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Kapitel 1


„Ich möchte nicht stören“, sagt Christina an der Tür.
„Du störst nicht“, erwidert er freundlich. „Komm erst mal
rein.“
Sie folgt ihm in den Flur.
„Ich habe mein Handy in Marcos Auto vergessen, brauche
nur kurz anzurufen, dann bin ich wieder weg.“
Er schließt die Tür hinter ihr, nimmt ihr die Lederjacke ab.
„Wo ist Marco? Hattet ihr Stress?“
„Das ist es ja! Er hat sich auf der Feier bei seiner Schwester
an eine andere herangemacht. Ich wollte nach Hause, aber meine
Eltern sind nicht da. Hätte ich bloß meinen Schlüssel mitgenommen.
Hab das Gefühl, heute Nacht hat sich alles gegen
mich verschworen.“
„Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Ist schließlich ein
Notfall.“ Er lächelt ihr zu.
„Furchtbar nett von dir, aber ich möchte keine Umstände
machen.“
„Das sind keine Umstände. Außerdem, wo willst du um
diese Zeit noch hin?“
„Ist schon in Ordnung“, wehrt sie ab. „Ich rufe einen guten
Bekannten an.“
Er geht voraus ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft. Eine
Frau gefesselt auf einer Pritsche. Er nimmt die Fernbedienung,
schaltet den Fernseher aus.
Sie bleibt stehen:
„Bist du allein?“
„Ja“, antwortet er. „Ich habe einen Cocktail erfunden.
Willst du probieren?“
„Klar, ich mag Cocktails.“
„Dann setz dich!“ Er deutet auf die Couch. „Du wirst staunen.“
Er verschwindet in der Küche.
Sie lässt sich auf der Couch nieder, zupft an ihrem kurzen
Kleid, schlägt die Beine übereinander. Er kommt mit zwei Gläsern
mit Eis, Zuckerrand und weißen Strohhalmen zurück.
Setzt sich auf den Sessel ihr gegenüber, prostet ihr zu.
Sie löst ihre gespannte Haltung, beugt sich zum Tisch,
nimmt einen tiefen Zug.
„Wirklich gut. Ein bisschen wie Caipirinha.“
„Aber nur ein bisschen, ist eine eigene Kreation.“
Sie empfindet einen salzigen Nachgeschmack.
„Ich müsste erst die Auskunft anrufen, habe alle Telefonnummern
im Handy gespeichert.“
„Ja, okay. Ich hole gleich das Telefon.“ Er prostet ihr zu,
lächelt immer noch. Sie lächelt zurück, beugt sich zum Strohhalm,
trinkt. Verschluckt sich. Hustet. Er steht auf, klopft ihr
auf den Rücken.
„Möchtest du etwas anderes? Cola, Wasser? Soll ich dir einen
Kaffee kochen?“
„Nein, danke. Ich kann wirklich nicht lange bleiben.“ Sie
spürt seine Blicke, die Spannung im Raum. Schafft es nicht
aufzustehen, kann sich nicht aufraffen, bleibt sitzen und nippt
an ihrem Cocktail. Immer wieder. Er lobt ihre Figur, ihre Kleidung.
„Du kannst andere haben als Marco“, sagt er. „Bist jung.
Siehst toll aus. Verstehst dich super zu kleiden.“
„Danke. Ich glaube, ich sollte jetzt wirklich anrufen. Sonst
schaffe ich es nicht mehr und du hast mich die ganze Nacht am
Hals.“ Sie errötet, trinkt den Cocktail aus.
„Ein letztes Glas zum Abschied.“ Er geht in die Küche.
Sie kämpft gegen eine aufkommende Übelkeit an.
„Du kannst mir das Rezept aufschreiben“, sagt sie, während
er die gefüllten Gläser auf den Tisch stellt.
„Das Rezept wird nicht verraten“, lacht er.
Sie versteht nicht, warum er lacht. Zieht an dem Strohhalm
„Musik fehlt zum Cocktail“, stellt er fest. „Irgendwas Bestimmtes?“
„Madonna.“ Sie merkt, wie ihr das Sprechen schwerfällt,
lehnt sich auf der Couch zurück.
„Natürlich. Madonna.“ Er sieht sie an, als warte er auf etwas.
Sieht sie immerzu an.
Sie mag es nicht, von ihm angestarrt zu werden, richtet sich
auf, zieht an ihrem Kleid. Nimmt noch einen Schluck.
Er geht zum Schrank, sucht nach einer CD, findet sie und
legt sie in den Player.
‚Life ist a mystery, everyone must stand alone.‘ Ihr Lieblingssong.
Like a prayer. Sie wippt im Takt. Sofort wird ihr schwindelig.
Sie kneift die Augen zusammen.
Er kommt zurück an den Tisch, beugt sich zu ihr.
„Richtig gewählt?“
„Ja, erinnert mich an schöne Momente.“ Sie spürt seine
Blicke auf ihrem Busen, ihren Beinen, kommt sich in dem
dünnen Kleid nackt vor, wünschte einen hochgeschlossenen
Pullover und Jeans zu tragen.
„Du gefällst mir“, sagt er, nimmt die Gläser, geht in die
Küche.
Etwas stimmt nicht. Der Schwindel, die Übelkeit. Ein
Rauschen im Kopf, das stärker wird. Zu viel Alkohol. Nichts
mehr trinken, nur noch schlafen. Für einen Moment die Augen
schließen. Anrufen. Ihn nach dem Telefon fragen. Sie spürt,
wie ihr alles zu viel wird. Wo wollte er hin? Sie erinnert sich
nicht. Aber da sitzt er ja. Auf dem Sessel ihr gegenüber. Wie
viel Uhr es wohl ist?
Er steht auf, gibt ihr ein Glas in die Hand.
„Trink!“
Sie zieht an dem Strohhalm.
„Weißt du, wie viel Uhr ist es?“
Er weist auf die Wanduhr.
Sie erkennt die Zeiger nicht. Sieht alles verschwommen.
Kann nicht mehr auf der Couch sitzen. Würde alles darum geben,
in ihrem Bett zu liegen. Sie möchte aufstehen, ins Bad
gehen. Schafft es nicht. Erst ein bisschen hinlegen, ein paar
Minuten Kräfte sammeln. Sie versucht die Stiefel abzustreifen,
die sie mit den Nylonstrümpfen und dem kurzen Kleid für die
Feier bei Marcos Schwester kaufte. Er springt herbei, hilft ihr
aus den Stiefeln. Sie streckt sich aus, dreht sich von ihm weg,
murmelt eine Entschuldigung.
Versteht er sie nicht? Sie spürt seinen Atem, seinen Körper
neben sich. Sie will das nicht, will ihn nicht so nah. Will ihn
abwehren. Ihr fehlt die Kraft. Fühlt sich wie gelähmt. Paralysiert.
Er zieht den Reißverschluss ihres Kleides auf, streift es von
ihrem Körper. Sie möchte sich auf der Couch aufrichten. Es
gelingt ihr nicht. Er ist über ihr, öffnet den BH, zieht ihr den
Slip aus. Sie möchte weg. Weg von ihm. Ein blaues Kondom.
Sie sieht es in seiner Hand. Er streift es über. Sie versucht sich
zu befreien, aber er ist überall mit seinen Händen. An ihren
Brüsten, zwischen ihren Beinen. Sie spürt ihn hinter sich, wie
er ganz hart in sie eindringt. Will schreien. Kein Laut dringt
aus ihrem Mund. Er hatte ihr was ins Glas gemixt. Das ist es.
Hatte es von Anfang an geplant, als sie vor seiner Tür stand. Er
soll aufhören.
„Aufhören! Ich kann nicht!“ Sie hört ihre Stimme nicht.
Fühlt sich außerhalb ihres Körpers, als würde sie das Geschehen
von außen betrachten. Sein Körper stößt immer heftiger
gegen ihren Po. Er zittert. Atmet stoßweise. Stöhnt. Wird endlich
ruhig. Zieht sich zurück. Sie muss ihm mitteilen, dass sie
nichts sagt.
„Ich sage nichts. Versprochen, ich sage nichts.“
Er reagiert nicht. Sie wiederholt ihre Worte. Er steht auf.
Nimmt seine Sachen. Geht zur Tür. Wohin? Das Telefon. Marco?
Sie muss ihn anrufen, aber hat kein Telefon.

2. Kapitel


Die Welt stürzt vor mir ab. Glassplitter und Blut an meinen
Händen, meinem Hemd, den Sitzen. Es riecht nach Benzin.
Ich will raus, versuche die Tür zu öffnen. Sie klemmt. Das
Seitenfenster ist gesprungen. Ich drücke die Scherben nach außen.
Zwänge mich ins Freie. Höre die Stimme von Christina,
die mich ruft. Dann ist es still. Unheimlich still. Mein Mund
ist trocken, der Hals wie ausgedörrt.
Ich schrecke aus dem Albtraum hoch, verspüre Kopfschmerzen,
Durst. Taste mich ins Bad, trinke Wasser aus dem
Kran. Der Unfall meiner Eltern. Wieso kam Christina darin
vor? Wo ist Christina?
Ich betrachte meine glasigen Augen im Spiegel, die gerötete
Gesichtshaut. Zu viele Kölsch auf der Feier meiner Schwester.
Katrin feierte mit ihrem Freund Thomas die Einweihung ihrer
gemeinsamen Wohnung in Köln. Wir wollten bei ihnen übernachten,
bis Christina ihren Eifersuchtsanfall bekam.
Ich suche mein Handy, wähle Christinas Nummer. Das
Rufzeichen ertönt. Einmal, zweimal, dreimal … irgendwann
gebe ich es auf. Ihre Eltern kann ich nicht anrufen, kann ihnen
unmöglich mitteilen, dass ich nicht weiß, wo Christina ist. Ich
hatte ihrem Vater versprochen, sie wohlbehalten zurückzubringen.
Kaum zu glauben, aber sie behandeln Christina wie ein
Kind, meinen, alle Welt müsste auf sie aufpassen. Dabei wird
sie in einem Monat einundzwanzig. Am besten lege ich mich
wieder hin. Morgen wird sich alles klären. Ich liege auf meinem
Bett, versuche einzuschlafen, aber kann das Denken nicht abstellen.
Christina war den ganzen Abend an meiner Seite, bis ein
früherer Mitschüler sie in der Küche auf gemeinsame Lehrer
ansprach. Ich ging ins Wohnzimmer, betrachtete die Dunkelhaarige
mit den großen Augen, die etwas abseits von den anderen
am Balkonfenster stand und nicht so aufgedonnert wirkte.
Begegnete ihrem Blick, der mich fesselte, von dem ich mich
nicht lösen konnte.
Bis Christina mich in die Seite stieß und rief:
„Ich will sofort hier weg!“
Ich hatte sie nicht kommen sehen. Versuchte sie umzustimmen.
„Warte, ich zapfe uns zwei Kölsch.“
„Kannst du dir sparen!“, zischte sie mit einem Blick, als
hätte sie mich gerade mit ihrer besten Freundin erwischt.
„Warum denn?“ fragte ich scheinheilig. „Wir haben Katrin
versprochen, bei ihr zu übernachten.“
„Hör auf mit dem Scheiß!“ erwiderte sie nur. „Ich mache
einen Riesenkrach, wenn du nicht sofort kommst. Das schwöre
ich dir!“
Ich fühlte mich schlagartig nüchtern, versuchte es noch einmal,
leise, beschwichtigend:
„Was hast du denn?“
Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten, die ein Donnerwetter
ankündigten.
„Glotzt die Tussi stundenlang an und fragst, was ich
habe?“
Ich wollte den Streit vor den anderen nicht in die Länge
ziehen, wollte die Feier auch nicht verlassen.
„Was willst du deinen Eltern erzählen, wenn du mitten in
der Nacht auftauchst? Die denken, wir übernachten in Köln.“
Sie schüttelte den Kopf. Ging stur in Richtung Ausgang.
Meine Schwester mischte sich ein:
„Ich habe die Betten im Gästezimmer bezogen. Ihr könnt
jetzt nicht gehen.“
Christina öffnete die Wohnungstür. Verschwand im Hausflur.
Ich entschuldigte mich bei Katrin, umarmte sie, dann
Thomas, winkte den anderen zum Abschied zu. Sah zu der
Dunkelhaarigen, spürte, wie ihr Blick mich festhalten wollte.
Aber schon war ich im Flur, lief ich Christina nach.
Sie drehte den Sitz in meinem alten Golf nach hinten,
nahm sich die braune Wolldecke vom Rücksitz und herrschte
mich an:
„Ich will nichts mehr hören! Bring mich nach Hause und
Ende!“
Ich irrte durch Köln, bis ich mich an mein neues Navi erinnerte
und meine Heimatadresse einstellte.
Der immerwährende Randstreifen, der gleichmäßig unterbrochene
Mittelstreifen auf der Autobahn. Ich spürte, wie mir
die Augen zufielen. Versuchte dagegen anzukämpfen, indem
ich mir die Frau auf der Party vorstellte. Ihre großen Augen,
die braunen Haare bis zum Po, die silbernen Ohrringe. Ihren
schwarzen Pulli über der engen Jeans, die verzierten Chucks.
Sie hatte mich interessiert angesehen oder hatte ich es mir nur
eingebildet?
Ein LKW tauchte vor mir auf wie aus dem Nichts. Ich
wechselte auf die Überholspur. Zu hastig! Christina stieß mit
dem Kopf gegen die Scheibe, murmelte:
„Kannst du nicht aufpassen?“ Und schlief weiter. Gott sei
Dank schlief sie weiter.
Gott sei Dank kann man sie im Schlaf wegtragen, ohne dass
sie es merkt. Das ist es. Ich spüre kalten Schweiß auf meinem
Rücken. Warum habe ich nicht daran gedacht?
Ich hatte Christina nicht geweckt. Das gibt einen Riesenkrach.
Sie wird mir nie verzeihen, dass ich sie im Auto vergessen
habe.
Ich springe aus dem Bett, streife mir Jeans und Pullover
über. Wenn sie noch im Auto schläft, werde ich sie nach Herne
bringen, ohne über den Zwischenstopp in Bochum zu reden.
Ich nehme meine Schlüssel und verlasse die Wohnung.

3. Kapitel


Durch die Autoscheiben erkenne ich, dass der Golf leer
ist. Reiße trotzdem die Fahrertür auf, starre auf den Beifahrersitz,
auf die braune Decke, als könnte Christina sich darunter
verbergen. Sie wird aufgewacht sein, gedacht haben, ich hätte
sie mit Absicht im Auto gelassen. Wird voller Zorn zum nächsten
Taxistand gelaufen sein oder sich mit ihrem Handy ein
Taxi gerufen haben. Das Handy! Hat mein Anruf sie geweckt?
Ich habe bestimmt zehn Mal klingeln lassen.
Ich könnte die Taxifahrer am Schauspielhaus fragen, ob
sich eine Zwanzigjährige mit dunkelblonden langen Haaren,
schwarzer Lederjacke, einem kurzen dunklen Kleid und kniehohen
Stiefeln ein Taxi nach Herne genommen hat. Aber warum?
Ich kann froh sein, dass sie weg ist, ich mir die Auseinandersetzung
mit ihr erspare. Woher kommt meine Unruhe?
Ich beuge mich über den Fahrersitz, um den Kaffeebecher
aus der Halterung zu nehmen, da biegt ein Polizeiwagen in die
Straße ein. Für Sekunden bin ich wie gelähmt. Fange mich
und verlasse den Golf, ohne mich umzusehen. Achte auf meine
Schritte und stolpere prompt über die Stufe vor der Haustür.
Der Deckel des Bechers löst sich. Kaffee spritzt an meine Hose.
Ich spüre Blicke im Rücken. Meine Hände zittern. Ich finde
das Türschloss nicht. Zwinge mich zur Ruhe. Endlich. Ich haste
die Treppenstufen rauf. Öffne die Wohnungstür, verschließe sie
von innen. Knipse das Flurlicht an. Verdammt! Das Licht verrät
ihnen, wo ich wohne. Ich schalte es wieder aus. Frage mich,
ob sie es durch das Wohnzimmerfenster gesehen haben. Aber
das brauchen sie nicht. Sie können über Funk fragen, wem der
Golf gehört, schellen, einen Alkoholtest durchführen.
Ich werde nicht öffnen, wenn sie schellen. Werde aus dem
Küchenfenster im ersten Stock in den Garten springen, über
den Zaun klettern und in die Stadt laufen. Im Intershop einen
Kaffee trinken, um einen klaren Kopf zu bekommen. Der Kaf-
feebecher fällt mir ein. Ich erinnere mich, dass ich am Rastplatz
Remscheid hielt, kurz reinging, den Kaffeebecher holte und
weiterfuhr.
Eine Autotür schlägt zu. Ich lausche zum Wohnzimmer
hin, zur Straße. Fahren sie weiter? Ich muss nachsehen, schleiche
ans Wohnzimmerfenster, blicke auf die Straße. Vor meinem
Golf parkt der Polizeiwagen. Zwei Beamte stehen an der Haustür,
sehen zu den Fenstern hoch. Ich schrecke zurück. Zu spät.
Sie haben mich gesehen. Bestimmt haben sie mich am Fenster
gesehen. Ich muss ihnen öffnen, ihnen irgendwas erzählen.
Sonst verliere ich meinen Führerschein, meinen Aushilfsjob als
Taxifahrer. Also, was erzählt man in so einer Situation?
Es schellt. Ich stürze ins Bad, gurgele mit einer Mundspülung.
Denke, dass es nicht reicht, mich noch verdächtiger
macht. Es schellt erneut. Ich schalte das Flurlicht an, drücke
die Haustür auf. Ein kräftiger Beamter um die Fünfzig und
seine junge Kollegin kommen die Treppenstufen herauf. Ich
versuche möglichst überrascht zu wirken.
„Ich dachte, es wäre meine Freundin.“
Sie grüßen kurz. Der Beamte fragt:
„Gehört Ihnen der schwarze Golf vor der Tür?“
„Ja, der gehört mir.“
„Wir haben beobachtet, wie Sie aus dem Auto stiegen“, sagt
die Beamtin. Ich unterbreche sie:
„Ich habe nach meiner Freundin gesehen, die damit unterwegs
war. Ich konnte nicht schlafen, sah aus dem Fenster.“
Ich deute zum Fenster im Wohnzimmer. Die Beamten sehen
dorthin. Meine Hoffnung wächst, sie zu überzeugen. „Plötzlich
stand mein Golf da. Ich wartete, aber Christina schellte
nicht. Da habe ich nachgesehen.“ Ich lächle die Beamtin an,
sie lächelt zurück. „Verstehen Sie, warum meine Freundin einen
fast vollen Kaffeebecher im Auto lässt? Da sehen Sie!“ Ich
deute auf die Flecken auf meiner Hose, halte inne, als würde
ich die Beamten erst jetzt richtig wahrnehmen. „Hat Christina
mit dem Golf einen anderen Wagen beschädigt? Hat sie Fahrerflucht
begangen?“
„Nein“, erwidert der Beamte. „Wir haben Sie hinter dem
Steuer gesehen.“
Ich werde rot.
„Nein, ich saß nicht am Steuer. Ich habe nur den Kaffeebecher
aus der Halterung genommen. Als Sie schellten, dachte
ich, Christina hätte sich draußen versteckt, um mich zu überraschen.
Aber sie wird zum Intershop gelaufen sein, um Bekannte
zu treffen und was zu trinken. Ich gehe ihr nach, muss wissen,
was los ist.“
„Vorher verschließen Sie Ihren Golf!“, unterbricht mich die
junge Beamtin. „Wie kann man nur die Fahrertür auflassen?
Ihr Navigationsgerät ist geradezu eine Einladung für Diebe!“
Ich bin völlig überrascht.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich werde den Wagen sofort verschließen.“
Die Beamten bleiben vor der Tür stehen. Warum gehen sie
nicht, wo alles geklärt ist? Er sieht mich misstrauisch an. Überlegt
bestimmt, mich zum Alkoholtest mit auf die Wache zu
nehmen. Ich könnte mich ohrfeigen für mein Gerede.
Da ertönt das Handy in meiner Hosentasche. Am liebsten
würde ich die Wohnungstür zuwerfen. Beherrsche mich gerade
noch, hole das Handy hervor und drücke auf Verbindung.
„Seid ihr gut angekommen? Ich habe mir solche Sorgen
gemacht.“ Meine Schwester. Immer macht sie sich Sorgen. Immer
im falschen Augenblick. Da fällt mir etwas ein.
„Wo bist du? Was? Im Intershop? Ich soll nachkommen?“,
stottere ich ins Handy, nicke den Polizisten zu:
„Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich schließe den Wagen sofort
ab.“ Spreche wieder ins Handy:
„Christina, du hättest wenigstens schellen können. Du
weißt, dass ich nicht schlafen kann, wenn du mit dem Golf so
spät unterwegs bist.“ Ich warte ein paar Sekunden, muss ihr
doch Zeit geben für eine Antwort: „Ja, ich komme nach. Aber
zu Fuß. Ich habe ein paar Bier getrunken. Wenn ich mich beeile,
bin ich in fünfzehn Minuten bei dir.“
Ich beende das Gespräch. Bedanke mich bei den Beamten
mit einem Handschlag. Versichere ihnen noch einmal, die Tür
sofort zu verschließen. Sie gehen darauf ein, verabschieden sich
und steigen die Treppen runter. Vom Wohnzimmerfenster aus
beobachte ich, wie sie in ihren Passat steigen und abfahren.

4. Kapitel


Ich laufe die Königsallee runter in Richtung Intershop.
Erinnere mich unterwegs, was ich meinem Vater, dem Staatsanwalt,
alles erzählt habe, wenn er mich in seinem Arbeitszimmer
verhörte. Es reichte ein Fehler bei den Hausaufgaben,
eine Klassenarbeit, die nicht gut ausgefallen war. Ich saß mit
hochrotem Kopf vor seinem riesigen Schreibtisch, hinter dem
er so erhaben wirkte, und kam mir unendlich klein vor. Dachte
mir Geschichten aus, um ihn von mir abzulenken, erzählte
von unfähigen Lehrern, welche die Klasse nicht disziplinieren
könnten, von Gewalt und Drogen an der Schule. Erzählte nur
von den anderen. Dabei wünschte ich ein Ende der schrecklichen
Verhöre. Belauschte seine Streitigkeiten mit Mutter bis
in die Nächte hinein. Erzählte ihr, Mitschüler hätten ihre Noten
nach der Trennung ihrer Eltern verbessert. Es war aussichtslos.
Mutter war zu einer Trennung nicht bereit, auch wenn sie
ihm oft damit drohte.
Ich erreiche den Intershop, dränge mich zur Theke, bestelle
bei der freundlichen Kellnerin mit der Latzhose und
dem blonden Zopf ein Altbier. Versuche ein Lächeln, spüre,
wie es misslingt, ich so voller Gedanken stecke, dass ich nicht
mal ein Lächeln gegenüber der Kellnerin hinkriege. Schon
ärgere ich mich, das Bier überhaupt bestellt zu haben. Wäre
ich nur zu Hause geblieben. Jetzt hänge ich hier rum bei dem
Krach und dem Gedränge. Überlege, den Laden zu verlassen,
ohne mich um die Bestellung zu scheren, da entdecke
ich am anderen Ende der Theke meinen Freund Oliver, der
mich in der gleichen Sekunde erkennt und zu mir rüberkommt.
Blonde struppige Haare, graublaue Augen, immer
gut gelaunt.
„Hallo Marco“, grüßt er.
„Hallo Oliver. Ist Hannah schon weg?“ Seine Freundin
ist jünger als er, besucht noch das Gymnasium.
„Ihr Vater hat sie vor einer guten Stunde abgeholt“, erwidert
er. „Ich habe noch einen Bekannten getroffen.“
Ich freue mich, dass er da ist, freue mich, nicht mehr
alleine zu sein, lache die Kellnerin an, die mir das Alt auf die
Theke stellt und die Bestellung von Oliver aufnimmt.
„Wart ihr nicht bei deiner Schwester eingeladen?“ Er
sieht mich neugierig an.
„Schon, aber du kennst Christina. Es gab Stress. Sie
wollte mitten in der Nacht nach Hause.“
„Und du bist gefahren? Erzähl mir nicht, du hättest mit
deinem Schwager kein Kölsch getrunken. Marco, wach auf,
du riskierst deinen Führerschein!“
„Ach, sie hat so ein Theater veranstaltet“, versuche ich
mich zu rechtfertigen. „Nur weil ich eine andere Frau auf der
Feier angesehen hatte. Ich ertrage so einen Stress nicht seit
dem Unfall meiner Eltern.“
„Schiebe es nicht auf deine Eltern! Es geht um Christina
und dich. Du kannst Schluss machen, wenn du keine Lust
auf ihre Szenen hast.“
„Sofort, wenn du mir sagst, wo sie steckt. Ich weiß es nicht!
Mache mir echt Sorgen.“
Oliver zieht seine Augenbrauen hoch. Seine typische Geste,
wenn er etwas nicht versteht.
„Sie schlief auf der Rückfahrt ein“, erkläre ich. „Seitdem ist
sie verschwunden.“
„Wie wäre es mit anrufen?“, fragt er.
„Habe ich versucht. Sie meldet sich nicht. Ist bestimmt sauer
und will nicht mit mir reden.“
„Dann ruf ihre Eltern an! Frag, ob sie da ist.“
„Um diese Zeit? Ihr Vater bringt mich um.“
„Dann rufe ich Christina an.“ Er nimmt sein Handy und
versucht, Christina zu erreichen. Schließlich gibt er auf und
fragt:
„Was hat deine Schwester gesagt, als ihr so früh gegangen
seid?“
„Scheiße, die muss ich zurückrufen. Warte einen Augenblick!“
Die Musik in dem Laden ist zu laut. Ich gehe vor die Tür,
wähle Katrins Nummer. Sie regt sich auf, dass ich die Feier wegen
Christina so früh verlassen habe, fragt, was am Telefon mit
mir los gewesen wäre. Ich versuche es ihr zu erklären, beschreibe
ihr die Begegnung mit der Polizei vor meiner Tür.
„Nur wegen Christina!“ schimpft Katrin. „Die ist doch verrückt.
Macht Rainer schöne Augen und regt sich auf, wenn du
mit Lena flirtest.“
„Mit wem habe ich geflirtet?“
„Tu nicht so scheinheilig! Mit Lena natürlich! Vor mir
brauchst du das nicht abzustreiten.“
„Die Dunkelhaarige am Fenster war Lena?“, frage ich.
„Ja, Lena, mit der ich in der Kinderklinik in Bochum immer
zusammen war. Sag bloß, ihr hattet euch noch nicht gesehen?“
„Nein, aber ich erinnere mich an die Geschichte mit ihrem
Vater.“
„Genau! Die hatte ich dir erzählt.“
„Und Christina hat sich wirklich an diesen Rainer herangemacht?“
„Ja. In der Küche, während du mit Lena geflirtet hast. Christina
macht mir nichts vor. Sie hatte die ganze Zeit auf einen
Moment gewartet, um alleine mit Rainer zu sprechen. Und er
hatte auch schon auf einen passenden Moment gewartet.“
„Und ihre Eifersucht…“
„War gespielt“, unterbricht sie mich. „Sie wollte zurückfahren,
um sich mit Rainer zu treffen.“
„Meinst du wirklich?“ Es erscheint mir zu unwahrscheinlich.
Aber Katrin wirkt überzeugt.
„Rainer hat die Feier direkt nach euch verlassen. Sie ist bestimmt
bei ihm. So wie sie sich aufgemacht hatte, konnte er es
sich nicht entgehen lassen.“
„Aber sie war total müde auf der Rückfahrt, schlief gleich
im Auto ein.“
„Na, da ist sie in seinen Armen wieder aufgewacht“, lacht
Katrin. „Mach dir nichts draus. Ihr habt sowieso nicht zusammen
gepasst. Du bist viel zu harmoniebedürftig für Christina.“
„Das sagen alle“, stelle ich fest.
„Wer noch?“, fragt sie.
„Oliver. Den hab ich gerade im Intershop getroffen. Er
meint auch, dass Christina nicht zu mir passt.“
„Dann lass dich nicht aufhalten! Bestell ihm einen schönen
Gruß! Und komm morgen um zwei zum Mittagessen. Okay?
Ist eine Menge übrig geblieben.“
Ich willige ein und gehe zurück in die Kneipe.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011

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