Der Mann im grünweißen Wohnmobil sah auf die Uhr. Es
war Sonntagabend, kurz vor neun. Die paar Minuten bis zum
Treffen würde er auch noch rumkriegen. Dann gab es ein wenig
Glückseligkeit, bis am Montag das Elend der Welt wieder über
einem zusammenschlug.
Aus der Ferne hörte er Gegröle, das näher kam, dann aber
verstummte. Es wurde still, seltsam still. Er glaubte, auch den
Motor eines Wagens gehört zu haben. Sicher war er sich nicht.
Er nahm noch einen Schluck Bier, erhob sich von der Sitzbank,
schob die Seitentür auf, sah nach draußen in die Dunkelheit.
Von dem Wagen, den er gehört hatte, sah er nichts.
Er verließ das Wohnmobil, ging drum herum, blieb vor ihm
stehen, sah auf den Kemnader See. Es war kühl, etwas zu kühl
für einen Spätsommertag im August. Der Himmel war von
Wolken bedeckt. Ein leichter Wind ging. Er hörte die Wellen
plätschern. Ein paar hundert Meter weiter, an einem Steg, erkannte
er schemenhaft ein paar Jollen, die dort schaukelten.
Das grünweiße Wohnmobil stand allein auf dem Platz am
See. Als er am frühen Abend gekommen war, hatten noch ein
paar andere Wagen dort geparkt, Spaziergänger waren auf dem
Weg am Ufer entlang gelaufen. Jetzt war er allein. Das seltsame
Gegröle, das er vernommen hatte, war verstummt, und
für einen Moment dachte er, einer Täuschung erlegen zu sein.
So als habe ihm das Geschrei vom Nachmittag in den Ohren
nachgeklungen. Da war er im Bochumer Stadion gewesen, hatte
das Spiel der Wolfsburger, seiner Wolfsburger, gegen den VfL
Bochum gesehen.
Dass ein paar Bochumer Fans enttäuscht waren über das
Unentschieden, hatte er auf dem Rückweg vom Stadion mitbekommen.
Eine der Ampeln auf der Castroper Straße zeigte Rot.
Er stand mit seinem Wohnmobil davor. Auf beiden Seiten des
Wagens war das Wolfsburger Emblem aufgemalt. Eine Gruppe
grölender Jugendlicher zog vorbei. Sie schwenkten Bierdosen
und blauweiße Schals. Einer stellte sich direkt vor das Auto,
schnitt eine Grimasse, zeigte mit dem Daumen nach unten
und schrie: „Zweite Liga!“ Dann ließ er unter dem Gejohle der
anderen die Bierdose an der Windschutzscheibe auslaufen. Es
hatte keinen Sinn auszusteigen. Er hätte die ganze Meute am
Hals gehabt.
Es war ein brenzliger Moment gewesen. Aber er hatte sich
nicht provozieren lassen, nicht den Versuch gemacht anzufahren,
als die Ampel auf Grün sprang. Der Bochumer Fan dagegen
machte keine Anstalten zur Seite zu gehen. Erst als das Bier
ausgelaufen war und hinter dem Wohnmobil ein wildes Gehupe
begann, trollte er sich, zeigte zum Abschied den Stinkefinger
und schrie: „Wir sehen uns noch!“
Gott sei Dank war der Behälter der Waschanlage gefüllt gewesen.
Ein paar Bewegungen der Wischblätter, das Bier war
runter von der Scheibe, konnte keine Streifen mehr bilden. Die
Wagenfront hatte er später mit Wasser vom Kemnader See gereinigt.
Jetzt knackte er sich eine neue Dose Paderborner. Das war
billig und schmeckte auch nicht schlechter als die Edelmarken.
Das konnte er sich gerade noch leisten. Ansonsten musste er
sich alles vom Munde absparen. Die Fahrten zu den Auswärtsspielen
waren teuer. Das Wohnmobil fraß Sprit. Es war ein
Mercedes-Hanomag, Baujahr 1971. Er nannte das Wohnmobil
‚Elefant’, weil es so viel fraß. Aber es gab Zeiten, da hatte man
kein Zimmer. Und diese Zeiten mochten wiederkommen. Er
lebte in einer unsicheren Welt.
Er fror. Bei diesem Wetter musste man oft pinkeln. Vor
allem, wenn man Bier getrunken hatte. Er machte ein paar
Schritte nach vorn, von dem Wohnmobil weg, stellte sich an
einen Baum. Der Stamm war auf Brusthöhe mit einem weißen
Kreuz markiert. Ein Wanderzeichen vielleicht. Vielleicht auch
sollte der Baum gefällt werden. Er wirkte ziemlich morsch. Die
Rinde war abgeblättert, der Fuß an einer Stelle gespalten. Er
versuchte, das weiße Kreuz zu treffen. So hatte man bei einer
ernsten Beschäftigung wenigstens etwas Spaß.
Die Wolkendecke riss an einer Stelle auf. Für einen Moment
war die Sichel des abnehmenden Mondes zu sehen. Er
hörte nicht die leisen Schritte hinter sich. Plötzlich hatte er um
den Hals einen Schal, der sich unbarmherzig zuzog.
Hauptkommissar Klaus Brenner saß in seinem Dienstzimmer,
hatte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte gestützt,
die Hände unter dem unrasierten Kinn zusammengefaltet und
blickte missmutig durch das Fenster nach draußen. Dort ragte
vor dem Präsidium der Turm des Bochumer Bergbaumuseums
nach oben. Grünlich hoben sich die blank geputzten Förderscheiben
vom Grau des Himmels ab, standen still inmitten einer
seltsamen Monotonie.
Der Sommer des Jahres 2008 hielt nicht, was man sich von
ihm versprochen hatte. Es war ein Montag in der zweiten Augusthälfte.
Das Wetter war schlecht, der VfL in seinem ersten
Heimspiel nach der Sommerpause über ein Unentschieden gegen
Wolfsburg nicht hinausgekommen. Der Kopf schmerzte
nach einer durchzechten Nacht. Marie hatte ihn am Abend als
einen heruntergekommenen Gesellen bezeichnet. Da hatte er
sich mit ein paar Fläschchen Wein getröstet. Gleich würde sein
Kollege Rogalla kommen, ein eingefleischter Schalke-Fan, genüsslich
Reval rauchen und den üblichen Schmäh zum Montagmorgen
loslassen. Die Schalker hatten auch ein Heimspiel
gehabt, das aber mit 3:0 gewonnen.
Brenner zog an seiner Zigarette, stellte fest, dass die mal
wieder ausgegangen war. Kein Wunder. Zigaretten aus der
Apotheke waren es. Haselnuss- und Papayablätter mit einer
Beimischung von Eukalyptus. Der Kommissar versuchte sich
das Rauchen abzugewöhnen. Er hatte die Dinger am Samstag
auch während des Spiels geraucht und seltsame Blicke von den
Nachbarn geerntet. Der Rauch roch nach Hasch. Ein junger
Schnösel in der Reihe vor ihm hatte sich umgedreht, demonstrativ
geschnuppert und gemeint: „Na, Opa, auf die alten Tage
noch auf dem Trip?“ – „Ruf doch die Polizei!“ hatte Brenner
höflich entgegnet.
Er zerdrückte das halbgerauchte Kräuterding im Aschenbecher.
Auf den Parkplatz zwischen Museum und Präsidium
schob sich jetzt ein dunkelblauer Corsa mit Bochumer Kennzeichen.
„Wechsel den Verein! Komm zu Schalke!“ klang es ihm
ein paar Minuten später zur Begrüßung entgegen. „Wer gegen
Wolfsburg nur unentschieden spielt...”
Rogalla grinste, holte ein Päckchen Reval aus der Hosentasche,
hielt es Brenner vor die Nase. „Rauch was Anständiges!”
„Mach lieber Kaffee!”
Rogalla zündete sich eine Reval an, zog genüsslich den
Rauch ein, spitzte die Lippen, ließ einen Kringel an die Decke
schweben. Er warf einen forschenden Blick auf den Kollegen.
„Siehst mitgenommen aus”, meinte er. „Marie?”
Brenner winkte ab. „Weiber!” grinste er, fingerte sich eine
Kräuterette aus der Packung, schob den Stengel wieder zurück.
Dann fuhr er sich mit der rechten Hand über den Kopf, als
müsse er sich die Gedanken zurecht streichen, und fragte: „Ist
es wirklich so schlimm?”
„Was?” fragte Rogalla.
„Heruntergekommener Geselle hat sie mich genannt.”
„Frauen übertreiben manchmal. Was hast du denn gemacht?”
„Nichts.”
„Na, siehst du.”
Das Telefon klingelte. Brenner nahm den Hörer ab. „KK
elf, Brenner.” Während er der Stimme am anderen Ende der
Leitung zuhörte, wurden seine Augen schmal, die Stirn zog sich
zusammen. „Wir sind gleich da”, sagte er schließlich.
Er legte den Hörer auf. „Ausgerechnet!”
„Was ausgerechnet?“ fragte Rogalla ohne sonderliche Neugierde.
„Ein Toter am Kemnader See, oben am Segelhafen. Man
hat ihn auf einem Parkplatz gefunden, in einem Wohnmobil.
Kennzeichen WOB, Wolfsburg!”
„Herzinfarkt“, meinte Rogalla. “Der hat sich über das Unentschieden
gefreut. Welchen Weg nehmen wir? Durch Bochum
oder A 43?“
„Die 43“, antwortete Benner. „Ausfahrt Heven. Kannst im
Auto frühstücken, ich fahre.“
Sie hatten das Signallicht aufgepflanzt, obwohl die Autobahn
frei war. Brenner schien es besonders eilig zu haben, als ginge es
nicht darum, einen Toten zu besichtigen, sondern in letzter Sekunde
ein Leben zu retten.
„Werden wir für Geschwindigkeit bezahlt?“ fragte Rogalla
ungehalten. Die Stulle, die er ausgepackt hatte, schien ihm nicht
mehr richtig zu schmecken. Er hatte sie wieder eingewickelt, nach
hinten auf den Rücksitz gelegt und blickte mit zusammengekniffenen
Augen durch die Windschutzscheibe. Die Leitplanken zogen
wie ein dünner Strich vorbei.
„Ich habe eine Frau und einen Neffen, der mich noch braucht,
mein Lieber“, unternahm er einen letzten Versuch, Brenners rechten
Fuß zu beeinflussen.
Aber der hielt das Pedal durchgedrückt, sagte: „Weißt du, seltsam,
da ist vorne an dem Wohnmobil eine Fahne, grünweiß. Und
der Tote hat ein T-Shirt an. Grün-Weiß. VfL Wolfsburg. So viel
hat mir der Kollege am Telefon schon verraten.“
„Bringt trotzdem nichts, deine Raserei. Der läuft nicht mehr
weg.“
Sie hatten die Ausfahrt Nummer zwanzig erreicht. Witten-
Heven. Brenner nahm die Kurve mit quietschenden Reifen. Dann
waren es nur noch ein paar hundert Meter, und schon sahen sie
den schmalen Ausläufer des Kemnader Sees, wo sich der kleine
Segelhafen befand. Brenner steuerte zielsicher den Parkplatz an.
An diesem Montagmorgen gab es nur wenige Autos dort. Das
grünweiße Wohnmobil fiel sofort auf. Es war am äußersten rechten,
dem See zugewandten Rand abgestellt. Dicht daneben stand
eine Buche, deren Stamm morsch aussah. Ein wenig weiter begann
das Gelände des Segelhafens, wo mit Planen bedeckte Jollen
an den Stegen lagen und sachte im Wasser schaukelten.
Brenner fuhr nicht bis an das Wohnmobil heran. Er hielt etwa
zwanzig Meter davor, sah, dass die Spurensicherung noch nicht
gekommen war und sie es zunächst nur mit den Kollegen von
der Schutzpolizei und dem Notarzt zu tun hatten. Die Eile, den
Tatort zu erreichen, war eine Marotte des Kommissars. Er liebte
es, einen ersten Blick darauf zu werfen, wenn die Leute von der
Spur einen noch nicht ablenkten.
Rogalla war so etwas egal. „Die sind dazu ausgebildet und
wissen, was sie tun. Die legen uns den Bericht auf den Tisch.
So genau können wir selbst gar nicht gucken.“
„Wer hat ihn gefunden?“ wollte Brenner zunächst wissen.
„Die Arbeiter hier“, sagte der Kollege von der Schutzpolizei
und zeigte auf vier Männer in dunkelgrünem Overall, die
mit Seilen und einer Kettensäge etwas abseits standen und warteten.
„Die sollten den Baum fällen. Das Auto musste weg. Einer
hat sich das Wohnmobil genauer angesehen und gemerkt, dass
die Tür hinten nicht ganz zu war. Da hat er sie aufgemacht und
reingeguckt. Aber sehen Sie selbst!“
Brenner und Rogalla gingen zur Rückseite des Wohnmobils.
Die hintere Tür war nur angelehnt. Brenner vermied es,
den Griff zu berühren, schob den Zeigefinger der rechten Hand
in einen Spalt oberhalb und zog die Wagentür auf.
„Kannst du dir schenken“, kommentierte Rogalla das vorsichtige
Vorgehen. „Da haben schon hundert Leute angepackt.
Die Arbeiter, der Dok und unsere lieben Kollegen.“
Innen, auf dem Boden zwischen einem Klapptisch und
einer Bank, lag der Tote. Er lag da mit dem Gesicht nach
oben, hatte die Beine etwas angewinkelt. Neben ihm, in
Brusthöhe, war eine dunkle, schon eingetrocknete Lache
von Blut. Seltsam aufgedunsen, wie mit Gewalt in die Breite
gezogen, wirkte das Gesicht. Man hatte dem Toten einen
Schal in Mund und Rachen gestopft. Der Schal war blauweiß
und hatte das aufgestickte Emblem ‚VfL Bochum 1848‘.
Die Abende bei sich zu Hause empfand Brenner als zunehmend
öde. Noch nicht einmal eine Katze rannte dort herum,
und oft genug fiel ihm die Decke auf den Kopf. Da half
auch kein Spaziergang die Ruhr entlang. Die Gegend, in der
er wohnte, Dahlhausen, war ein Vorort von Bochum. Nichts
Besonderes, was die abendliche Langeweile hätte vertreiben
können.
Im Gegensatz zu Rogalla war er kein Familienmensch. Und
falls er insgeheim doch einer war, so hatte es sich einfach anders
ergeben. Der Lauf des Lebens war schuld, die Winkelzüge des
Schicksals oder auch auf einen simpleren Nenner gebracht: Brenners
Launen. So fleißig er als Kommissar auch sein mochte, im
privaten Leben war er eher faul, las beim Frühstück lieber Zeitung
als sich mit einer Frau über Beziehungsprobleme zu unterhalten.
Daher war aus Brenner kein Meister der Ehe geworden, sondern
ein älter werdender Kommissar, der ab und zu eine Affäre hatte.
Ob das, was mit Marie lief, eine Affäre war oder schon mehr,
wusste er nicht. Vor fünf Jahren hatte er sie kennengelernt, im
Bermudadreieck, im Tucholsky, wo man bis in die Nacht trinken
konnte und es dann nur ein paar Meter bis in eines der Zimmer
hatte. Das Tucholsky war nicht nur eine Szenekneipe, sondern
auch ein Hotel.
Der Kommissar brauchte ab und zu solche Ausbrüche. Dann
saß er dort auf einem Barhocker, begab sich weit nach Mitternacht
in das gemietete Zimmer, schlief und tauchte erst gegen
Mittag wieder auf. An einem jener Mittage hatte eine Neue hinter
der Theke gestanden. Das war Marie. Sie musterte ihn kurz,
studierte dann den Belegungsplan für die Zimmer, machte mit
einem Stift ein Häkchen. Er war natürlich wieder mal der letzte,
der herunterkam.
„Tee oder Kaffee?” fragte sie, während er sich auf einen Barhocker
schob.
„Kaffee... und ein Mineralwasser”, antwortete er.
Als sie ihm die Getränke zuschob, dachte er, sie sollte lieber
Klavier spielen, als hier Tassen und Gläser zu füllen. Sie hatte
schöne, schmale Hände mit mehreren Ringen an den Fingern,
und was ihm besonders gefiel, sie war groß, schlank, eins siebzig
ungefähr, trug einen langen, eng anliegenden Rock, der Konturen
erscheinen ließ, für die sich kein Model auf einem Laufsteg
hätte schämen müssen. Die kastanienbraunen Locken hatte sie
nach dem Aufstehen anscheinend nur durchgeschüttelt, statt sie
zu kämmen oder zu bürsten. Natürlich bemerkte sie, dass er sie
beobachtete. Sie sah ihn einmal spöttisch für einen Moment an,
sagte aber nichts.
Ins Gespräch waren sie da noch nicht gekommen. Erst bei
seiner nächsten Eskapade.
Sie erzählte ihm, dass sie eigentlich Germanistikstudentin
sei, eine Spätberufene nach dem Abitur am Abendgymnasium,
und hier nur vorübergehend stehe.
Er gab spaßeshalber an, Koch zu sein und lud sie zu einem
kaukasischen Huhn ein. Sie glaubte ihm das nicht, kam aber
trotzdem. Von da an begannen gute und schlechte Zeiten. Er
erfreute sich an einer Liebe, unter der er zugleich auch periodisch
litt. Der Altersunterschied betrug fünfzehn Jahre. Marie
machte, was sie wollte, erweiterte seinen Bildungshorizont,
indem sie ihm die Emanzipation erklärte, und wenn er das
manchmal nicht verstand, erklärte sie ihm wenigstens, warum
er das Verhalten eines Neandertalers habe. Schluss mit der Beziehung
aber machten beide nicht.
Und jetzt hatte sie ihn einen heruntergekommen Gesellen
genannt. Das war am Sonntag gewesen, nach dem Spiel des
VfL. Sie war spät abends überraschend zu ihm gekommen, hatte
reden wollen. Über die Beziehung. Über die Perspektiven.
Er hatte die Augen verdreht und gesagt: “Lass uns lieber eine
Flasche Wein aufmachen und ins Bett gehen.“
Sie hatte angefangen zu heulen, ihn beschimpft und war
gegangen. Brenner schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn,
darüber nachzudenken. Im Moment hatte er ganz andere Probleme.
Er ging zum Fenster, sah in das dunkler werdende Umland,
dahin, wo hinter Büschen und Wiesen die Ruhr floss. Die Wolkendecke
war am östlichen Horizont aufgerissen, zeigte breiter
werdende Streifen eines transparenten, sich aber abdunkelnden
Blaus, in dem bald die ersten Sterne auftauchen würden.
Der Kommissar steckte sich eine seiner übel schmeckenden
Zigaretten zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, sondern
kaute nur auf dem Filter herum und dachte nach.
Jan Materka war der Name des Toten, 24 Jahre war er alt.
Ein Fan vom VfL Wolfsburg. Bei Materka gingen die Gefühle
für den Verein so weit, dass nicht nur das Wohnmobil grünweiß
war, sondern auch die Inneneinrichtung vom Kopfkis-
sen bis zum Klapptisch. Auch vor der Kaffeetasse machte die
Bemalung nicht halt. Neben dem Wolfsburger Logo präsentierte
sie einen kickenden Wolf. Und in einem Schränkchen
hatten sie sogar einen Tee gefunden, ‚Sir Felix, Prime Selection,
Schwarztee verfeinert mit dem Aroma von Kornblumen und
Bergamotte-Öl‘. Der Fußball trieb seltsame Blüten.
„Dass der mit der Karre überhaupt fahren kann“, hatte Rogalla
sich gewundert. Die ‚Karre‘ war ein Mercedes-Hanomag,
Baujahr 1971. Ein Diesel, an dessen Fahrerkabine ein ehemaliger
Wohnwagen angeschweißt war. Laut Eintrag im Fahrzeugschein
handelte es sich um ein Sonder-Kfz-Wohnmobil. Ob das
mit rechten Dingen zugegangen war, für so einen Kasten eine
Genehmigung zu bekommen, durfte bezweifelt werden.
Die ersten Recherchen und Telefonate mit Wolfsburg hatten
ergeben, dass Materka bei VW arbeitete. Ein Hilfsjob. Tausendmal
am Tag die gleichen Schrauben an der gleichen Stelle
eindrehen.
Er lebte allein, zurückgezogen. So viel hatten die Kommissare
mit Hilfe der Wolfsburger Kollegen schon erfahren. Mit
18 war er aus Stettin nach Deutschland gekommen. Eine Familie
in Polen hatte er nicht mehr. Der Vater hatte sich selbst und
die Mutter im Wodkarausch zu Tode gefahren. Geschwister
gab es keine. Ursprünglich war die Familie deutsch gewesen,
jedenfalls bis 1945.
Merkwürdig war für den Kommissar zunächst, dass Materka
zwei Pässe besaß. Einen polnischen und einen deutschen.
Aber das war rasch geklärt. Nach dem Vertrag über gute Nachbarschaft
und freundschaftliche Zusammenarbeit gab es viele
deutschstämmige Polen mit zwei Pässen. Das war nicht ungewöhnlich.
Im Stadion war er nachweislich gewesen. Das hatten die
Überwachungskameras bestätigt, und außerdem hatten sie bei
ihm ein abgerissenes Ticket gefunden. Warum aber war er zum
Kemnader See gefahren? Wolfsburg lag in einer anderen Richtung.
„Naja”, hatte Rogalla gemeint. „Der wollte einen kleinen
Campingurlaub machen. Ist doch schön am See. Pech nur, dass
er da auf eine Bochumer Truppe gestoßen ist. Ist doch klar,
Schal im Mund heißt: Du schreist nicht mehr gegen den VfL
Bochum.”
Das mit dem Schal hatten sie selbst sofort gesehen. Aber der
Doc hatte noch etwas festgestellt. Man hatte Materka die Zunge
herausgeschnitten. Gefunden hatten sie die Zunge nicht.
Die hatte jemand wie eine Trophäe mitgenommen.
Er nannte sich Odin, hatte einen Fanclub gegründet. Jetzt
führte er ein Passwort auf der Website des Clubs ein, damit
nicht jeder Idiot darin herumschnüffeln konnte und bei den
geheimen Treffen auftauchte. So wie dieser Reporter vom ‚Bochumer
Sonntagsboten’, der auf einmal unverfroren vor ihnen
gestanden hatte und sogar Aufnahmen machte. Er hatte ihn
sofort am Kragen gepackt, ihm die Kamera abgenommen und
den Chip herausgeholt.
„Ich will eine Reportage über Fußballfans machen“, hatte
der gesagt.
„Über uns machst du gar nichts. Du hast nichts gesehen,
nichts gehört. Du bist nie hier gewesen. Und jetzt zeigst du uns
mal deinen Presseausweis, damit wir wissen, wer du bist.“
Zuerst hatte der Kerl sich gesträubt. Aber er hatte ihn zu
Boden gedrückt, ihm die Jackentaschen durchwühlt und alles
herausgeholt, was an Papieren drin steckte.
„So, mein Lieber. Jetzt wissen wir nicht nur, wie du heißt,
sondern auch, wo du wohnst. Wir besuchen dich. Aber nicht
zum Kaffee, und wir bringen auch keinen Kuchen mit.“
Er hatte ihm wortlos die Kamera zurückgegeben und dann
mit der Hand eine Geste gemacht, die unmissverständlich bedeutete,
dass ein Kopf nicht unbedingt fest auf einem Hals saß.
Der Reporter hatte sich getrollt, es noch nicht einmal gewagt,
sich umzudrehen. Aber von dem Ritual hatte er schon einiges
mitbekommen. Da lag alles schon auf dem Rasen. Die Puppe
mit dem Wolfsburger Trikot und der überdimensionalen Zunge,
die Sichel. Auch der Pflock war schon in den Boden ge-
trieben. Das war zwei Wochen vor dem Spiel gegen Wolfsburg
gewesen.
Odin baute die Website um. Die Eingangsseite konnte er
noch etwas hübscher machen. Die Drachen mit den Clublogos
nicht mehr zeilenmäßig bringen, sondern sie zu einem Kreis
gestalten und dann das Emblem des VfL in die Mitte stellen.
Den Spruch ‚Drachentod färbt Sicheln rot’ löschte er. Der
konnte jetzt, nach der Begegnung mit dem Reporter, Probleme
bereiten.
Er legte ein Netz kleiner Quadrate, berechnete die Randpunkte,
klickte die Drachenbilder mit den Logos hinein. Das
mittlere Quadrat zog er mit der Maus breiter, lud das VfL-Emblem
hoch, so dass es größer als die anderen im Kreis saß. Er
war mit dem Ergebnis noch nicht ganz zufrieden, skalierte die
Drachen ein paar Pixel herunter, gruppierte sie erneut. Sie waren
jetzt kleiner, aber das Logo konnte man noch genau erkennen.
Da waren um den VfL alle anderen Vereine als Drachen
versammelt, siebzehn insgesamt.
Odin gefiel das Ergebnis. Jetzt musste er noch ein Passwort
für die Mitglieder finden. Er überlegte nicht lange. ‚Drachentod’
war das richtige Wort. Das würde er den anderen mündlich
mitteilen. Im geschützten Bereich der Homepage konnten
sie sich dann weiter austoben und ihre Blogs schreiben. Und
was den Reporter betraf, so würde man ihn beobachten, ihm
eventuell auch eine Erinnerung zukommen lassen, damit der
nicht vergaß, dass er eigentlich nichts gesehen hatte.
Odin lud die neue Seite hoch. Ein Impressum gab es nicht,
auch kein Kontaktformular. Nur den Kreis der Drachen und
die Aufforderung, das Passwort einzugeben. Das Ritual, Odins
Kosmos, war jetzt geschützt.
Der Fall Materka ging Brenner an die Nieren. Keinen Millimeter
waren sie mit der Aufklärung weitergekommen.
Die Videoaufzeichnungen aus dem Stadion hatten nichts
gebracht. Materka hatte im Block E der Westkurve in einer
Traube von Wolfsburger Fans gestanden, einen grünweißen
Schal geschwenkt. Die Fans, die neben Materka standen und
mit denen er ab und zu gesprochen hatte, konnten sie mit Hilfe
der Kollegen aus Wolfsburg rasch identifizieren. Aber das Ergebnis
war null. Materka, wie die Wolfsburger Fans angaben, war
direkt nach dem Spiel verschwunden, hatte sich aus der Traube
gelöst und war offensichtlich allein zu seinem Wohnmobil gegangen.
Die anderen kannten ihn, aber sie kannten ihn nicht
gut. Man traf sich nur bei den Spielen. Materka war ein Einzelgänger,
gehörte keinem Fanclub an, und in Begleitung hatte
man ihn bei einem Fußballspiel noch nie gesehen.
„Den kennen wir gar nicht anders“, hatte es geheißen. „Einen
trinken gegangen mit uns ist der nie.“
Die Kommissare waren in Wolfsburg gewesen, am Mittwoch,
dem dritten Tag nach dem Mord. Die Fahrt war nichts
anderes als der berühmte Strohhalm, nach dem man griff. Der
Bericht der Spurensicherung war vernichtend gewesen. Die frischen
Fingerabdrücke, die man im Wohnmobil fand, stammten
ausnahmslos von Materka selbst. Weitere Abdrücke waren blass
und viel älter als der Zeitpunkt der Tat, die laut Pathologiebericht
am Sonntagabend zwischen neun und zwölf Uhr geschehen
sein musste. Genauer war der Zeitpunkt nicht anzugeben.
Sicher war aber, dass man Materka erdrosselt hatte. Und zwar
draußen, vor dem Wohnmobil. Dann hatte man ihn in das
Wohnmobil geschleift und ihm dort die Zunge abgetrennt. Darauf
wiesen die großen Lachen schon getrockneten Blutes hin.
Seltsam jedoch, dass man sonst keine verwertbare Spur fand.
Weder auf dem Asphalt rund um den Stellplatz noch drinnen in
dem grünweißen Hanomag. Das sprach zunächst einmal gegen
Rogallas These von den Bochumer Fans, die sich hatten rächen
wollen. Die hätten irgendwelche Spuren hinterlassen. Es schloss
Rogallas These allerdings auch nicht aus, verschob sie nur ins
Heimtückische.
Die Rache der Fans schien geplant gewesen zu sein, zumindest
war sie mit großer Umsicht durchgeführt worden. War Materka
bereits im Stadion ausgeguckt und dann verfolgt worden?
Und hatten die Täter dann einen günstigen Moment am Kem-
nader See abgewartet? Es sah so aus. Vieles sprach dafür. Rogalla
selbst war ins Grübeln gekommen, redete nicht mehr von einer
raschen Aufklärung. Der Mord an Materka hatte eine andere
Dimension bekommen. So als benutze jemand den Fußball für
ein Ritual. Allerdings blieb Rogalla bei seiner Vermutung, es
müssten Bochumer sein, zumindest jemand – den Begriff ‚Fan‘
benutzte er nicht mehr –, der sich mit dem VfL in einer teuflischen
Weise identifizierte.
Materka hatte ein zurückgezogenes Leben geführt, mit 24
Jahren. So sagten es übereinstimmend die Nachbarn aus. An
Besuch erinnerte sich niemand. Was nicht heißen musste, er
hatte keinen. In dem Plattenbau, in dem er wohnte, lebte man
in Zellen nebeneinander und kannte sich nicht.
In der Wohnung fanden sie eine Ansichtskarte aus Warschau
vom August 2007, wie sich auf dem Poststempel lesen
ließ. Außer Materkas Name und Adresse standen noch zwei
Wörter darauf: Serdeczne pozdrowienia – schöne Grüße hieß
das vermutlich. Mit Lippenstift war darunter ein Herz gemalt.
Und sie fanden auch das Porträtfoto einer Frau. Ob sie es
war, die die Karte geschrieben hatte? Der Kommissar schätzte
ihr Alter auf 30, höchstens 35 Jahre. Auf jeden Fall war sie älter
als Materka. Hübsch war sie. Schwarze Haare, Ponyschnitt, lustig
lächelnde Augen, ein wenig vorstehende Wangenknochen.
Brenner steckte das Foto ein. Sie gingen damit zu den Nachbarn,
aber die hatten die Frau noch nie gesehen.
Mit spärlicher Beute fuhren die Kommissare nach Bochum
zurück. Ein Foto, eine Postkarte. Mehr nicht. Eigentümlich war
auch, dass Materka keinen Computer besaß, und nichts wies darauf
hin, dass er jemals einen gehabt hatte. Es gab keine Disketten,
keine CDs zum Brennen, nichts. Das einzig Elektronische,
das sich in der Wohnung befand, waren ein bescheidener CDPlayer
und ein kleiner Fernseher, bei dem man dicht vor der
Scheibe sitzen musste, um überhaupt etwas mitzubekommen.
„Wie aufgeräumt alles war!“ bemerkte Rogalla auf der Rückfahrt.
„Kein ungespülter Teller, keine benutzte Kaffeetasse, keine
Bier- oder Wodkaflaschen. So als hätte der geahnt, dass er nicht
mehr zurückkommt.“
Eigentlich war Rogalla an diesem Sonntag in sein Gartenhaus
gefahren, um den Kühlschrank wieder aufzufüllen. Unterwegs
hatte er sich als treuer Schalke-Fan einen Kasten Veltins
besorgt und die neue Ausgabe des ‚Reviersport‘ gekauft.
Er saß auf der Eckbank, überflog zum wiederholten Male
den Artikel über das Samstagsspiel und nahm sich vor, Brenner
am Montag etwas zurückhaltender zu behandeln, ihm nicht
mit Schadenfreude zu begegnen. Und Schadenfreude empfand
er auch gar nicht. Nach den Schalkern waren ihm die Bochumer
der zweitliebste Club, allerdings mit großem Abstand.
Zum Schluss der Saison Schalke auf Platz eins und die Bochumer
auf dem zweiten, damit hätte er gut leben können. Gestern,
am dritten Spieltag, hatten die Bochumer in der Schalker
Arena gespielt und das Ruhrpott-Derby mit 1:0 verloren.
Standesgemäß, wie Rogalla befand. Beim Spiel war er nicht
dabei gewesen. Der Dienstplan hatte ihm einen Strich durch
die Rechnung gemacht.
Der Fall Materka gehörte für Rogalla zu jenen Ereignissen,
die ihn mit ihren Bildern immer wieder bedrängten. Auch nach
einer Woche war die Erinnerung an den Toten im Wohnmobil
noch ganz frisch. Der Fall war schwierig, führte in Sackgassen.
Brenner war es nicht gelungen, die Identität der Frau auf dem
Foto herauszufinden. Rogalla selbst hatte sich um die Befragung
einiger Bochumer Fans gekümmert, die wegen früherer Delikte
aktenkundig waren. Die hatten entweder alle ein sicheres Alibi
gehabt oder aber, wenn einer den Abend allein verbracht und
keine Zeugen hatte, dann gab es zumindest nicht das geringste
Indiz gegen ihn. Von dem Schal und der herausgetrennten
Zunge hatte der Kommissar nichts erzählt. Der Täter hätte sich
ja durch Einzelheiten, die nur er wissen konnte, verraten können.
Der Presse gegenüber hatten die Kommissare die Tat so
hingestellt, dass dem Tötungsdelikt wahrscheinlich ein Streit
vorausgegangen war. Insbesondere Brenner spielte den Fall gegenüber
den Journalisten herunter. Waren sie aber unter sich,
sah das anders aus.
„Ich verstehe nicht“, hatte Brenner gesagt, „warum die Tat-
so inszeniert worden ist, und dann gibt es kein Bekennerschreiben,
keinen Anruf, nicht den leisesten Hinweis. Normalerweise
würde sich der Täter damit brüsten, irgendwelche Signale
geben. Hier aber stoßen wir auf eine Stille, die mich frösteln
lässt.“
Vom nahen Arminiaplatz drang lautes Rufen und Gejohle
herüber. Rogalla blickte durch die halb geöffnete Tür in den
Garten. Wenn alles nach Wunsch gegangen wäre, dann würden
dort ein paar eigene Kinder herumlaufen. Aber Ingrid und er
hatten keine bekommen. Erich Rogalla versuchte stattdessen,
seinem Neffen Michael den Vater zu ersetzen, jedenfalls soweit
der das zuließ.
Michael war der Sohn seiner Schwester, ein eigenwilliger,
schlaksiger Junge von fünfzehn Jahren. Sein Onkel bemühte
sich immer wieder um ihn. Er fand, dass Kurt Bölling, der
Vater, sich zu wenig um den Jungen kümmerte. Rogalla und
Bölling waren alte Schulfreunde, waren auch dann Freunde
geblieben, als sich Michaels Eltern getrennt hatten. Aber das
Familiäre hatten die beiden Kumpel seitdem aus ihrer Freundschaft
ausgeklammert. Denn Michaels Eltern, die seit ein paar
Jahren getrennt lebten, hatten Rogalla immer wieder abblitzen
lassen, wenn er versuchte, sich einzumischen. Mit seinen Eltern
hatte Michael kein Glück gehabt.
Überhaupt, das Glück. Man wünschte sich immer wieder
Glück im Leben. Das war wohl das Wichtigste. Aber es war
doch merkwürdig damit. Gelegentlich ertappte sich Rogalla bei
dem Gedanken, dass man sterben könnte, und das Wichtigste,
das Entscheidende im Leben war noch überhaupt nicht passiert.
Das, worauf man immer gewartet hatte, vielleicht ohne
genau zu wissen, was es war. Und plötzlich war man der Dumme.
Gerade in seinem Beruf konnte einen der Zufall schnell
von den Beinen holen. Man brauchte nur an den Falschen zu
geraten.
Rogalla stand auf, um sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank
zu holen. Vom Sitzen auf der Holzbank etwas steif
geworden machte er ein paar ungelenke Schritte in den kleinen
Raum hinein und ging erst mal auf die Toilette. Hin und
wieder hatte er Malessen mit der Prostata. Für das Pinkeln galt,
lieber einmal mehr als einmal zu wenig.
Schon auf dem kurzen Weg zurück zur Bank nahm er einen
Schluck aus der Pulle. Ingrid sagte immer, er benehme sich wie
ein Bierkutscher, wenn er aus der Flasche trank. Das war ihm
egal. Er wusste nicht, wie sich Bierkutscher benahmen. War
so einer schlimmer als ein ‚heruntergekommener Geselle’? Er
kannte keinen. Ob sie den Ausdruck aus ihren englischen Krimis
hatte? Wahrscheinlich nicht. Die waren zu fein. Das Bier
durchströmte ihn, füllte Teile des Körpers mit Wohlbehagen.
Rogalla dachte daran, was die nächste Woche wohl bringen
würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach wieder Papierkram
im Präsidium. Welcher Teufel hatte bloß den Montag erfunden
und verkürzte einem damit das Wochenende? Es schoss
ihm der irrsinnige Gedanke durch den Kopf, man sollte die
Woche besser mit dem Dienstag beginnen lassen. Den Montag
erst mal weglassen. Und wenn man dann den Montag zwischen
den Donnerstag und den Freitag stecken würde, wäre er wahrscheinlich
besser zu verkraften.
Er schloss die Augen und dämmerte vor sich hin. Langsam
sank der Kopf auf die Brust, und dann schlief Rogalla
und begann zu träumen. Am Gartentor stand der versammelte
Vorstand des Kleingärtner-Vereins und klatschte Beifall. Die
Herren beobachteten heiter, wie der Frührentner Hermann
Kroll von seinem Garten aus mit einem Kleinkalibergewehr
systematisch die Fensterscheiben von Rogallas Hütte zertrümmerte.
Dann richtete der Frührentner das Gewehr auf Rogalla,
der die Tür seines Häuschens geöffnet hatte und rausguckte. Er
beruhigte sich für einen Augenblick damit, dass es doch nur ein
Traum war. Trotzdem war er verärgert und wollte dem Schützen
ans Leder, was ihm aber nicht gelang, denn seine Beine
gehorchten ihm nicht. Er wäre gern losgelaufen, blieb aber wie
angewurzelt stehen. Seine Füße waren links und rechts an den
Türpfosten angekettet worden, an zwei kräftigen Eisenhaken.
Er hatte auch gar keine Bodenhaftung, sondern hing irgendwie
hoch in der Luft, und unter ihm bimmelte eine Schulklingel
zur großen Pause.
Als er aufwachte, stellte er fest, dass die Bierflasche umgefallen
war. Das gute Pils bildete Rinnsale auf der Tischplatte und
auf dem Kunststoffboden, wo es in einer Pfütze zusammengelaufen
war, von der ein säuerlicher Kneipendunst aufstieg. Das
Handy klingelte unaufhörlich.
Er fummelte das Gerät aus der Hosentasche heraus und
versuchte, einen halbwegs freundlichen Ton anzuschlagen: „Ja,
bitte? Rogalla.“
„Bist du das, Erich?“
„Ja klar, hab gepennt. Im Gartenhaus.“
„Tut mir leid.“
„Macht nichts. Du hast mich gerettet. Da wollte gerade einer
mit einem Gewehr auf mich losballern.“
Am anderen Ende blieb es still. Rogalla wartete darauf, dass
es weitergehen würde. Als nach einer halben Minute immer
noch keine Reaktion gekommen war, fragte er: „Also, was ist
los, Schwesterchen?“
„Der Junge ist nicht nach Hause gekommen.“
„Was meinst du, er ist nicht nach Hause gekommen?“
„Er ist immer noch nicht hier.“
„Wann sollte er denn nach Hause kommen?“
„Gestern natürlich! Nach dem Spiel in der Arena. Er weiß
doch, dass ich auf ihn warte.“
„Der hat bei irgendwelchen Freunden gepennt. Nach dem
Spiel sind die noch einen trinken gegangen.“
„Ich habe überall nachgefragt. Die haben alle keine Ahnung.“
„Dann ist er bei seinem Vater.“
„Nein, der kümmert sich doch nicht um den Jungen. Weiß
nicht, wo der ist. Ich habe ihn angerufen. Da meldet sich keiner.“
„Jetzt mach dir keine Sorgen. Er hat ein paar Bier zu viel getrunken.
Jetzt traut er sich nicht nach Hause. Der hat bei einem
Kumpel seinen Rausch ausgeschlafen. Bei einem, den du nicht
kennst.“
„Das ist noch nie passiert!“
„Alles fängt mal an. Wirklich, mach dir bloß keine Sorgen!“
„Mach ich aber!“ Das war ein vertrauter Satz. Schon als
Kind konnte seine Schwester bockig sein. Dann musste man
ihr helfen.
„Also gut! Ich frag mal im Präsidium nach, ob sie einen
streunenden Schalke-Fan aufgegriffen haben. Wenn ich was
höre, sag ich dir Bescheid.“
„Danke.“
Rogalla hob die Bierflasche auf. Er trank den kleinen Rest,
der in der Flasche verblieben war. Dann wählte er die Telefonnummer
des Präsidiums. Brenner hatte heute Dienst.
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2011
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