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Die Heimkehr


Er näherte sich dem Haus von hinten, war über die Mauer gestiegen,
in den Garten gesprungen. Büsche und kleine Tannen.
Geruch von vergammeltem Laub. Weiche Gartenerde. Seine
Fußtritte würden gut zu sehen sein.
Als der Mond sich hinter einer Wolke verzog, ging er über den
Rasen wie über einen feuchten Teppich. Seine Füße wurden nass
in den dünnen Schuhen. Er stolperte über einen Gartenschlauch,
hätte um ein Haar den Rasenmäher umgerissen, stand dicht an
der Terrasse. Der Rhododendron, voller Blüten, duftete so intensiv
wie ganz früher. Er wunderte sich, dass kein Hund ums
Haus geschossen kam. Hatten sie den abgeschafft?
Er arbeitete sich durch den Blütenduft, schlich über die Terrasse
zum Haus. Nichts rührte sich. Er bückte sich, griff durch
das eiserne Gitter im Boden vor der Verandatür. Der Gitterrost
schnitt ihm in die Finger, doch er brachte ihn hoch. Er lehnte
ihn gegen die Tür, ließ sich in den Schacht hinunter. Das Fenster
vom Schacht gab geräuschlos nach. Er stand im Keller. Der
selbe Geruch: Staub und Heizöl. Er spürte den alten Brechreiz:
Heizöl, Staub und Kochfi sch mit Senfsoße, wie früher, wie er
hier eingesperrt wurde mit dem Teller, der nicht leergegessen
war, und spürte zugleich den Windhauch, wie damals, als er auf
diesem Weg das Haus verlassen hatte, das Haus und die Familie
und alles, und abgehauen war.
Er knipste die Taschenlampe an, schlug sich die Spinnweben
von der Jacke. Die Tür zum Flur war nicht verschlossen. Dabei
hatte der Vater immer gepredigt, sie müsse unbedingt abgeschlossen
sein wegen Einbruchs- und Diebesgefahr. „Diebesgefahr“,
dieses lächerliche Wort kam ihm wieder in den Sinn, und
nun kam er selbst wie in Dieb. Die Tür war nicht verschlossen.
Als ob sie auf ihn gewartet hätte. Doch sie klemmte, wehrte sich
wie früher. Er machte die Lampe aus, horchte. Nichts rührte
sich. Im Flur fand er sich immer noch im Dunkeln zurecht.
In der Küche das fast noch vertraute Ticken der Uhr, im Wohnzimmer
der alte Geruch kalter Zigarren. Der Läufer auf der
Treppe nach oben schluckte jedes Geräusch. Er stand in seinem
Zimmer. Nichts war verändert, doch alles war älter geworden.
Er ließ die Tür offen, ging über den Flur. Da sah er den Lichtschein
unter der Tür zum Allerheiligsten, dem Arbeitszimmer
seines Vaters. Er stutzte, stand mit dem Rücken an der Wand.
Nur weg von hier! Doch dann ermannte er sich und ging nach
gegenüber. Er drückte die Klinke, öffnete die Tür, nicht besonders
leise und nicht besonders zögerlich.
Der Mann saß mit einer Decke auf den Knien im Sessel vor
seinen Patience-Karten. Das Zimmer roch nach altem Mann.
Der Vater nahm die Brille ab und sagte: „Ich habe auf dich gewartet.“

Vor seinem Vaterhaus stand eine Linde


Im März 1941 bekamen sie Radio, einen kleinen braunen Kasten,
genannt: „Volksempfänger“.
Bis dahin hatten sie ein solches Gerät nicht vermisst. Nun aber
hieß es, mit diesem Apparat könnten sie Nachrichten, die morgen
erst in der Zeitung stünden, schon heute hören, die „Luftlagemeldungen“
zum Beispiel. Und was den „Frontverlauf“ anging:
Jetzt konnte sein Vater die Papierfähnchen auf der großen
Wandkarte schon einen Tag früher umstecken.
Es gab auch andere Möglichkeiten, das neue Gerät zu nutzen,
aber das wusste der Junge nicht, das durfte er nicht wissen.
Doch natürlich wusste er, dass sein Vater, wenn sie, die Kinder,
längst im Bett waren, sich unten in der Stube ganz dicht an das
Radio setzte, an dem Rädchen für die Sender drehte. Und dann
teilte ihm eine sehr leise Stimme etwas mit, was niemand wissen
durfte, von dem überhaupt niemand eine Ahnung haben konnte.
Denn diesen Sender gab es gar nicht, und was es nicht gab,
konnte man auch nicht hören. Nur wunderte sich der Junge,
dass sein Vater, wenn der Lehrer zu Besuch war – der war zu alt,
um noch in den Krieg zu ziehen – hin und wieder, halblaut und
eher beiläufi g sagte: „Der Andere hat gesagt…“
Und noch eine ganz andere Welt brachte das Radio ins Haus:
die „Welt der Musik“. Jetzt musste man nicht mehr selber Musik
machen, wenn einem danach war, auf der Mundharmonika
zum Beispiel, oder singen. Man brauchte auch nirgendwo mehr
hingehen, um sie zu hören, etwa sonntags in die Kirche oder
zum Blaskonzert der Feuerwehrkapelle; nun kam sie frei Haus
aus dem braunen Kasten: Und zwar alles, was man sich denken
konnte: Märsche natürlich und Soldatenlieder, auch Schlager,
die man sich sonst vom „Dienstmädchen“ vorsingen lassen
musste. Und am Sonntagnachmittag: das Wunschkonzert.
An diesem Sonntagnachmittag, sie waren beim Kaffeetrinken,
hörten sie einen Sänger singen – und wie der sang, stellte der
Junge ihn sich groß und umfangreich vor:
Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde,
Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank.
Und wenn ich sie einst wieder fi nde,
Dann bleib ich dort mein Leben lang.
Dieses Erlebnis – und lange noch, wenn er daran zurück dachte,
hatte er den Sonntag-Nachmittags Kaffee- und Streußelkuchen-
Geruch in der Nase – hat er nie vergessen. Denn bei ihnen war
das so, genau so wie in dem Lied. Bei ihnen gab es die Linde
wirklich. Sie stand auf dem Hof vor seinem Vaterhaus, überragte
das Tor und einen Teil der Straße. Und oben drin hatten sie
ihr „Domizil“, wie der Vater das nannte, von ihm mit Brettern
ausgebaut, einen Ort für ihn und seine Freunde.
Und nicht nur die Linde, es gab auch die Bank, die das Lied erforderte.
Sie stand neben der Treppe an die Hauswand gelehnt.
Der Junge hatte sie bis dahin kaum beachtet, wie man einem
Baumstumpf im Obstgarten kaum Beachtung schenkt, bis man
darüber stolpert. Und hier war das Lied zum Stolperstein geworden.
Im Zusammenhang mit der Linde war die Bank plötzlich
ein höchst notwendiger Gegenstand zu Vervollständigung
des so vollmundig besungenen Ensembles.
Aber wie würde es bei des Sängers möglicher Heimkehr sein?
Was hoffte er „einst“ wieder zu fi nden? Was genau war es, das
ihn dann zu einem lebenslänglichen Bleiben veranlassen konnte?
War es die die Linde oder war es die Bank? Vom Liedtext her
konnte es die eine wie die andere sein.
Der Junge lag im Bett und dachte nach. Zum ersten Mal wurde
ihm bewusst, dass Sprache nicht immer eindeutig ist wie bei
„ja“ oder „nein“, sondern offenbar noch andere Möglichkeiten
hat. Und im vorliegenden Fall war mit „Linde oder Bank“ die
sprachliche Uneindeutigkeit ja noch keineswegs zu Ende. Die
später einmal wieder zu fi ndende „Sie“ konnte schließlich auch
ein Drittes meinen, nämlich: „Linde plus Bank“, das ganze
traute Ensemble.
Was tun angesichts dieses sprachlichen Dilemmas? Der Junge
seufzte. Lange dachte er nach. Und schließlich hatte er es: Wo
die Sprache versagt, nicht eindeutig ist, gibt es nur eins: selbst
entscheiden.
Und im Hinblick auf seine eigene mögliche Heimkehr ins Vaterhaus,
war dieses sein fester Entschluss: Wenn er gegen Ende
seines Lebens, nach einer ruhmreicher Karriere als Lokomotivführer
oder Messerschmidt-Pilot, „einst“ hierher zurückkäme,
würde er, alle anderen sprachlichen Möglichkeiten ignorierend,
auf dem wieder zu fi ndenden ganzen Ensemble, auf „Linde plus
Bank“, bestehen. Anderenfalls er sein Leben wo anders, fern
der Heimat, zu Ende würde leben müssen, so schmerzlich auch
immer das sei. – Und damit schlief er ein.
Aber auch abgesehen von dem Lied sonst war sein Vaterhaus ein
Haus, wie es sein soll, mit einem Garten dahinter und dem Hof
davor, begrenzt von einer Scheunenwand. Da war vom Frühjahr
bis Herbst das Brennholz aufgeschichtet. Bewohnt wurde der
Hof von ihrem Schäferhund Caro. Caro mit “C”, darauf legte
sein Vater Wert.
Nachts wohnte Caro in der Scheune. Und im Winter lagerte
dort das Feuerholz, das draußen getrocknet war. Die Scheune
war mindestens hundert Jahre alt und ein Ort der Wetten und
Mutproben: Wer erwischt die meisten Mäuse? Wer traut sich
über die Balken unter dem Dach zu balancieren?
Vom Hof aus ging eine Treppe zur Haustür, acht Stufen und
eine Plattform aus Sandstein, an ihrer Seite ein eisernes Geländer
zum Festhalten. Im Winter, wenn es gefroren hatte, und er
sich traute, leckte er daran. Und dann konnte es sein, dass seine
Zunge am Metall kleben blieb. Das waren aufregende Momente,
bis er sie wieder losgehaucht hatte.
Von der Treppen-Plattform aus war der Kirchturm zu sehen.
Wenn der Junge sich ganz dicht an die Hauswand stellte und an
der graden Wand entlang zu ihm hinüber sah, konnte er sehen,
dass der Turm schief war. Nicht so schief wie der Turm von Pisa
aber doch deutlich. Der Turm hat ihm immer ein bisschen Leid
getan.
Im Haus unten gab es einen kalten Flur, eine große Küche zum
Garten hin, eine kleine Stube zum Wohnen und die „Gute Stube“
mit Kirschbaummöbeln, die nicht zerkratzt werden durften.
In der „Guten Stube“ stand auch der Bücherschrank. Der hatte
eine Glastür, darunter die verbotene Schublade mit den Briefen
und Fotos. Die Tür war abgeschlossen. Von den Büchern konnte
er nur die Rücken sehen, die aber kannte er genau. An ihnen
hat er lesen gelernt.
Da war einer, auf dem stand: „Lasse Aga“. Das hat ihn lange
beschäftigt. Er konnte nur vermuten, was es war, das Aga lassen
sollte, stellte sich vor, was er Verwerfl iches tat oder zu tun im
Begriff war. Das mussten schlimme Sachen sein, und viele; denn
es war der Rücken eines dicken Buchs.
Dreißig Jahre später in Norwegen – er wohnte eine Zeit lang am
Sörfjord mit Blick auf ein kleines Dorf am Ufer gegenüber, das
Dorf hieß „Aga“ – da ging ihm ein Licht auf. In dem Buch des
Vaters war es nicht um die Aufforderung gegangen, etwas nicht
zu tun, sondern um einen Mann mit dem schönen nordischen
Namen „Lasse“, der aus dem ihm gegenüber liegenden „Aga“
stammte; denn früher nannten sich die Norweger nach dem Ort,
aus dem sie kamen.
Zurück in Deutschland fragte er sich in der Verwandtschaft
nach dem Buch durch, aber niemand wusste, wo es geblieben
war nach dem Tod seines Vaters. – Ebenso übrigens Hitlers
„Mein Kampf“. Auch der blieb verschwunden.
Die Küche mit ihrem großen Esstisch war das Zentrum des
Hauses. Im Herd brannte ständig Feuer. Das war wie das „Ewige
Licht“. Als letztes am Abend kam ein mit Zeitungspapier
umwickeltes Brikett in den Herd, das hielt die Glut bis zum
nächsten Morgen.
An das Feuer im Küchenherd wurde der Junge erinnert, als er
in den siebziger Jahren zusammen mit vielen anderen gegen das
geplante Atomkraftwerk Wyhl am Rhein demonstrierte. Die
Weinbauern vom Kaiserstuhl hielten den Bauplatz besetzt. Sie
hatten eine runde Hütte gebaut, in der Mitte eine Feuerstelle.
Das Feuer dort brannte Tag und Nacht. Hier wurde der Widerstand
geplant und organisiert, und die Bauern hatten sich
geschworen: „Solange dieses Feuer brennt, kommt kein Atomkraftwerk
an den Kaiserstuhl.“
Der Flur im Haus also war dunkel und kalt. Und seit seinem
sechsten Lebensjahr hatte er ihn als bedrohlich in Erinnerung.
Seine Schwester war dort zwei Tage lang aufgebart gewesen.
Sie hatte Scharlach gehabt, mitten im Krieg, und es hatte keinen
Arzt gegeben. Da lag sie in ihrem Sarg, zugedeckt mit dem
Brautschleier der Mutter. Und bevor der Sarg zur Beerdigung
zugeschraubt wurde, deckte sein Vater auch ihren Kopf damit
zu. Der Junge war sehr erleichtert: so würde ihr im Grab keine
Erde ins Gesicht fallen.
1945, als die Amerikaner das Dorf besetzten, hatten sie in der
Linde auf dem Hof einen Karabiner mit drei Schuss scharfer
Munition versteckt. Davon wusste sonst niemand. Und da oben
lagerten sie auch ihre von den Amerikanern erbeuteten Verpfl egungs-
Päckchen. Die waren mit Wachs überzogen, also witterungsbeständig.
Werners Mutter, die, in der Stadt ausgebombt,
bei einem Bauern wohnte, hatte ihnen bestätigt: „Die Amerikaner
könnt ihr ruhig beklauen. Die sind ja unsere Feinde.“ – Seinen
Vater hat er danach lieber nicht gefragt.
Das war das Frühjahr, an dem er zum Raucher, zum Mann,
wurde. Auf ihrer Linde sahen sie sich in der Tat als zehnjährige
Männer, Soldaten auf vorgeschobenem Posten mitten im Feindesland.
Bewaffnet mit einem echten Karabiner, lebten sie von
vom Feind rekurrierten Lebensmitteln, rauchten dessen „Lucky
Strikes“, waren bereit, die letzte Kippe miteinander zu teilen,
auszuharren bis zur letzten Patrone. Sie malten sich aus, wie es
wäre, wenn sie von da oben einen durchs Dorf fahrenden Jeep
beschießen würden. Die Amis würden Augen machen! – Sie taten
es dann aber lieber doch nicht.
Zwei Jahre danach zogen sie in die Stadt. Das neue Haus gefi el
ihm nicht. Eingezwängt zwischen zwei andere hatte es keinen
Hof für den Hund, einen völlig ereignislosen Flur, eine viel zu
kleine Küche. Und überall roch es widerwärtig neu. Nicht einmal
Öfen gab es zum Befeuern, nur Zentralheizung. Und der
Junge hatte Befürchtungen im Blick auf den nächsten Winter:
was, wenn der Koks alle wäre und sie keinen nachbekämen?
Und vor allem: ihm fehlten die Linde und die Bank vor den
Haus, und er vermisste die anderen.

Das Klassentreffen


Sechs Wochen danach die Feier, fünfundzwanzig Jahre Abitur.
Das Hotel, in dem sie zusammen kamen, lag in der Nähe der
alten Schule. Die „auswärtigen Fahrschüler“, hieß es launig in
der Einladung, könnten auch dort übernachten.
Günter, der hier nun schon sei eh und je Englisch und Geographie
unterrichtete, führte sie durch ihr altes Schulgebäude.
„Immer noch von vor dem Betonzeitalter“: Immer noch der rote
Backsteinbau, fünfstöckig mit Spitzdach. Der alte Treppenaufgang.
Schwarze Terrazzostufen mit hellgrauen Einsprengseln,
nur mehr ausgetreten. Das Geländer aus Eisen, unverwüstlich,
Knöpfe auf dem Handlauf, damit niemand darauf herunterrutschte.
Jetzt aber weiß gestrichen, nicht mehr grün. Der Klassenraum.
Neue Bänke, aufgestellt in Hufeisenform. Wer hatte
wo gesessen? Vor dem Fenster fehlte der Baum. Auch der Geruch
war nicht mehr der von damals.
Danach saßen sie im Clubzimmer des Hotels. Schulgeschichten,
erzählt in der Endfassung, zementiert durch Wiederholungen
von Wiederholungen von Wiederholungen.
„Das war in der Zehnten. Und Rainer... „
„Was macht eigentlich Rainer?“
„Herzinfarkt. Vor einem Jahr. Und war immer für seine Schüler
da. Bis zuletzt.“
„Und mehr noch für seine Schülerinnen“, ergänzte Doris.
Christian war zuletzt vor zehn Jahren dabei gewesen. Und es
fi el ihm schwer, hinter den glasierten Mittelstandsfassaden dieser
Damen und Herren die Gesichter der Jungen und Mädchen
wieder zu erkennen, mit denen zusammen er eine wichtige Zeit
seines Lebens verbracht hatte. Einige erkannte er nach einer
Weile wieder, die Art eines Kopfnickens, eine Handhaltung, wie
sie redeten. Andere widerstanden der Erinnerung. Kein Riss in
der Glasur.
Christian suchte sich ein Bild von sich selbst zu machen. Er ging
auf die Toilette, stand vor dem Spiegel – und so ganz nüchtern
war er auch nicht mehr. Doch er erkannte sich wieder. Ja, so sah
er aus, so hatte er immer ausgesehen.
Als er zurückkam, waren sie immer noch bei der Bilanz:
„Dirk ist nun auch schon tot, von seinem eigenen Trecker überfahren.
Und Babsi?“
„Babsi war auch in der Schule schon so still, und jetzt ist sie ganz
still.“ Helga hatte schon mehr getrunken als die anderen.
„Vor fünf Jahren waren noch drei Lehrer dabei. Und die Levandowski
hat damals gesagt, sie würde heute auf alle Fälle wiederkommen.
Was ist denn mit ihr?“
„Alzheimer, Altenheim, heimgegangen“, erklärte Günter.
Klaus kam reingedröhnt. Grauer Stoppelschnitt, grauer Anzug,
grauer Schlips.
„Ging nicht schneller, Stau auf der A 40! Erst mal n’ Abend!“
Er ging von einem zur anderen, begrüßte alle einzeln mit Handschlag,
beendete die Gespräche.
„Hallo Christian, altes Haus! Bist du es wirklich? Lass dich mal
ansehen. Na ja, schließlich sind wir alle nicht jünger geworden.“
Er schlug ihm kräftig auf die Schulter. Christian hustete.
„Weiß eigentlich wer, was Manfred macht?“
„Und Paul hat sich auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gemeldet.“
„Und Christiane?“ fragte Christian.
„Ach wie hübsch“, kicherte Doris. „Christian fragt nach Christiane.
Das ist ja fast wie damals.“
„Ich habe sie seit dem Abi überhaupt nicht mehr gesehen“, verteidigte
sich Christian.
„Fünfundzwanzig lange Jahre“, seufzte Doris, „wie hast du es
nur so lange ausgehalten ohne sie?“
„Angemeldet hat sie sich“, sagte Günter.
Und als sie vor ihm stand, dachte Christian zuerst, ihre Mutter
wäre für sie gekommen. Doch sie war es selbst. Christiane,
immer noch groß und blond, immer noch in Sommersprossen.
Ihr Gesicht: Jemand hatte angefangen, es zu bearbeiten, hatte
Falten um ihre immergrünen Augen angelegt. Die machten ihr
Lächeln hübsch.
Sie erzählte von ihrem Haus in Papenburg an der Ems, ihren
fünf Söhnen, der jüngste gerade aus dem Haus. Sie selbst seit
Ewigkeiten mit demselben Mann verheiratet, Hochseekapitän
„Nächstes Jahr geht er in Pension.“
„Schon?“
„Er ist schließlich ein paar Jahre älter als ich.“
Christian sah sie auf dem Deich stehen, gemalt von einem holländischen
Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, in Holzschuhen,
wehende Haare im Gesicht, ihrem Kapitän hinterher
winkend, der sich aufmacht, die Weltmeere zu befahren.
Damals, das war im letzten Schuljahr gewesen, hatte sie auch
einmal auf einem Deich gestanden, auf der Kanalböschung, hinter
ihr der Gasometer. Sie hatte einen grünen Duffl ecoat getragen
mit Hirschhornknebeln und Kapuze, auf dem Arm eine kleine
Katze, die dort herumgestromert war. Sie hatte ihn angelacht
mit duffl ecoat-grünen Augen in einem faltenlosen, blonden Gesicht.
Und er war grenzenlos in sie verschossen gewesen.
„Ein Kater müsste man sein!“ Das war alles, was er damals hatte
sagen können. Und das war es gewesen.
Sie saßen sich gegenüber. Christian sah sie immer nur an. Und
während sie erzählte, entdeckte er unter ihrem neuen, das alte
Gesicht des jungen Mädchens von damals.
Nach Mitternacht verabschiedete sich Christiane. Sie gehe jetzt
nach oben.
„Schon?“
„Ich muss morgen früh raus.“
„Und in welchem Zimmer wohnst du?“
Christiane zeigte sich amüsiert. „Wozu willst du das wissen?“
Aber da lag der Schüssel neben ihrer Handtasche: Nummer
135.
Christian saß mit den anderen am Tisch. Allein.
„Ich habe nie richtig Abschied von ihr genommen“, sagte er dem
Kellner.
„So was ist bitter“, antwortete der, „und was möchten Sie noch
trinken?“
Die anderen waren jetzt ziemlich laut, zu laut fand Christian. Er
trank aus, stand auf und ging durch die Tür mit der Aufschrift
„Hotel“. Im Flur war es schön still. Und er hatte es ja auch nicht
weit: Eine Treppe, dann links und dann die fünfte Tür. Er klopfte.
„Es ist offen!“
Christiane saß im Bett und sah ihn amüsiert über ihre Lesebrille
hin an. Auf der Decke lag ein Buch.
„Ich habe nie richtig Abschied von dir genommen“, sagte Christian.
„Komm rein und mach die Tür zu“, sagte Christiane. „Stell dir
vor, es käme noch wer.“

Impressum

Texte: Pinselzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011

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