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Der Auftragschiller

Von wegen, besinnliche Adventszeit! Jedes Jahr vor Weihnachten bricht bei mir - wie bei vielen Menschen - der Stress aus und ich begebe mich auf die Jagd nach Geschenken, die die Welt nicht braucht. Warum nur tu ich mir das an?

Mir ist das Herz so froh erschrocken, das ist die liebe Weihnachtszeit! Ich höre fernher Kirchenglocken, in märchenstiller Herrlichkeit.
So empfand vielleicht jemand, der im 19. Jahrhundert unterwegs war und Theodor Storm hieß. Heute, im 21. Jahrhundert, hat man den Eindruck, Besinnlichkeit ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Weihnachten lässt sich nicht mehr einfach erleben, wo kommen wir denn da hin! Weihnachten muss organisiert und bis ins kleinste Detail durchgeplant werden.

 Auf die Frage »Wie geht’s?« hört man vom ersten Dezember an ein schulterzuckendes »Muss ja« oder »Bin im Stress«, das sich gegen Mitte des Monats in ein »Oh Gott, frag nicht!« steigert und kurz vor den Feiertagen in einem »Bin ich froh, wenn‘ s endlich vorbei ist!« gipfelt. Wer die Unverfrorenheit besitzt, mit einem »Danke, bestens« zu antworten, wirkt wie ein widerlicher Heuchler. Oder hat den Ernst der Lage nicht begriffen.

Ach, Herr Storm, wenn Sie wüssten! Wo einst Markt und Straßen verlassen standen, vom Schnee berieselt, schieben sich heute Massen mit Tüten in den Händen zwischen Glühweinbuden hindurch. Formieren sich dort zu Trauben, um ihren Frust kollektiv in der klebrig-süßen Plörre zu ersäufen. Die Straßen sind verstopft mit Menschen, die sich insgeheim weit wegwünschen. Besinnlich spaziert hier keiner durch die Gassen, es herrschen Hektik und Panik. Den Leuten ist die Angst vor dem bösen Wort »ausverkauft« ins Gesicht geschrieben, in den Augen glänzt nicht Vorfreude, sondern Verdruss über das, was sie erwartet - und das ist alles andere als eine »Stille, heilige Nacht«.

Sie werden es nicht glauben, verehrter Herr Storm, aber die festliche Stimmung ist mir vergangen. Mich hält kein stummer Zauber nieder, und staunend muss ich nur stehen, wenn ich die teils unverschämt überzogenen Preise sehe. Nein, lieber Theodor, ich fühl’s nicht, kein Wunder ist geschehn. In den Schaufenstern der großen Kaufhäuser tobt der Krieg der Sterne, die Agenten von Alien Conquest suchen nach immer neuen Opfern, die sie mit ihrem grünen Schleim infizieren können, und Ninjago-Krieger treffen sich am Tempel des Feuers zur letzten Schlacht. Ach, Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Dann können Sie sich bestimmt vorstellen, wie sich das Christkind heute fühlen muss, wenn es die Wunschzettel der Kinder in Händen hält - so wie ich die meiner Nichten und Neffen. Sie sprechen eine kryptische, martialische Sprache und lesen sich - von der furchtbaren Orthografie einmal abgesehen - häufig wie die Beschaffungsliste eines Waffenhändlers vom Mars.

Und dann diese Wut auf mich selbst: Wieder nicht geschafft, mich rechtzeitig zu kümmern. Wieder alles in letzter Minute und vieles vergessen. Verdammt! Dabei hatte ich mir vorgenommen, es dieses Jahr anders zu machen: Im Oktober entspannt Geschenke kaufen, Anfang November Plätzchen backen und die Adventskalender für die Kinder meines Bruders basteln.
Die Realität ist ernüchternd. In einer Kassenschlange, eingekeilt zwischen schwitzenden Leidensgenossen, kommt man am Tag vor Heiligabend zu sich - ein Sinnbild des Versagens. Ich, die mitten im Leben Stehende, im Beruf so Erfolgreiche und Aufstrebende. Weihnachten macht aus mir eine Aufschieberin und erfolglose Jägerin. Es verdammt mich dazu, Dinge auszusuchen, von denen ich bereits beim Kaufen weiß, dass die Beschenkten ihre Freude nur heucheln können.

Eine Freundin von mir wälzt sich in schlaflosen Nächten in ihrem Bett, weil sie keine zündenden Geschenk-Ideen hat. Mein Kollege in der Modeagentur hat gestanden, er würde am liebsten blau machen, weil er noch so vieles kaufen müsse und nicht weiß, wie er das anders schaffen soll. (Hoffe, sein in kleiner Runde vorgebrachtes Geständnis wird nicht unserer cholerischen Chefin Dietlinde zugetragen ...  sonst, oh la la.)

Sicher, es gibt sie, diese perfekt organisierten Leute, die sich jedes Jahr am 24. Dezember zu einem »gemütlichen Weihnachtsbrunch« treffen, während ich kurz davor stehe, beim Konsumterror oder zwischen Bergen von Geschenkpapier zu kollabieren. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein gemütlicher Brunch am Weihnachtsmorgen - die reine Provokation! Dass man den Weihnachtsstress nicht auf die Reihe kriegt, weiß schließlich jeder Betroffene selbst. Da braucht es niemanden, der einem die eigene Unfähigkeit schonungslos vor Augen führt.
Würde ich so früh die Präsente kaufen - wie denn?? Ich bin beruflich dermaßen eingespannt! - hätte ich bis Dezember längst wieder vergessen, welches Geschenk in welcher Verpackung ist, sodass meine ständig gereizte Stiefmutter versehentlich den Todesstern von Lego Star Wars bekäme und mein Vater das rosa Frottee-Nachthemd.
Ja, zum Teufel, ich bin tierisch gestresst. Dazu mit einer Familie gestraft, wie sie schwieriger, fordernder und anstrengender kaum sein könnte. Im Hinblick auf einige der Verwandten - wie besagte Stiefmutter Cora oder meine zickige Cousine Nancy - bin ich froh, sie außer an Weihnachten und Geburtstagen nur selten treffen zu müssen. Ach, ich vergaß zu erwähnen: Diese Familienzusammenkünfte finden in der Regel bei mir statt, denn ich »hätte den meisten Platz und würde mehr verdienen als sie«, darum könne ich sie auch jedes Jahr aufs Vortrefflichste bewirten.

Also, lange Rede, kurzer Sinn: Hier bin ich, Ellen Wagner, in meiner großzügigen, eleganten Loft-Wohnung, mit 36 Jahren Single, habe einen gutbezahlten Job in der Modeagentur »Blazed«, bin die rechte Hand von Geschäftsführerin Dietlinde Bauer-Elstner  - und weiß gerade nicht, wo mir der Kopf steht. Nicht nur, dass meine sadistische Chefin mir mit den Worten: »Sie als Alleinstehende werden wohl die Zeit dafür finden!«, einen ordentlichen Batzen Arbeit über die Feiertage mitgegeben hat. Nein, ich muss jetzt auch staubsaugen, wischen. Kochen und backen für zwanzig Personen. Dekorieren. Geschenke verpacken, für die ich den gesamten Vormittag durch die Einkaufspassagen gehetzt bin, für die weitläufige Familie, die morgen, an Heiligabend, mit hohen Erwartungen bei mir einfallen wird, einer Heuschreckenplage gleich. Wie jedes Jahr.

Ich habe soeben mit dem Staubsaugen begonnen, als es läutet. Rasch stelle ich das Gerät aus und eile zur Tür, denn das könnte die Bestellung sein, die ich noch dringend erwarte. Doch als ich die Tür aufziehe, erstarre ich. Kein Päckchen. Was ist das denn für ein großer, haariger Typ? Ein Zeuge Jehovas?, schießt es mir durch den Kopf. Gleichzeitig denke ich: Kommen die nicht immer zu zweit in göttlicher Mission? Dafür hab ich nun wirklich keine Zeit!
»Ja?«, frage ich daher knapp und unfreundlich. Und als der Kerl nicht antwortet, sondern mich nur aus feuchten, braunen Augen und mit einem breiten Lächeln sekundenlang ansieht, spüre ich Ungeduld in mir aufsteigen. Ist der etwa geistig zurückgeblieben?
»Hi, Ellen«, spricht er leicht gedehnt, mit tiefer Stimme. Woher kennt der Typ meinen Vornamen und warum duzt er mich einfach?
»Wer sind Sie?«, fauche ich, starre auf seine reglose Gestalt in dem braunen Anorak, die langen, herabhängenden Arme, das seltsam flach zurückgekämmte braune Haar, dann wieder in seine weit auseinanderstehenden dunklen Triefaugen. Nun, es sind vertrauenserweckende Augen, wirken irgendwie harmlos und unschuldig, wie die eines Kindes. Ist er behindert und sammelt Spenden? In mir steigt ein schlechtes Gewissen auf, dass ich ihn gerade so angefahren habe.
»Ich bin der Auftragschiller«, spricht er langsam. Was??
»Auftragskiller?«, kreische ich. Oh Gott, ein Irrer! Ich trete einen Schritt zurück, bin kurz davor, die Tür zuzuknallen. Sein Dauerlächeln wird noch breiter und er schüttelt den Kopf, wie ein müder, alter Kampfstier.
»Nein, Auf-trags-chil-ler«, wiederholt er bedächtig, jede Silbe betonend, als wäre ich diejenige, die geistig zurückgeblieben ist.
»Wenn das ein schlechter Scherz ist, dann war’s das jetzt. Ich hab‘ zu tun«, grolle ich und will endgültig die Tür schließen. Gleichzeitig macht er einen ruckartigen Schritt nach vorne und schiebt sich - erstaunlich gewandt für seine bisherige Lahmarschigkeit - in meinen Flur.
Stopp! Spinnt der? Ist er doch nicht so harmlos, wie ich angenommen hatte? Mein Herz rast und ich weiche einen weiteren Schritt vor ihm zurück. Sehe nun seine viel zu langen Fingernägel, als er nach der Klinke greift und die Tür zudrückt. Aus der Wohnung flüchten kann ich nicht, er steht direkt vor dem Ausgang. Soll ich schreien, um Hilfe rufen? Meine Augen hüpfen umher wie Flöhe, auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem ich mich verteidigen kann.
»Hey, es ist okay, entspann dich«, raunt er. »Carlotta schickt mich.« Meine etwas durchgeknallte, unorganisierte kleine Schwester? Ist die nicht gerade, statt endlich ihr Studium abzuschließen, als Rucksacktouristin irgendwo in Südamerika unterwegs? Jetzt erst nehme ich den seltsamen Geruch wahr, den der Fremde in meine Wohnung gebracht hat. Ein süßlich-harziger Kräutergeruch - Cannabis!, schießt es mir durch den Kopf. Na toll, ein bekiffter Langzeitstudent, kombiniere ich, garantiert ein Kommilitone meiner verrückten kleinen Schwester, steht hier in meinem Flur. »Hören Sie, ich hab‘ absolut keine Zeit, jetzt mit Ihnen zu plaudern oder Ihnen einen Kaffee anzubieten«, entfährt es mir. »Ich bekomme morgen viel Besuch und muss - «
»Du musst abschalten, honey«, fällt er mir ruhig und bedächtig ins Wort, dann spaziert er lässig in mein Wohnzimmer, schält sich wie in Zeitlupe aus seinem Anorak, als wäre er ein erwarteter Gast, legt die Jacke auf dem Hocker ab. Dann wendet er sich zu mir um und sagt, wieder so seltsam zeitverzögert: »Nice hier, Ellen. Komm, setzen wir uns.«
Ich sehe ihn perplex an, er trägt einen dieser abartigen, geschmacklosen Weihnachtsstrickpullover in grellen Farben. »Chill out, it’s Christmas!« steht in weißen Lettern auf seiner Brust, die Ärmel sind zu kurz, sodass die dicht behaarten Unterarme hervorlugen.
»Nein!«, rufe ich. »So läuft das nicht! Sie gehen jetzt bitte!« Ich bin am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Doch er lässt sich auf meine Rolf-Benz-Couch sinken, legt, die Ruhe selbst, einen der langen Arme auf die Lehne und klopft mit der anderen Hand neben sich aufs Polster.
»Carlotta sagte, du brauchst meine Hilfe.« Die Triefaugen versenken sich in meine, haben, wie seine schleppende Stimme, fast etwas Hypnotisches. »Und hier bin ich. Komm, nur eine Minute.« Klopf, klopf aufs Polster. Ich seufze. Welche Hilfe sollte der Typ mir wohl sein? Nun gut, er ist ein Freund von Lotti, die mir trotz ihres zu lockeren Lebenswandels die Liebste unter meinen Geschwistern ist. Ihren Kumpel jetzt einfach rauszuschmeißen wäre wirklich zu unhöflich. Okay, eine Minute, denke ich und setze mich auch aufs Sofa, mit genug Abstand zu ihm. Vielleicht will er nur ein bisschen Geld schnorren und ist gleich wieder verschwunden. Außerdem möchte ich wissen, wie es Lotti geht, hab‘ sie länger nicht gesehen.
Der Kerl streckt den langen Arm nach seiner Jacke aus, greift hinein und zieht diverse Sachen hervor. Legt sie bedächtig auf den Tisch. Tabak, Blättchen und ein Tütchen mit Gras, ich hatte es geahnt ... Zuletzt stellt er eine kleine Thermoskanne ab, dann beginnt er, mit seinen seltsamen Fingern mit den krallenartigen Nägeln einen Joint zu drehen, es sieht geübt aus. Ich räuspere mich, werde wieder unruhig. »Was wird das jetzt hier?« Meine Stimme klingt gereizt.
»Entspannung«, gibt er nur zurück, leckt über das Blättchen, der Joint ist fertig. Er beginnt, einen Zweiten zu bauen.
»Du, hör mal«, setze ich erneut an, bemerke gar nicht, dass ich ihn duze. »Mein Tag ist nicht lang genug für so was, ich bräuchte eigentlich noch vierundzwanzig Stunden mehr, um alles zu schaffen, bevor die Meute hier einfällt.« Er reicht mir einen Joint, steckt sich den anderen in den Mundwinkel, entflammt ein Feuerzeug und zieht genüsslich. Aromatischer Rauch hüllt uns ein. »Alle Tage sind gleich lang, nur unterschiedlich breit.«
»Mann, bist du schon dicht oder was?«, sage ich. Scheint heftiges Gras zu sein, wenn mir als Passivkonsumentin ganz schummerig vom Qualm wird.
»Ich bin dichter als Goethe.« Hä? Ich wende mich ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen zu, erneut verzögert beginnt er glucksend in sich hineinzulachen. Es klingt ein bisschen wie ein blubbernder, verstopfter Abfluss, aber saulustig, es ist ansteckend, meine Mundwinkel verziehen sich seit Tagen das erste Mal wieder nach oben. Einen Moment drehe ich den Joint zwischen den Fingern hin und her ... Das einzige Mal, dass ich gekifft habe, liegt fast zwanzig Jahre zurück. Nein, lass es, Ellen. Du hast zu tun ... Ob bis morgen der Cannabis-Gestank aus der Wohnung verschwunden ist? Ich lege den Joint auf den Tisch.
»Wie geht’s Lotti?«, frage ich.
»Bestens. Feines Mädchen, deine Schwester. Lässt dich grüßen«, brummt der Fremde und zieht an seiner Tüte. »Hab Tee mitgebracht. Entspannt auch.« Er weist auf die Thermoskanne. Weil ich nicht reagiere, beugt er sich langsam vor, dreht die Becherkappe ab und füllt etwas von der warmen Flüssigkeit hinein, reicht sie mir.
»Was ist das für Tee?«, frage ich und schnuppere daran.
»Bester Weihnachtstee«, erwidert er. Riecht ungewöhnlich, zimtartig-würzig-weihnachtlich, ich probiere einen Schluck. Mmh, lecker, denke ich, und leere den Becher in einem Zug. Er schenkt nach, und ich trinke wieder aus. Wohlige Wärme breitet sich in meinem Bauch aus, zieht bis in Arme und Beine. Lässt sie kribbeln.
»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«, frage ich.
»Sloth«, lispelt er. Ich wiederhole den ungewöhnlichen Namen zwei Mal, lispele schlimmer als er und muss plötzlich lachen, denn ich klinge wie Evelyn Hamann in dem Loriot-Sketch über die Ansage der englischen Serie: Auf dem Landsitz North Cothelstone Hall, von Lord und Lady Hesketh-Fortescue, befinden sich Meredith, Priscilla und Gwyneth aus Nether Addlethorpe ... Träge grinsend lehne ich mich zurück, höre Sloth ebenfalls leise lachen. »Lustig«, sagt er, und da merke ich erst, dass ich den Hamann-Text laut gesprochen habe. Eine erneute Lachsalve schüttelt uns. Mein Kopf ist herrlich frei, alberne Glückseligkeit durchströmt mich. Aber, da war doch was ... Die Familie kommt ... Die Arbeit ...
»Meine Chefin Dietlinde ist richtig mies.« Der Gedanke an die herrische Frau lässt mein Lächeln in sich zusammenfallen. »Letzten Monat hat sie meine Entwürfe als ihre eigenen ausgegeben, den Erfolg eingeheimst, und jetzt halst sie mir über Weihnachten die nächste Nuss auf, die ich für sie knacken soll.«
»Knack, Knack, Dicklinde klaut Ellens Nüsschen«, sagt Sloth und sein Körper bebt vom Glucksen. Er steckt sich den zweiten Joint an.
»Dicklinde«, pruste ich, wieder gutgelaunt. »Dicklinde Klauer-Elster.« Es macht Spaß, derart albern über den alten Drachen zu reden, der wirklich ganz schön dick ist.
»Warum arbeitest du noch für die?«, will Sloth mit schleppender Stimme wissen. Inzwischen fühle ich mich so gechillt, dass mein Kopf an seiner Schulter ruht, mit geschlossenen Augen, er riecht nach Gras, nach Wald und Zimt und nach ... nun, nach Sloth eben. Gemütlich.
»Sie hat versprochen, mir mehr Gehalt zu zahlen, wenn ich dieses Jahr alles gebe.« Nuschele ich etwa? Der Tee ... egal. Ich nehme Sloth den Joint aus den Fingern und ziehe daran. Muss fast husten, weil ich Nichtraucherin bin, behalte den Rauch aber lange in mir, ehe ich langsam ausatme und ihm die Tüte zurückgebe.

»Mmh«, brummt er. »Was musst du alles erledigen?« Ich zähle es ihm auf, weiß nicht, ob er meine mit schwerer Zunge vorgebrachte To-do-Liste überhaupt versteht. Wann habe ich das letzte Mal was gegessen? Der Hunger brüllt plötzlich in mir. Auch der Durst. Ich stehe auf, wandere in die Küche, öffne den Kühlschrank, sehe die Köstlichkeiten, die ich schon vorbereitet habe. Sloth steht hinter mir. Wir bedienen uns, essen gierig mit Fingern. Trinken Wasser wie Bergziegen.
Bleierne Müdigkeit überkommt mich mit einem Mal. Ich schleppe mich zurück zur Couch. Nur ganz kurz hinlegen ... Sloth schiebt mir ein Kissen unter den Kopf und deckt mich mit der Wolldecke zu, streicht mir sanft mit den Krallenhänden übers Haar. »Ruh dich aus, honey«, flüstert er dicht vor meinem Gesicht. »Ich kümmer‘ mich um alles. « Seine dunklen, feuchten Augen blinzeln mir  zu, dann bin ich eingeschlafen.

Ich erwache am nächsten Morgen, grell sticht mir das Tageslicht in die Augen, ich habe einen seltsamen Geschmack im Mund. Warum liege ich in den Klamotten von gestern auf der Couch? Himmel, es fällt mir wieder ein. Sloth, der Tee, der Joint. Heute ist Heiligabend!
»Sloth?«, rufe ich in die stille Wohnung. Keine Antwort. Er ist fort. Das Essen! Oh Gott, wir haben es uns mit Fingern in den Mund geschaufelt! Ich erhebe mich, schwanke leicht, der Kreislauf. Tappe in die Küche und ziehe den Kühlschrank auf. Die Auflauf- und Kuchenformen sind zwar nicht mehr so voll wie am Tag zuvor, aber ich kann keine verräterischen Löcher oder andere Spuren unseres Fressanfalls erkennen, hübsch dekoriert sind die Oberflächen der Speisen.
Wie spät ist es überhaupt? Was, schon elf Uhr? Die Panik springt mich wieder an. Ich muss jetzt saubermachen, zwei weitere Kuchen backen, die neuen Modeentwürfe in Angriff nehmen, Geschenke einpacken ... Ich eile zum Stapel von Geschenken in meinem Arbeitszimmer. Und halte ehrfürchtig inne. Alles ist ordentlich verpackt, mit Schleife und den Kärtchen, die ich - zum Glück  - schon mit Namen und Gruß beschriftet auf die einzelnen Präsente gelegt hatte. Auf dem obersten klebt ein gelber Zettel. Ich ziehe ihn ab und lese:
»Hi Ellen, staubsaugen und wischen lohnt nicht, es kommen acht Kinder. Dimme einfach das Licht. Carlotta sagte, Cora bringt immer Kuchen und Torten mit, also reichen deine drei. Eure Stiefmutter ist gar nicht so übel, meint Carlotta, will einfach nur beachtet werden. Füll die Großen mit Wein und Likör ab und lass Bob Marley laufen, dann sind sie happy. War lustig mit dir. Bist ein feines Mädchen, wie deine Schwester. Gechillte Weihnachten, Sloth«

Mit einem Grinsen, aber auch nachdenklich und mit einem warmen Gefühl in der Brust blicke ich auf seine Zeilen. Recht hat er ... so recht. Weshalb soll ich mich stressen oder ausnutzen lassen? Ich denke an Dietlinde Bauer-Elstner, für die ich - warum nur?? - einen superteuren Kaschmirschal gekauft habe. Ich geb’s zu, um mich einzuschleimen, was aber rein gar nichts bringen würde.
Dann denke ich an meine ständig wehleidige Stiefmutter, die mir bisher ziemlich auf die Nerven ging, und für die ich eine billige, schrecklich kitschige Rüschenbluse besorgt habe. Dabei ist sie gar nicht so übel, denkt zumindest Lotti. Einer Eingebung folgend, vertausche ich zwei Kärtchen auf den Präsenten. Nun, soll Cora den teuren Kaschmirschal erhalten und sich geschätzt fühlen. Und mein ausbeutender Drachen von Chefin die scheußliche Polyesterbluse mit dem Gruß: »Ich habe dieses Teil gesehen und gedacht: Das muss ich Ihnen, Dietlinde, kaufen. Es unterstreicht Ihre Persönlichkeit.« Ich lache laut auf, wenn ich mir ihr dämliches Gesicht vorstelle, wenn sie den Gipfel an Geschmacklosigkeit in Händen hält. Ich werde sowieso kündigen.
Sloth würde jetzt glucksen und mir zuzwinkern ...  Dann erst sehe ich, dass auf dem obersten Präsent mein Name steht. Ich greife danach und reiße das Geschenkpapier auf. Sein Weihnachtspullover! Chill out, it’s christmas!

Ich drücke ihn an mich, dann meine Nase tief in die Wolle. Rieche Gras, Laub, eine Prise Zimt - und Sloth.

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2019

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