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Kapitel 1


„Nur nicht aufhören, zu laufen!“, befahl er sich. Kalter
Schweiß strömte ihm aus Poren am gesamten Körper und sein
Herz raste. Trotzdem kam es ihm vor, als ob er fieberte. Er
hechtete die Treppenstufen zur U-Bahn herab. Eine nach der
anderen, die Aktentasche mit beiden Händen vor der Brust
umklammernd.
„...Blau und Weiß ein Leben lang – ein Leben lang...“ Ein
unübersichtlicher Pulk von Fußballfans drängte sich auf dem
Bahnsteig bis an den Rand des Gleises. Blaue Trikots, Schals
und hüpfende, bierselige Zuschauer, die auf die Bahn zur
Arena warteten, waren ein Geschenk des Himmels. Er drehte
sich rasch um, erkannte aber niemanden unter denjenigen, die
nach ihm zum Umsteigen hinabströmten.
Niemandem fiel auf, dass ihm der Teufel im Nacken saß.
Verlor er vollends den Verstand, driftete er in Hysterie und
irrationale Ängstlichkeit ab? Nein, bestärkte ihn eine ernste
innere Stimme, er erlebte tatsächlich einen Moment, in dem
man um sein Leben rennt.
Er schnappte nach Luft und drängte sich zwischen die
Fans, schob einen Drei-Zentner-Mann, der in eine mit Dutzenden
Aufnähern bestickte, verschlissene Jeans-Jacke gehüllt
war, zur Seite, wurde seinerseits im Gedränge mit Ellenbogen
traktiert, erntete wilde Flüche, die mit Jägermeister- und
Pilsgeruch garniert waren, und fand sich endlich in vorderster
Front an der Bahnsteigkante wieder. Der Puls beruhigte sich,
das Herz schlug nicht mehr bis zum Hals und er konnte einen
erneuten Blick nach hinten wagen.
Das, was er sah, beruhigte ihn ungemein. Welch ungeheures,
aberwitziges Glück, dass im Jahr 1904 ein paar Halbwüchsige
einen Fußballklub ins Leben gerufen hatten – und dass
ihm dessen Fans nun im Schutz der Masse eine Anonymität,
Sicherheit und Unangreifbarkeit boten, die durch nichts zu
übertreffen war. Endlich kam die Linie 302 herangerauscht.
Ihre Lichter näherten sich und wurden langsamer. Er hatte es
geschafft, war noch einmal davongekommen.
Plötzlich spürte er ein entsetzliches, furchtbares, brennendes
Stechen in der Lunge. In seiner Brust zog sich Fleisch, von
dessen Existenz er nie etwas geahnt hatte, in einem zerreißenden,
erstickenden Krampf zusammen. Er riss den Mund weit
auf, aber seine Brust war erstarrt, jegliches Luftholen unmöglich.
„Atme!“, befahl er sich verzweifelt.
Die Kraft seiner Beine versagte. Sekundenbruchteile weiteten
sich zu Ewigkeiten aus. Erstickte oder ertrank er innerlich?
Der Geschmack von Blut kann grausam sein.
Die Welt verwandelte sich zu einem wilden Karussell, Oben
und Unten verloren ihre Bedeutung, er versank im Boden und
sein Kopf schlug mit voller Wucht auf harten Stahl.
Das Rad der Straßenbahn war nur noch eine Handbreit
entfernt, schoss in unfassbarer Schnelligkeit auf ihn zu und
erschien größer als ein LKW-Reifen. Das gelbe, grelle Licht
der Bahn durchbohrte die Augen auf das Unerträglichste und
fürchterliches Bremsgetöse übertönte jedes weitere Geräusch.
Glatter, harter, viel zu schneller Stahl rollte funkensprühend
heran.
Das melodische „Blau und Weiß ein Leben lang...“ hörte
er so wenig wie den spitzen, kreischenden Aufschrei der Frau,
die soeben noch neben ihm gestanden hatte und der nun die
U-Bahn-Station abrupt zum Verstummen brachte. Es war
dunkel.
*
Karlheinz Kappler, pensionierter Polizeihauptkommissar,
Eigenbrötler, Sonderling und Hobby-Historiker, saß zur selben
Stunde über eine Biographie Ramses des Großen, des altägyptischen
Pharaos, gebeugt und war dem Tal der Könige näher als
dem Fußballstadion im Berger Feld. Was war die Gegenwart
gegen jene Großen, die einst die Dunkelheit der Welt mit ihrem
strahlenden Licht für viel zu kurze Augenblicke erhellt hatten,
deren Leistung noch heute staunen ließ?
Nichts hasste der Alte mit dem grauen, langen Bart und der
glänzenden Glatze mehr, als dass man ihn in die Niederungen
der Gegenwart zurückholte, ihn mit dem Banalen und Allzu-
Menschlichen belästigte. Und doch hatte er in den letzten Monaten
kleine, zurückhaltende Schritte aus seiner selbstgewählten
Isolation getan, zwei Morde mit aufzuklären geholfen und sich
auf das Spielfeld, das sie Leben nannten, zurückgewagt.
Doch inzwischen waren auch diese beiden Episoden nur
noch Erinnerungen, im Geiste abgelegt und einsortiert wie in
einer großen, geordneten, aber unüberschaubar umfangreichen
Briefmarkensammlung.
Und so, wie jede Briefmarkensammlung verstaubt und eines
Tages auf dem Müll, in einem feuchten Keller ihr stilles Ende
findet oder schlichtweg vergessen wird, waren Kapplers Erinnerungen
die eines Mannes, für den sich die Welt nicht mehr
interessierte.
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Derweil dankte er dem Herrn, an dessen Existenz er sich
zu glauben verboten hatte, inbrünstig dafür, dass er zurück in
seiner Einsamkeit war und sich ungestört seinen Studien widmen
konnte. Ramses der Große...solange die Helden Verehrer
finden, bleiben sie lebendig.
*
„Mein Gott!“ Jennifer Hartmann fluchte ungeniert. „Wissen
Sie, wie lange ich gebraucht habe, um durch das Chaos im
Bahnhof durchzukommen?“
Der Bahnsteig der Untergrundbahn war von den Fahrgästen
verlassen. Uniformierte Polizisten versperrten die mit Flatterband
abgesperrten Treppen und aus einem unerfindlichen
Grund taten die Rolltreppen weiterhin einen Dienst, den niemand
benötigte. Oben, am Bahnhofs-Center, hatte sich eine
Meute von Schaulustigen eingefunden, die sensationslüstern
oder einfach nur gedankenlos neugierig hinabstarrten.
Außer Polizeibeamten in Uniform und Zivil, waren Mitarbeiter
der Spurensicherung vor Ort und machten sich in ihren
weißen Schutzanzügen im Gleisbett zu schaffen. Hellmut van
Haaren bedachte seine junge Kollegin mit einem gereizten
Blick.
„Haben Sie gerade etwas gegessen?“, begrüßte er sie unwirsch
und fuhr, ohne sich für die Antwort zu interessieren,
fort. „Der Tote liegt noch da unten.“
Jennifer trat an die Front der stillstehenden U-Bahn heran.
Trotz der angenehmen Außentemperaturen begann sie, im kühlen
Untergrund zu frösteln. Das, was ihre Augen zu sehen bekamen,
schlug sie unvermittelt vor den Kopf. Reflexartig schloss
sie die Lider und wandte sich schockiert ab. Das ekelerregende
Bild wich ihr nicht aus dem Kopf. Nicht als sie sich fasste und
auch nicht, als sie die Augen wieder öffnete und auf van Haaren
zuging.
Sie bemerkte, dass ihre Schritte klein und konzentriert wurden,
die Beine unsicher und dass eine Gänsehautwelle über ihren
Rücken raste.
Van Haaren starrte aufmerksam auf sie, doch Jennifer brachte
keinen Ton heraus. Sie hatte schon etliche Tote gesehen. Brandleichen,
Ertrunkene, Geschändete und halb Verweste. Aber waren
jene wirklich diesem infernalischen Anblick auch nur annähernd
vergleichbar gewesen? Was sollte sie jetzt noch zu sagen haben
– angesichts einer zerfetzten Masse, die einmal ein menschlicher
Kopf gewesen sein musste? Oberhalb des Halses des Toten befand
sich ein unkenntliches Konglomerat aus Haut, Knochen, Blut
und einem Gehirn, das von einem stählernen Straßenbahnrad
durchschnitten und unkontrolliert verspritzt worden war.
„Ich weiß, dass es angenehmere Leichen gibt.“ Van Haaren
machte ein paar Schritte nach vorne, ging ungerührt an der
Bahnsteigkante in die Hocke und wies mit dem Arm nach unten.
„Sehen Sie das?“
Jenny stand noch vollends neben sich.
„Kommen Sie, Frau Hartmann. Sehen Sie sich seinen Rücken
an.“
Sie musste all ihre Kraft und Selbstbeherrschung zusammennehmen,
um den grausig entstellten Leichnam noch einmal zu
betrachten. Zögerlich näherte sie sich ihrem Chef und wagte den
zweiten Blick.
„Das macht ja alles nur noch schlimmer“, hörte sie sich überrascht
sagen.
*
Eine Person ging vor den Absperrungen auf und ab, lugte nach
unten, versuchte, einen Blick auf den Tatort zu erhaschen. Welch
befriedigendes, zutiefst erhabenes, großartiges Gefühl es war, zu
wissen, dass dort unten ein Toter lag, dessen Lebensgeister von
einer Sekunde auf die andere ausgepustet worden waren. Ein
Leichnam, der aufs Entsetzlichste entstellt, ja schier unkenntlich
gemacht war.
Der Mann, der zwischen Schaulustigen und Neugierigen in
der Anonymität der Masse aufging, genoss die Gunst der Stunde
noch eine Weile und machte sich dann – unbemerkt und von den
Umstehenden keines Blickes gewürdigt – gemächlich davon. Er
hatte genug gesehen, genug hohle Erschütterung der Menschen
um ihn herum vernommen und genug der schwer greifbaren Atmosphäre
des Tatortes erlebt.
Ahnungslose waren sie allesamt – verachtenswerte Naive, die
die wahren Dimensionen dessen, was Leben und Sterben umfassen
konnte, nicht einmal in ihren gewagtesten Träumen erahnten.
Und wer träumte in dieser trüben Welt der Einfallslosigkeit
überhaupt noch gewagt? Sie ließen sich für Tage fassungslos davon
aus der Bahn werfen, wenn sie jemanden, den sie nicht einmal
kannten, dabei beobachteten, von einer U-Bahn überfahren
zu werden. Mit Härterem konfrontiert, würden sie wimmernd
und flehend in sich zusammenbrechen, nach Hilfe schreien, die
niemand leisten konnte und den Verstand verlieren. Fragten sie
sich überhaupt noch, ob es einen Grund, einen Anlass für diesen
Tod geben konnte?
Ihn, den wir einen Unbekannten nennen wollen, ergriff seltene
Zuversicht und Unbeschwertheit – gemischt mit einem
Gefühl, das man Genugtuung nennt.
*
Es klingelte an der Tür. Überrascht hielt Kappler inne. Wer
konnte das sein? Wer wagte es, ihn, den Weltabgewandten,
im Glück seiner Einsamkeit zu stören? Widerwillig blickte er
von seiner Lektüre auf. Konnte derjenige, wer immer es sein
mochte, ermessen, was es bedeutete, von einer Sekunde auf die
andere aus dem alten Ägypten in die Gegenwart einer Ruhrgebietsstadt
katapultiert zu werden? Vielleicht war er tatsächlich
zu falschen Zeit geboren worden!
Genervt und zornig durchschritt er seine Wohnung und
öffnete die Tür, jene Pforte, die in die ihm so fremde Welt hinausführte.
Er hatte schon einen seiner respektlosen, überheblich-
intelligenten Sätze auf den Lippen, um den Übermütigen
zurechtzuweisen, doch dann blieb er vollends konsterniert fürs
Erste stumm.
„Hallo, Vater!“, sagte der grinsende Mann, neben dem
eine Frau und zwei kleine Kinder standen und ihm ebenfalls
glücksselig und erwartungsfroh entgegenlächelten.
„Teufel, stehe mir bei“, murmelte Kappler unverständlich
in den Bart.
*
„Wissen wir schon, wer der Tote ist?“, fragte Jennifer ihren
Chef. Aus den zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren
hatte sich eine widerspenstige Strähne befreit und tanzte
vor ihrem rechten Auge herum.
„Was denken Sie angesichts dieses Gesichtes? Wir haben einen
Ausweis in seiner Aktentasche gefunden, bei dem es sich um
einen serbischen Pass handelt, der auf einen gewissen Dragomir
Vukic ausgestellt ist. Wir werden sicherlich um einen DNA-Vergleich
nicht herumkommen.“
„Wissen wir, wo er wohnt?“, hakte sie nach.
„Durchaus, Frau Hartmann. Ich habe Günther und Jürgen
bereits dort hingeschickt. Sie werden mit mir noch ein paar Zeugenvernehmungen
vornehmen. Angeblich hat niemand gesehen,
wie ihm das Messer in den Rücken gestoßen wurde.“
„Das ist in dem dichten Gedränge vor einem Schalke-Spiel
kein Wunder. Aber was“, wies sie an die Decke, „ist mit der Überwachungskamera?“
„Darum habe ich mich noch nicht gekümmert. Ich habe viel
zu viel Zeit auf einen dreisten Mann von der Bogestra verwendet,
der partout nicht begreifen wollte, dass durch diesen U-Bahnhof
in den nächsten Stunden keine einzige Bahn fahren wird.“
„Ich bin mir sicher, dass Sie ihn zur Einsicht gebracht haben.“
Jennifer zwinkerte verstehend.
„Als ich ihn darüber informierte, wie kurz er davor stand, polizeiliche
Ermittlungen vorsätzlich zu behindern und deshalb den
Rest des Nachmittags im Arrest zu verbringen, hatte er in rekordverdächtiger
Zeit etwas ungemein Bedeutsames zu tun und ward
nicht mehr gesehen.“
Ein Mann der Spurensicherung winkte von den Gleisen mit
einem durchsichtigen Plastiksäckchen, in dem das Messer steckte.
„So etwas sieht man nicht jeden Tag!“, rief er zu
Jennifer und van Haaren.

Impressum

Texte: Brockmeyer Verlag
Bildmaterialien: Brockmeyer Verlag
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012

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