Donnerstag. Ende der Sprechstunde. Engel schleicht
von der Besuchertoilette ins leere Wartezimmer, schließt
das Fenster und löscht das Licht. Stimmen auf dem Flur.
Die Bewährungshelfer kommen aus ihren Büros, wünschen
sich einen schönen Abend und verlassen die Etage. Eine
Bewährungshelferin nähert sich dem Wartezimmer. Engel
versteckt sich hinter der Tür, horcht auf das Klackern ihrer
Absätze. Was soll er sagen, wenn sie ihn entdeckt?
Die Fenster auf den Toiletten werden geschlossen. Sie
kommt zur Tür, bleibt davor stehen. Den Atem anhalten.
Nicht bewegen. Er zählt: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Sandra, seine Freundin, hatte ihm geraten, in bedrohlichen
Situationen zu zählen, dabei immer daran zu denken, dass alles
vorübergeht. Morgen beginnt ein neuer Tag, hatte sie gesagt. Ein
Stein ist ihm geblieben auf dem Bochumer Hauptfriedhof.
Die Bewährungshelferin geht zurück. Das Klackern
ihrer Schuhe auf dem Steinboden wird leiser. Engel atmet auf.
Erwartet das Knarren der Glastür. Nichts! Er traut sich einen
Schritt vor, wagt einen Blick in den langen Flur.
Hinter der Glastür liegen links und rechts jeweils
fünf Büroräume, vor Kopf das Geschäftszimmer und ein
Besprechungsraum. Er hat eine Skizze gefertigt, die Namen der
Mitarbeiter von den Schildern an den Türen abgeschrieben.
Es ist das Büro von Silvi Kahre, Windichs Vertretung. Am
Ende wartet sie auf ihn. Er sollte zu ihr hingehen und laut
«Feierabend!» rufen.
Ihre Bürotür wird nach innen geöffnet. Er weicht in
sein Versteck zurück, hört ein Schnurren wie von einem
Fahrrad. Das ist es! Sie fährt mit dem Rad, nimmt es mit in ihr
Büro, damit es nicht geklaut wird. Ihre Pumps hat sie gegen
Turnschuhe getauscht, deswegen hört er ihre Schritte nicht.
Erleichtert vernimmt er das Knarren der Glastür, bleibt in
seinem Versteck, bis die Außentür ins Schloss fällt.
Außer ihm sind noch Windich und sein Besucher auf der
Etage. Was haben die so lange zu besprechen? Er sieht auf die
Uhr. Zwanzig nach sieben. Wenn der Klient die Dienststelle
verlässt, ist er an seinem Ziel.
Dazu hatte er am Mittag in der Geschäftsstelle
angerufen, sich mit einer Verspätung angekündigt. Als Grund
Überstunden auf der Arbeit genannt. Das Telefonat beendet,
bevor Rückfragen zu seinem Namen gestellt werden konnten.
Überflüssig, doch woher sollte er ahnen, dass Windich die
Sprechstunde überzieht? Oder hat er mit dem Klienten die
Dienststelle verlassen, als die Bewährungshelferin ihre Runde
machte? Engel schleicht über den Flur, lauscht an der Tür.
«Ein Kind kostet eine Menge Geld, Herr Kastas. Haben
Sie sich darüber Gedanken gemacht?»
Engel geht ins Wartezimmer zurück. Wie konnte er sein
Versteck so leichtsinnig aufgeben? Nicht auszudenken, wenn
dieser Kastas in dem Moment die Bürotür geöffnet hätte oder
Windich selbst. Er muss seine Gefühle unter Kontrolle halten,
überlegt noch eine Tablette zu nehmen, aber darf die Dosis
nicht überschreiten. Keine unbedachten Schritte, sonst ist alles
sinnlos. Kann er nach Hause trotten, um weiterhin von seiner
Rache zu träumen. Er schnallt den Gürtel mit dem Schlagstock
um, berührt ihn andächtig.
Die Verkleidung! Worauf wartet er? Er nimmt die Sachen
aus dem Rucksack, legt den schwarzen Umhang um, streift die
Handschuhe über. Noch die weiße Maske und die Brille. Fast
hätte er die Überschuhe vergessen. Nachher sind es die Schuhe,
die ihn verraten. Er muss sich beeilen. Windich wird nicht
länger auf den unbekannten Anrufer warten, sondern nach
dem Besucher die Dienststelle verlassen wollen. Jetzt noch die
Handschellen, mit denen er ihn an die Heizungsrohre fesseln
will. Er möchte die Angst in den Augen sehen, den Schrecken,
die Ohnmacht. Soll er ihn zwingen, sich auszuziehen? Es würde
ihm gefallen, Windich nackt und hilflos zu erleben, auf ihn
angewiesen.
Kontrollieren, ob alles sitzt! Er schleicht zur Toilette, blickt
in den Spiegel über dem Waschbecken. Stellt befriedigt fest,
dass er in der Verkleidung nicht zu erkennen ist. Seine Stimme
hatte er mit der Diktierfunktion seines Handys mit und ohne
Maske aufgenommen und abgespielt, bis er mit dem Ergebnis
zufrieden war. Sogar an das Parfüm hat er gedacht, obwohl
er seinem Bewährungshelfer keinen besonderen Geruchssinn
zutraut.
Es schellt. Die Außentür wird aufgedrückt. Erwartet
Windich noch einen Klienten? Oder eine Freundin, einen
Freund, wollen sie ihn zum Essen oder zum Sport abholen? Er
verschwindet im Wartezimmer, bevor der Besucher die Treppen
hochgestiegen ist. Wagt einen Blick in den Flur.
Ein Typ mit rotblonden, struwweligen Haaren steht vor
der Glastür mit einer blauen Kappe in der linken Hand. Lucas
Soundso, der Nachname ist ihm entfallen. Es ist einige Zeit
her, doch es ist zweifellos Lucas, der Drogendealer auf dem
Herner Berufskolleg.
Windich lässt ihn auf die Etage. Keine Vorwürfe, kein
Abschieben an der Tür mit dem Hinweis auf die Uhrzeit. Wenn
Lucas ins Wartezimmer kommt, bleibt nur, ihn zur Seite zu
schubsen und zu fliehen. Auf keinen Fall darf er die Maske
abnehmen.
Er lauert hinter der Tür. Jeder Muskel ist anges-pannt. Er
zählt: zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Lucas kommt nicht,
er wird vor der Bürotür warten. Engel setzt die Maske ab, um
sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, stößt dabei gegen
die Tür. Nicht auszudenken, wenn ihm das zu einem früheren
Zeitpunkt passiert wäre. Die Glastür knarrt. Der lange Kastas
geht, Lucas ist im Büro.
Engel sieht sich im Wartezimmer um. Sechs Stühle um einen
runden Holztisch, darauf Zeitschriften, in der Ecke eine gepflegte
Birkenfeige auf einem Hocker. Er nimmt die aktuelle Ausgabe
vom Stern, starrt auf die Wörter, ohne den Zusammenhang zu
verstehen. Zuckt zusammen, als die wieder Bürotür geöffnet wird
und wartet, bis Lucas die Dienststelle verlassen hat.
Es ist so weit. Er ist mit Windich allein auf der Etage. Sein
Puls beschleunigt sich. Auf den Moment hat er gewartet, ihn sich
immer wieder vorgestellt. Warum zögert er? Der Schritt vom
Planen zum Handeln. Tausendmal ist er alles in seinem Kopf
durchgegangen. Es kann nichts schiefgehen. Windich wird vor
Angst wie gelähmt sein. Oder? Der Schlagstock. Er muss ihn
blitzschnell in die Halterung stecken und wieder hervorholen
können. Er löst den Gürtel unter dem Umhang, schnallt ihn
darüber. Das Loch passt nicht. Er sucht ein anderes. Seine Hände
zittern. Warum hat er es nicht vorher in aller Ruhe gemacht? Er
hatte so viel Zeit. Endlich. Er zieht den Stock heraus, steckt ihn
zurück. Reibungslos! Er verlässt das Wartezimmer, schleicht über
den Flur.
«Herr Briest? Sind Sie noch da?»
Er stockt. Hält den Atem an. Die Hand am Schlagstock.
Er hört sein Herz klopfen. Kann sich nicht entschließen,
weiterzugehen. Die Tür erscheint ihm wie eine undurchdringliche
Mauer. Sekunden vergehen. Gleich wird Windich das Büro
verlassen. Nein, soweit darf es nicht kommen. Er zwingt sich, an
seine verstorbene Freundin zu denken. Fühlt den Schmerz, gibt
sich einen Ruck, formuliert zum hundertsten Mal die Worte, die
er an Windich richten will:
Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts! Er wird das
Portemonnaie verlangen, einen Raub vortäuschen. Macht einen
Schritt vorwärts, steht unmittelbar vor der Tür.
11
«Warum kommen Sie nicht herein? Was soll das
Versteckspiel?»
Er stößt die Tür auf. Sieht Windich am Kleiderschrank
«Warum kommen Sie nicht herein? Was soll das
Versteckspiel?»
Er stößt die Tür auf. Sieht Windich am Kleiderschrank,
schreit: «Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts!»
Weidet sich am Schrecken des Bewährungshelfers, gibt seinen
Worten einen harten Unterton: «Ihr Portemonnaie! Schnell!»
Verfolgt, wie Windich in die Jackentasche greift. «Die Hände
auf den Rücken! Das Portemonnaie dazwischen. Schnell,
schnell!» Er holt die Handschellen hervor, darf ihm keine Zeit
lassen.
«Herr Degen? Wenn Sie es sind … weil Sie den
Anhörungstermin erhalten haben … wir können mit dem
Richter über alles reden!»
«Die Hände auf den Rücken habe ich gesagt! Langsam zum
Schrank drehen!» Er verfolgt den Blick des Bewährungshelfers
zum Schreibtisch, sieht ein Springmesser, die Hand, die danach
greift.
Das Dreckschwein will dich reinlegen. Er schlägt mit dem
Schlagstock zu, verliert ihn aus der Hand, schnappt sich das
Messer. Trifft den Druckknopf. Die Klinge schnellt heraus. Er
nimmt die Bewegung von Windich wahr, der ihm das Messer
entreißen will, dabei in die Klinge fasst. Das verzerrte Gesicht,
die Platzwunde am Kopf. Er sticht zu. Erwischt ihn am Hals,
sieht das Blut, die Panik in den Augen, die Hand, welche die
Wunde schließen möchte. Sticht erneut zu, steigert sich in
einen Rausch, bis Windich zwischen Schreibtisch und Schrank
zu Boden gleitet. Er kann den Blick nicht abwenden, fühlt eine
Macht, wie er sie noch nie im Leben empfunden hat, schließt
die Augen und atmet tief durch.
Engel hält das Springmesser in seiner Hand. Was wollte
Windich damit? Warum lag das Messer auf seinem Schreibtisch?
Er lässt es auf den Toten fallen. Betrachtet das Büro. Keine
Bilder, keine Blumen. Tisch, Computer, Schrank, Stühle. Der
Schlagstock. Er hebt ihn auf, wischt ihn an Windichs Jacke ab.
Steckt ihn zurück in die Halterung am Gürtel.
Das Portemonnaie von Windich. Er nimmt es in die
Hand, zählt über dreihundert Euro. Auf dem Stuhl vor dem
Schreibtisch entdeckt er ein weiteres Portemonnaie, das an den
Rändern zerfleddert aussieht. Wer immer es vergessen hat, wird
zurückkommen, das Licht im Büro sehen und schellen.
Soll er die dreihundert Euro in das fremde Portemonnaie
stecken? Um den Bullen und der Presse den Täter frei Haus zu
liefern? Er ahnt die Schlagzeile:
Raubmord in der Bewährungshilfe! Auf der Flucht verlor der
Täter seine Beute.
Er klappt das Portemonnaie auf. Zwanzig Euro. Ein Foto
von Lucas und einer Frau. Sie strahlt in die Kamera. Noch
ein Foto von den beiden. Arm in Arm. Sofort ist Engel an
Sandra erinnert, fühlt die Leere seit ihrem Tod, versucht den
Schmerz zu verdrängen. Er nimmt den Personalausweis aus der
Seitentasche: Lucas Briest.
Er zögert. Soll er das Geld wirklich abgeben? Dreihundert
Euro könnte er gut gebrauchen, zumindest einen Teil davon.
Woher sollen die Bullen wissen, wie viel Geld Windich bei sich
trug? Er stopft hundertfünfzig Euro in seine Hosentasche unter
dem Umhang. Drei Fünfziger benetzt er mit Windichs Blut
und steckt sie zu dem Zwanziger in das Portemonnaie, das er
gut sichtbar auf den Fußboden wirft. Einem inneren Zwang
folgend rennt er ins Wartezimmer, um die Grünpflanze aus der
Ecke zu holen und sie neben Windich aufzubauen. Ein bisschen
Leben in der Bude. Verrückt. Er beißt sich auf die Zunge, bis
es schmerzt. Nimmt den Notizblock des Bewährungshelfers an
sich. Mit einem letzten Blick auf den Toten verlässt er das Büro.
Streift die Verkleidung auf der Toilette ab, verstaut sie in dem
mitgeführten Rucksack im Wartezimmer.
Wollte er es so? Ohne Worte? Ohne Verstehen? War das
seine Rache? Nein, er wollte Windich mit der Maske und dem
Schlagstock einschüchtern, ihn fesseln, aber nicht umbringen.
Das Springmesser gab den Ausschlag. Sein Plan wurde von der
Wirklichkeit übertroffen. Warum war er von dem Anblick des
Toten nicht mehr erschrocken? Er hat ihn ermordet, einen
Menschen erstochen. Fühlt eine Eiseskälte in sich, die ihn
erschreckt, zugleich mit Stolz erfüllt.
Von einem Fenster im Hausflur beobachtet er den Parkplatz
vor dem Gebäude, den Bürgersteig, die Straße. Wartet, bis zwei
Fußgänger vorüber sind, alles leer wirkt. Mit dem Keil verhindert er
das Zuschlagen der Außentür, bevor er auf die andere Straßenseite
wechselt. In der Garageneinfahrt gegenüber erkennt er eine
Gestalt. Er schlägt die Kapuze seiner Regenjacke hoch, verdeckt
das Gesicht und läuft zu den Ampeln an der Straßeneinmündung.
Aus sicherer Entfernung wagt er einen Blick zurück. Licht in
Windichs Büro, die Außentür einen Spalt geöffnet.
Er könnte wetten, dass Lucas zurückkommt, stellt sich
den Schrecken beim Anblick des Toten vor. Wird Lucas das
Portemonnaie aufheben und aus dem Gebäude stürmen? Oder
die Bullen rufen? Er wird es nehmen, zur Platte fahren, um
sich dichtzumachen, dabei das Blut an den Scheinen nicht mal
bemerken. Die Bullen werden die Spur verfolgen und die blutigen
Fünfziger bei ihm entdecken.
Der Regen setzt wieder ein. Engel findet eine Überdachung
in einem Hauseingang. Es ist kalt, er friert, zittert, hat keine Lust
zu warten. Es kann bis morgen dauern, bis der Tote gefunden
wird. Warum kommt Lucas nicht? Hat er seine Freundin in der
Stadt getroffen?
Engel sieht auf die Uhr. Zehn nach acht. Die Sprechstunde
endet um sieben, da kann Lucas nicht mehr damit rechnen,
Windich noch anzutreffen. Er macht sich auf den Weg zum
Zentrum, hat sich zweihundert Meter entfernt, da nähert
sich ein Jogger auf der anderen Straßenseite. Beim näheren
Hinsehen erkennt er ihn. Also doch! Er folgt ihm bis zur
Straßeneinmündung. Sieht, wie Lucas vor dem Eingang der
Bewährungshilfe stehen bleibt, zum ersten Stock blickt. Wieso
geht er nicht rein? Die Tür ist geöffnet. Los, geh rein, sieh dir
die Schweinerei an! Wie auf Befehl drückt Lucas die Tür auf.
Licht im Hausflur. Engel wartet. Nichts passiert. Ruft Lucas
die Bullen? Dann werden sie gleich auftauchen. Engel möchte
ihnen auf keinen Fall begegnen. Mit schnellen Schritten
entfernt er sich in Richtung Fußgängerzone.
Texte: Brockmeyer Verlag
Lektorat: Brockmeyer Verlag
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2012
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