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Täuschung?

Fünfundzwanzig Jahre ist es her. Fünfundzwanzig Jahre und noch immer höre ich die Angst in meiner Stimme, die Zuversicht und Trost ausdrücken soll.

 

Ich komme mir vor, wie ein Gernegroß und fühle mich unsagbar klein. Ich habe meine Kompetenzen überschritten, frage mich, ob ich nicht nur geschmacklos und wenig empathisch klinge, sondern auch noch gehässig oder arrogant. Dabei meine ich es nicht so. Ich meine es ehrlich, ich meine es freundlich, ich will doch nur die Tränen trocknen, die nicht zu trocknen sind.

 

Fünfundzwanzig Jahre. Unvergessen. Dieser Tag. Die Tage zuvor, in denen ich versuchte, den Abschied zu erleichtern. Wünsche zu erfüllen, die alle samt mit "Noch einmal ..." begannen.

 

Vor fünfundzwanzig Jahren war ich selbst erst fünfundzwanzig. Meine Mutter war schwer krebskrank und wusste, dass sie bald sterben würde. Die wertvollen, letzten Tage reihten sich aneinander, wie Perlen an einer Kette, von der sie nicht wirklich glaubte, dass diese jemals enden würde. Und wenn doch, dann gewiss nicht heute, nur irgendwann.

 

Sie machte Pläne, freute sich über das neue Badezimmer, die renovierte Veranda und hoffte, dass der Tod sie über all diese Pläne vergessen würde.

 

"Ich bin doch noch gar nicht so alt, warum muss ich so früh sterben?" Ihr Blick traf mich eines Abends bis ins Mark. Welche Antwort sollte ich ihr geben? Während ich fieberhaft nach einer Ausflucht suchte, fixierte sie mich mit ihren gelben Augen, die allzu deutlich machten, dass die Leber immer mehr versagte. Nein, sie hatte nie getrunken, nicht geraucht, sondern Sport getrieben und viel gelacht.

 

"Du hast doch viele schöne Jahre gehabt", antwortete ich unsicher und sagte ihr, sie solle daran denken. An all das, was wertvoll in ihrem Leben war. "Ist das nicht mehr, als andere je hatten?", fügte ich hinzu und erhielt darauf ein kurzes Nicken, das widerum in ihren Tränen erstarb.

 

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren an diesen einen Tag gedacht habe. Immer wieder haben sich mir die gleichen Fragen gestellt. Würde ich mein Schicksal akzeptieren? Es annehmen, nicht hadern, sondern mich auf all das besinnen können, das gut und wertvoll in meinem Leben war?

 

Wie viele Tage braucht man, um zu sagen, dass es ausreichend war? Dass es erfüllt war? Oder ist es erfüllt und man fürchtet sich nur vor dem Unbekannten. Dem Schwarz, dem Nichts? Gibt es ein Paradies? Wiedergeburt? Oder sind es die menschlichen Dinge, das: "Was wird aus meiner Familie, meinen Kindern?", die dem Tod diesen Schrecken verleihen?

 

Es ist kein Geheimnis, dass das Leben begrenzt ist. Schöne, vergangene und ungenutzte Zeit scheint uns vor die Füße zu fallen. Gerne hätte man davon noch ein bisschen mehr. So wird der letzte Sonnenuntergang zu dem Schauspiel, das man mitnehmen möchte. Nicht heute, sondern irgendwann. Das: "Noch einmal ..."

 

Auch ich wünsche mir ein "Noch einmal" zurück, wenn dieses nicht das Sterben und den Tod beinhalten würde. Träume, aus einer längst vergangenen Zeit, erfüllen manchmal diesen Wunsch und geben, wenn man Glück hat, auch einen Blick auf die Zukunft preis.

 

Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich vom Paradies geträumt. Grünes Land, viel Fläche, mit lauter schönen, kleinen Häusern. Fast so, wie der Ort, in dem ich heute lebe und in dem ich glücklich bin. Zufrieden.

 

Was auch immer geschehen wird, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich es kenne, das Paradies. Zumindest das Meine. Lohnt es sich nicht allein dafür zu leben? Für diese eine Erfahrung? Anzunehmen, dass es Gott wirklich gibt? Gerechtigkeit und LIebe?

 

Wäre ich überhaupt würdig, es zu betreten, das echte, wahre Paradies?

 

Was ist falsch? Was richtig? Wie viele Fehler habe ich vergessen? Wie viele falsche Entscheidungen habe ich gefällt? Wann habe ich das ZIel verfehlt? Habe ich es verfehlt?

 

'Nur noch einmal ... ein einziger Tag, an dem ich wirklich weiß, worauf es ankommt. Ein einziger Tag, der die ganze Wahrheit widerspiegelt, nicht nur die, die im Auge des Betrachters liegt.'

 

Ob ich stark genug sein werde, um diese zu akzeptieren? Was, wenn das ganze Leben falsch geprägt wurde? Der Wert nicht den wertvollen Dingen beigemessen wurde? Habe ich die wichtigen Dinge übersehen? Wichtige Aufgaben vergessen?

 

Nein, ich bereue nichts. Vielleicht ein wenig. Aber selbst das Wenige, das es zu bereuen gibt, war der Wegweiser in diese Richtung meines Seins. Nun stehe ich hier, am Ende eines Weges, habe die Dinge geregelt, die mir wichtig erscheinen. Es bleibt immer noch ein Quäntchen übrig. Immer noch ein bisschen mehr, eine Option und der Glaube an morgen. Wird er mich verlassen? Ist das alles nur eine Wolke aus rosarotem Staub und man erwacht auf dem Boden der Tatsachen, wenn es keine Hoffnung, kein "vielleicht doch" mehr gibt?

 

Fünfundzwanzig Jahre sind beinahe um. Lange habe ich an diesen Tag gedacht. 'Du hast doch alles gehabt, was willst du mehr? Wofür brauchst du noch einen weiteren Tag? Einen Monat? Ein Jahr? Zu viele wusstest du nicht zu schätzen...!'

 

Die Sonne versinkt heute, so wie an allen anderen Tagen zuvor. Jeder Abend, jeder Morgen birgt ein kleines Wunder in sich. Ein Geschenk, das kostenlos zu haben ist.

 

Ich liebe das Leben, ebenso, wie meine Mutter es tat. Ich weiß es zu schätzen, ebenso, wie meine Mutter es tat.

 

Ich wünsche mir nicht zu hadern, wenn meine Zeit gekommen ist. Hoffe, dass meine Zuversicht nicht von Angst zerfressen wird und bete, dass mein Sein nicht ohne Sinn war.

 

Ob ich richtig lag oder falsch, werde ich irgendwann erfahren - oder nie - wenn ich mich in allem täuschte.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 28.01.2020

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