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Der Hinweg




Marion und ich steigen sehr früh am Morgen in mein Auto , um uns auf den Weg zum Harz, über meinen Geburtsort, zu machen. Die Landschaft verändert sich allmählich. Die Großstädte werden weniger, die Wälder, Wiesen und Felder mehr. Wir unterhalten uns über meine Kindheit, meinen Berufswunsch und so. Dabei hören wir Musik-CDs und bei besonders schönen Liedern singe ich mit. Je näher wir uns meinem Geburtsort nähern, um so stiller werde ich. Es wird immer hügeliger, wir sind im Vorharz. Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen und ich halte nach einem Parkplatz aus schau. Endlich kommt einer. Ich fahre drauf, und die Tränen fangen an zu laufen. Ich kann sie nicht mehr zurück halten. Meine Tochter fragt ganz erschrocken: „Mama, was ist los?“ Schluchzend antworte ich: „Ich wusste gar nicht mehr, wie schön meine Geburtsheimat ist. Der Anblick hat mich einfach überwältigt.“ Leise sagt sie: „Aber du warst doch erst zwei Jahre alt, als deine Eltern mit dir fort zogen. Du kannst dich doch nicht daran erinnern.“ Genauso leise antworte ich: „Das stimmt, doch als ich 15 Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir hier gewesen und haben mir alles gezeigt. Dadurch habe ich ja A. K. kennen gelernt.“ Marion nimmt mich tröstend in den Arm. Langsam beruhige ich mich und meine Tränen versiegen. Wir fahren weiter. In L angekommen, müssen wir uns durch fragen, denn N ist so klein, dass es über den Routenplaner nicht zu finden ist. Endlich sind wir in N. Wir fahren durch den Ort und treffen keine Menschenseele, die wir nach dem Haus von A fragen können. Ich erinnere mich auch nicht mehr so an das Haus, in dem wir damals gewohnt haben. Endlich sehen wir einen Mann an der Straße und halten an. Wir fragen nach dem Haus von A. Er erklärt uns den Weg und fragt, wer wir denn sind. Ich sage es ihm. Sofort erzählt er: „Ja, dass war damals ein sehr tragisches Unglück. Aber das brauche ich ihnen bestimmt nicht zu erzählen. Wir denken immer noch daran.“ Wir bedanken uns und fahren weiter. Es ist nicht mehr weit und direkt vor dem Haus bekommen wir auch einen Parkplatz. A begrüßt uns, dann führt sie uns die Treppe hoch in ihre Wohnung. Sie teilt sich das Haus mit ihren Brüdern.

Bei der Freundin




A und ich erzählen uns gegenseitig, wie es uns geht und was wir so machen. Langsam komme ich auf den Punkt, weswegen wir ja eigentlich her gekommen sind. A fängt an zu erzählen:

„Gertrud und ich hatten Schulschluss und wir machten uns mit den anderen Kindern auf den Heimweg. Ein Bauer fuhr mit seinem Traktor langsam an uns vorbei. Auf seinem Anhänger hatte er Getreide geladen. Wer von den Kindern auf die Idee kam, auf den Anhänger zu klettern – wen interessierte es. Ich weiß es nicht mehr. Wir wollten nach Hause, doch die Kinder riefen immer wieder, wir sollten doch auch mit auf den Anhänger kommen. Einige waren schon darauf. Gertrud ließ sich dann doch überreden. Einige Kinder reichten ihr die Hände und sie sprang auf die Deichsel.“ Hier stockt A, die Erschütterung kann ich in ihrer Stimme hören, und in ihrem Gesicht sehen. Auch heute noch, nach über 40 Jahren, nimmt der Unfall ihrer besten Freundin sie mit. Nach einer Weile spricht sie weiter: „Es ging alles so verdammt schnell. Gertrud viel runter, genau unter die Räder des Anhängers, der sie überrollte. Ich lief schreiend nach Hause. Durch mein Schreien wurde Deine Mutter aufmerksam. Sie kam aus dem Haus, und sah Gertrud auf der Straße liegen. Sie rannte zur Unfallstelle, warf sich über Gertrud, und schrie das ganze Dorf zusammen. Gitta, ich habe nie wieder einen Menschen so schreien gehört. Es hatte sich angehört, als wenn sie sich die Seele aus dem Leib geschrien hätte. Was danach geschah, weiß ich nicht. Zu Hause bin ich durch den Schock zusammen gebrochen.“

Ich stelle mir bildlich vor, wie meine Mutter sich über Gertrud wirft und schreit. Mein Gott, was muss in dieser Frau für eine Welt zusammen gebrochen sein. Eveline 1940 in Ostpreußen gestorben. Jetzt Gertrud. Nun hatte sie gar kein Mädchen, gar keine Tochter mehr. In diesem Augenblick begann ich so richtig zu begreifen, warum mir meine Mutter keine Liebe geben konnte. Warum ich so furchtbar über behütet aufgewachsen bin. Ich muss schlucken, sehe meine Tochter an, die ebenfalls sehr mit den Tränen kämpft. Wir sind beide ganz erschüttert, und brauchen eine Weile, um wieder sprechen zu können.

A beginnt wieder zu reden: „Die ganzen Dorfbewohner sind zur Beerdigung gegangen. Bei der Trauerfeier war der Sarg offen. Gertrud sah wie ein Engel aus, mit ihren blonden Haaren und dem weißen Kleid. Die Kapelle war voller Kränze und Blumen. Gertrud war sehr beliebt.“ Ich frage: „A, du hast all die Jahre das Grab gepflegt, wie ich bei meinem ersten Besuch, mit meinen Eltern, bei Dir erfahren habe. Auch darum gekämpft, dass es nicht so schnell eingeebnet werden sollte. Warum?“ Sie antwortet: „Weil Gertrud meine beste Freundin war, und ich gefühlt habe, dass deine Eltern das Grab nochmal sehen wollten. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie Gertrud vergessen hatten. Ihr seid ja auch gekommen. Leider einen Monat zu spät.“ Ich sage: „Ja, leider. Mein Vater war darüber sehr traurig. - Aber sag mal, war meine Schwester wirklich so ein liebes und braves Mädchen, das nie etwas angestellt hatte?“ Ich kann mir diese Frage einfach nicht verkneifen. Ich will wissen, ob meine Schwestern von meiner Mutter nach ihrem Tod auf einen Thron gesetzt worden waren. A antwortet: „Sie war schon braver als wir anderen Kinder, doch sie hat auch viel Unfug mit gemacht. Nein, ein reiner Engel war Gertrud nicht. Sie war freundlich und hilfsbereit, und deswegen bei den Dorfbewohnern gut angesehen. Sie übte auch nicht gar so viele Streiche aus, sie war aber auch ein Kind, wie wir alle. Warum willst du das wissen?“ Ich sprach: „Meine Mutter hat mir Gertrud und Eveline immer als Beispiel von lieben und artigen Kindern vor Augen gehalten. Die sich selten schmutzig machten, oder Deifeleien anstellten. Ich war nicht so artig. Gerne kletterte ich auf Bäume, sprang mit Vergnügen in Pfützen, oder stellte sonst einen Unfug an. Kam dadurch oft genug mit zerrissener oder dreckiger Kleidung ins Haus, und mit Wunden. Wie oft hab ich versucht so artig zu sein, doch ich schaffte es nie.“ A erwidert: „Das muss sehr schlimm für dich gewesen sein. Eveline kannte ich ja nicht, aber Gertrud war bestimmt kein über artiges Kind. Deine Mutter hat sie wohl auf ein Podest gehoben, das Gertrud nicht zustand. Vielleicht wollte sie dich damit auch nur zu einem besonders artigem Mädchen erziehen.“ Ja, dachte ich, das hat Horst mir auch versucht klar zu machen. Doch ich hatte es nicht geglaubt. Marion und ich unterhielten uns noch eine Weile mit A, dann sagten wir, dass wir weiter fahren wollten. Wir wollten ja heute noch an unseren Ferienort im Harz an kommen. Wir verabschiedeten uns von A und machten uns auf den Weg.

Impressum

Texte: Gitta Weiß
Bildmaterialien: Gitta Weiß
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2012

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