissen noch nicht, warum
es passiert ist. Wir müssen jetzt alle Möglichkeiten überprüfen.
Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?“
Jetzt war sie es, die nickte. „Ja, wenn es sein muss.“
„War Ihr Mann oft auf seinem Boot?“
„Ja, er war gern und oft dort. Seit seiner Pensionierung vor ein
paar Jahren ist das Boot sein Hobby geworden, meines dagegen
weniger. Ich kann das Schaukeln nicht vertragen, wenn ein
Lastkahn vorbeifährt. Na ja“, fügte sie hinzu, als wollte sie sich
dafür entschuldigen, „so ist das eben.“
„Was hat Ihr Mann früher gearbeitet?“
„Er war Lehrer an einem Gymnasium. Englisch und Sozialwissenschaften.
Seit er pensioniert ist, hat er ganz mit der Schule
abgeschlossen.“ Sie lächelte gequält. „Er wollte nicht einer
von denen sein, die nicht loslassen können und dauernd über
Schule reden. Er wollte ein zweites, ganz anderes Leben führen,
mit Bootsfahrten durch die Kanäle, manchmal bis runter nach
Holland.“ Sie sah Anselm plötzlich durchdringend an. „Glauben
Sie wirklich, dass es Mord gewesen sein könnte?“
Anselm zuckte mit den Schultern. „Wir können es nicht ausschließen.
Hatte er denn Feinde?“
„Nein, Feinde hatte er nicht. Gegner, das vielleicht. Ja, Gegner
hatte er sicher. Er war ja in der Politik tätig, war Mitglied im
Rat unserer Stadt. Da hat er jahrelang den wichtigen Finanzausschuss
geleitet und immer hart gestritten mit den eigenen
Parteifreunden und der Opposition. Aber das hat ihm eher Respekt
eingebracht, keine Feinde.“
Sie schüttelte den Kopf. „Mord“, sagte sie dann, „mein Gott,
ich kann mir das gar nicht vorstellen.“
„Und sonst“, fragte Anselm, „gab es außerhalb der Politik Konflikte
um ihn?“
„Sonst weiß ich nichts“, antwortete sie.
„Und Ihre Familie?“
„Da ist alles in Ordnung. Unsere beiden Söhne kommen regelmäßig
mit ihren Familien vorbei. Der Jüngere, der in Köln
wohnt, natürlich häufiger als der in Hamburg, das bringt die
Entfernung mit sich. Unsere beiden Schwiegertöchter sind sehr
freundlich.“ Sie sah Anselm an, als würde ihr gerade etwas einfallen.
„Gut“, fuhr sie dann fort, „mein Mann monologisiert
gern. Damit kann er manchem auf die Nerven gehen, und bei
unserer Hamburger Schwiegertochter war das auch so. Aber
deshalb Mord?“ Sie lachte bitter. „Das ist doch kein Grund.“
„Nein“, antwortete Anselm, „das ist keiner. Dann gäbe es bald
keine Politiker mehr, weil die alle gerne monologisieren.“ Er
bemerkte an den Falten auf ihrer Stirn, dass dieser Scherz nicht
gut angekommen war.
„Gibt es noch Parteifreunde, die mit Ihrem Mann in Kontakt
standen?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Er hat nach der Pensionierung
auch mit der Politik aufgehört.“
Komisch, dachte Anselm. Mit der Pensionierung haben viele
doch erst richtig Zeit für Politik. Die meisten haben doch
Angst, dass sie dann nichts mehr zu tun haben. Dass einer dann
vollständig mit allem bricht …
4.
Sie waren sich dann doch begegnet. Ein älteres Ehepaar, das die
Wochenenden auf dem Schiff verbrachte, hatte ihn eingeladen.
Sie hätten etwas zu feiern, hatten sie ihm gesagt, als er durch
den Hafen hinüber zum Café lief, um ein Stück Apfelkuchen
zu essen. Er solle doch kommen, sie würden sich sehr freuen,
hatten sie ihm gesagt. Was sie zu feiern hatten, wollten sie aber
nicht verraten. Das wäre bis zur Feier ein Geheimnis, hatten sie
lachend gesagt.
Es waren schon zwei andere Pärchen da, als er zur Feier kam.
Das eine war über siebzig Jahre alt, das andere höchstens so alt
wie er, also etwa vierzig. Die Jüngeren hatten einen Jagdhund
mitgebracht, der hechelnd neben dem Stuhl des Mannes lag.
Er würde immer bei ihnen auf dem Boot wohnen, erzählte die
Frau. Nur wenn er merke, dass sie losfahren wollten, würde er
mit einem Satz an Land springen und abhauen. Kein Lockmittel
der Welt würde ihn dann zurückbringen. Inzwischen würden
sie es auch nicht mehr versuchen, denn sie wüssten, dass
er irgendwo im Hafen warten würde, bis sie von ihrer Schippertour
zurückkämen. Alle hatten über die Geschichte lachen
müssen, auch er. Ein Bordhund, der Angst vor der Schifffahrt
hat, das war wirklich komisch.
Dann hatte das ältere Ehepaar Gläser verteilt und jedem Sekt
eingeschenkt. Sie wären endlich Großeltern geworden, hatten
sie erklärt, worauf sie schon lange gewartet hätten. Ihre Tochter
wäre fast vierzig, aber nun hätte es doch noch geklappt.
Er konnte ihnen die Freude ansehen. Genau in dem Moment,
als sie anstießen, war er gekommen, das übliche Grinsen im
Gesicht, das er aus der Schulzeit her kannte und das ihn begleitet
hatte bis heute. In vielen Alpträumen hatte er es gesehen,
weil er einfach nicht loskam von seinen Erlebnissen aus der
Schulzeit. Weil alles das, was er dort erlebt hatte, in ihm weiterarbeitete.
Es war das Grinsen, das Bäumler immer gezeigt hatte, wenn er
jemanden fertig machte, ihn oder einen anderen aus der Klasse.
Ja, das hatte er liebend gern getan, jemanden fertig machen.
Wie, das wissen wir nicht? Haben wir denn nicht gelernt? Hatten
wir mal wieder keine Zeit, weil wir mit der Lederjacke auf
dem Moped um den Häuserblock brettern mussten?
Ja, diesen doofen Gag hat er oft gemacht, den mit der Lederjacke
auf dem Moped. Lustig fand er ihn und tatsächlich haben
immer ein paar von den Schülern mitgelacht, weil sie froh waren,
nicht selbst das Opfer zu sein.
Hass hatte sich mit der Zeit bei ihm entwickelt, und Bäumler
musste das gespürt haben, denn je mehr er ihn ablehnte, desto
häufiger machte Bäumler ihn fertig. Seine Zensuren waren
sowieso reine Sympathiebewertungen. Mädchen kamen besser
weg, blonde vor allem. Sie passten sich an, merkten, wie sie sich
verhalten mussten und taten, was er wollte. Jungen bekamen
eine Note schlechter, wer etwas gegen Bäumler oder seine Partei
sagte, war im Grunde erledigt.
Nur er, er hatte sich nie anpassen können. Er konnte es bis
heute nicht. Vor allem konnte er nicht zu Kreuze kriechen vor
so einem … Er unterdrückte das Wort, weil er nicht in die
Ausdrucksweise von Bäumler verfallen wollte.
Was jetzt, hatte er gedacht. Was mache ich, wenn er mich erkennt
und mich anspricht auf damals. Noch dazu in seinem
ironischen Ton und vielleicht sogar, um mich wieder fertig zu
machen. Soll ich dann zuschlagen, einfach so, ansatzlos? Verdient
hätte er es weiß Gott.
Aber dann kam diese unglaubliche, nein, nicht Erleichterung,
das wäre das falsche Wort. Dann kam die furchtbare Erschütterung,
dass Bäumler ihn überhaupt nicht erkannte. Er hatte an
einer entscheidenden Stelle sein Leben beeinflusst, hatte sein
Scheitern am Gymnasium bewirkt und damit alles andere bewirkt,
was später kam. Und dann erinnerte er sich nicht einmal
mehr an ihn. Er hatte sein Leben kaputt gemacht und ihn danach
einfach aus seinem Gedächtnis gestrichen.
„Hallo“, hatte Bäumler gesagt und ihm freundlich lächelnd die
Hand gereicht. „Schön, dass wir uns kennen lernen.“
Er war minutenlang unfähig gewesen, auch nur ein Wort zu
sagen, was Bäumler aber nicht auffiel. Der hatte sofort wieder
angefangen zu monologisieren. Wie früher, in seinen Schulstunden.
Nur dass er diesmal von seinen Enkeln erzählt hatte,
die natürlich alles Prachtkerle waren. Ging ja auch gar nicht anders,
bei dem Opa. Und er hatte zuhören müssen, wie damals,
weil er unfähig war, einen klaren Gedanken zu fassen. Weil ihm
das einfachste, was er hätte tun sollen, einfach nicht in den
Sinn kam. Nämlich aufzustehen und zu gehen.
Stattdessen hatte er auf dem Boot gesessen, hatte in die Grinsemaske
gestarrt und dabei immer mehr Wut verspürt. Wut auf
Bäumler, Wut auf sein gescheitertes Leben, Wut darauf, dass
Bäumler sich nicht einmal an ihn erinnerte.
5.
Anselm Becker war zum Fraktionsgeschäftsführer ins Rathaus
gegangen. Es war ein freundlicher Mann, der ihn in seinem
Büro empfing.
„Kaffee?“, fragte er.
Anselm nickte. Als er ihm von Bäumlers Tod erzählte, wirkte er
sehr erschrocken. „Um Gottes Willen“, sagte er.
„Können Sie sich vorstellen, dass jemand Bäumler nach dem
Leben getrachtet hat?“
Der Geschäftsführer schüttelte den Kopf. „Nein, beim besten
Willen nicht. Bäumler war schwierig, das stimmt. Wer nicht
nach seiner Pfeife tanzte, den konnte er schon mal fertig machen.
Und zwar gehörig! Leute aus der eigenen Fraktion, aber
auch welche aus den anderen Parteien. Da machte er keine Unterschiede.
Aber so etwas …“ Er schüttelte noch einmal den
Kopf.
„Und wie hörte sich das an, wenn er jemand fertig machte?“
„Ganz einfach. Ein Arschloch war das dann. Ja, das war sein
Lieblingswort. Viele waren zuerst sauer, wenn er sie so angeschrieen
hatte. Später ist das dann umgekippt, weil Bäumler im
Laufe der Zeit viele so tituliert hatte. Wie, du bist noch kein
Arschloch gewesen, haben die sich dann über die Parteigrenzen
hinweg angeredet, dann wird das aber Zeit. Und dann haben
sie schallend gelacht. Bäumler hat das irgendwann mitgekriegt,
sich aber zuerst nichts anmerken lassen. Was sollte er auch tun?
Erst im Fraktionszimmer hat er rumgewütet, na, ist besser,
wenn ich die Formulierungen, die er da gebraucht hat, nicht
wiederhole. Er konnte halt keinen Widerspruch vertragen.“
„Arschloch ist für einen Gymnasiallehrer kein besonders differenzierter
Sprachgebrauch“, sagte Anselm.
Der Geschäftsführer sah ihn erstaunt an. Offensichtlich hatte
er über diesen Zusammenhang noch niemals nachgedacht.
„Waren Sie denn auch eines?“, fragte Anselm. „Ich meine, ein
Arschloch.“
Der Geschäftsführer lachte schallend. „Ich war es sogar dreimal.
Das können nicht viele von sich behaupten.“
Fast schien es so, als wäre er stolz darauf. Dann wurde er plötzlich
ernst. „Aber deshalb Mord? Dann wäre ich ja einer der
Hauptverdächtigen.“
Anselm nickte. Ja, das wäre er. Aber so offen, wie ihm der
Mann entgegentrat, hatte er garantiert nichts mit Bäumlers
Tod zu tun.
„Und andere alte Rechnungen stehen da nicht offen?“
Der Geschäftsführer schüttelte wieder den Kopf. „Nein, Bäumler
ist seit Jahren raus aus der Politik, von dem spricht kaum
noch einer. Höchsten mal als Gag.“
Anselm dankte und verabschiedete sich von dem Mann. Von
einer Bank vor dem Rathaus aus rief er den Doktor an, der
inzwischen wieder in Dortmund war. Vor seinen Augen erhob
sich rostig braun ein Hochhaus.
„Weißt du inzwischen, ob es Mord oder Unfall war?“, fragte er.
Er erhoffte sich endlich Klarheit, vielleicht könnte er sich seine
Befragungen ersparen.
„Ganz sicher bin ich noch immer nicht“, antwortete der Doktor.
„Es könnte beides sein, auch ein Sturz gegen die Reling. Da
muss ich meine Aussage von heute früh etwas korrigieren, als es
mir eher wie ein Mord vorkam. Das Boot war vom Regen heute
früh nass, der Untergrund glitschig. Gut möglich, dass da jemand
ausrutscht, gegen die Reling knallt, besinnungslos wird,
ins Wasser stürzt und ertrinkt. Es kann aber auch ein Schlag
von hinten gewesen sein, der ihn gegen die Reling stieß. Auf
dem Rücken habe ich ein kleines Hämatom gefunden. Vielleicht
hat er sich da aber nur gestoßen.“
Mist, dachte Anselm, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als
weiterzumachen. Vorerst jedenfalls. Es war halb drei, als er zurück
zum Hafen fuhr.
6.
Er hatte ihn auch in den nächsten Tagen beobachtet, meistens
von seinem Boot aus. Bäumler hatte davon bestimmt nichts
mitgekriegt. Er hatte schnell raus gefunden, dass Bäumler allein
auf seinem Schiff war. Nur manchmal kam eine Frau in Bäumlers
Alter vorbei und brachte ihm etwas in Einkaufstüten. Seine
Frau vermutlich. Aber sie blieb nie länger als ein, zwei Stunden.
Das war die wichtigste Erkenntnis, die er mit der Zeit gewonnen
hatte. Dass Bäumler die meiste Zeit allein war.
Irgendwann war Bäumler plötzlich auf sein Schiff gekommen.
Ein Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Hatte Bäumler
doch mitgekriegt, dass er ihn heimlich beobachtete und wollte
sich beschweren? Nein, das war es nicht gewesen. Bäumler
wollte ein Gespräch, von Bootsmann zu Bootsmann. Dieses
Arschloch. Ja, das war es, was er gedacht hatte. Dieses Arschloch
ist tatsächlich zu mir gekommen. Es war das Lieblingswort
von Bäumler gewesen.
Es war ihm auch diesmal nicht der Hauch einer Ahnung gekommen,
wer da
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer
Bildmaterialien: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2012
ISBN: 978-3-95500-283-1
Alle Rechte vorbehalten