»Wenn das ein Joke sein soll«, sagte Nelly, »dann ist er nicht lustig.« Tom legte seine Hand auf ihren linken Arm. Nadine legte ihre Hand auf ihren rechten - wie Buchstützen, die sie zusammenhielten.
Da saß sie in ihrem lächerlichen, kitschigen Weihnachtspullover, von dem sie bis vor zehn Sekunden gedacht hatte, er sei witzig. Aber sie hatte bis eben auch noch angenommen, mit Tom, Nadine und ihr sei alles in bester Ordnung.
»Es tut uns so leid«, erwiderte Nadine.
»So leid«, fiel Tom sofort ein, als würden die beiden ein Duett singen.
Sie saßen am großen Holztisch im Wohnzimmer, an dem sie meist gemeinsam aßen, Kundengespräche führten und oft zusammen Wein tranken und herumalberten. Toms Gesicht war leichenblass. Und Nadine hatte hektische, tiefrote Flecken am Hals. Für einen Moment zogen die Flecken Nelly in ihren Bann, als enthielten sie die Antwort. Schließlich schaute sie auf und bemerkte, dass Nadines Augen, diese sagenhaft schönen, aquamarinblauen Strahler, rot und wässerig waren (so ein fettes Mädchen und so wunderschöne Augen!, das hatten früher schon die Leute gesagt.)
Und sie sah, dass Nadine heute nicht ihren scheußlichen Weihnachtspulli trug, wie sie es immer an den Feiertagen taten. Beide machten sie sich jährlich auf die Suche nach dem ultimativ unmöglichsten Weihnachtspullover, wollten jeweils die andere an Kitschigkeit übertreffen und schütteten sich dann aus vor Lachen, wenn sie sich in den Dingern an Heiligabend gegenübertraten. So wie gestern auch. Aber jetzt, am ersten Weihnachtstag, hatte ihre Cousine einen enganliegenden, schwarzen Rolli angezogen, der ihre Kurven betonte.
»Also, ihr ... dass ihr beide ... « Nelly stockte und schluckte, ließ ihren Blick zum Weihnachtsbaum wandern, den sie vor vier Tagen gemeinsam geschmückt hatten. Es erschien ihr eine Ewigkeit her. Nelly heftete die Augen weiter auf den Baum, ertrug den Anblick der Verräter nicht, von denen sie geglaubt hatte, niemandem mehr vertrauen zu können als ihnen, ihrem Mann und ihrer Cousine, die zugleich ihre beste Freundin war.
»Wir wollen, dass du weißt, dass eigentlich nichts passiert ist«, sagte Nadine.
»Wir haben nicht ... du weißt schon«, ergänzte Tom.
»Ihr habt es also noch nicht miteinander getrieben.« Nelly sah, dass beide bei ihrer ordinären Wortwahl zusammenzuckten, aber auch stolz auf ihre Standhaftigkeit waren, und vielleicht erwarteten, dass Nelly sie dafür loben würde.
»Absolut nicht«, bekräftigte Tom.
»Aber ihr wollt es«, sagte Nelly. Sie musste fast lachen, derart absurd erschien ihr dieser Gedanke. »Das erklärt ihr mir doch gerade, oder nicht?« Geküsst hatten sie sich garantiert. Das war fast genauso schlimm, als hätten sie miteinander geschlafen. Jeder wusste, dass heimliche Küsse die erotischste Sache der Welt waren.
Die Flecken auf Nadines Hals verdunkelten sich, brannten jetzt auch auf ihren Wangen. Es sah aus, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
»Es tut uns so leid«, sagte Tom noch einmal. »Wir haben alles versucht ... damit es nicht passiert.«
»Haben wir wirklich.« Nadine nickte. »Monatelang, weißt du, wir haben ...«
»Monatelang? So lange geht das schon?!« Nelly konnte einen Moment kaum atmen, krallte ihre Finger unter der Tischplatte ineinander.
»Nein, eigentlich läuft nichts, wie wir sagten«, erklärte Tom feierlich.
»Na ja, irgendwie schon«, widersprach Nadine. »Es läuft schon was Ernstes zwischen uns.« Na, sieh mal einer an! Wer hätte gedacht, dass das ehemalige Mauerblümchen fähig war, in solch hartem Ton zu sprechen? Jedes Wort klang wie ein Betonklotz. Wir. Uns. Was für ein beschissenes Duett. Nelly bohrte sich die Nägel in die Handfläche, um nicht loszuschreien.
»Tut mir leid«, murmelte Tom. »Ich meine nur ...« Nadine legte sich die Finger auf die Augen und begann zu weinen. »Ach, Nell.«
Nellys Hand wanderte wie von selbst zu ihrer, um sie zu trösten. Sie waren so eng verbunden wie Schwestern. Ihre Mütter waren Schwestern, sie hatten immer alles gemeinsam gemacht. In der Schule hatte Nelly einmal einen Jungen verprügelt, der Nadine „fetter Baby-Elefant“ genannt hatte, was ziemlich genau beschrieb, wie ihre Cousine die gesamte Schulzeit über ausgesehen hatte. Sie hatte Nadine immer in Schutz genommen, die übergewichtige Ulknudel, die keiner wirklich mochte. Außer Nelly natürlich. Und später war sie eine „dicke Frau mit einem hübschen Gesicht“, trank Cola wie andere Wasser, stopfte sich mit Süßem und Fettigem voll, trieb nie Sport. Ihr Gewicht schien ihr nichts auszumachen.
Vor einem halben Jahr etwa war Nadine plötzlich den Weight Watchers beigetreten, hatte sich im Fitness-Studio angemeldet, vierzig Kilo abgespeckt und wurde schön. Atemberaubend schön, genau die Frau, die man in The Biggest Loser sehen will. Und Nelly hatte sich wahnsinnig für sie gefreut.
»Jetzt lernt sie vielleicht einen echt netten Typen kennen«, hatte sie zu Tom gesagt. »Sie hat viel mehr Selbstbewusstsein.«
Und siehe da, Nadine hatte einen echt netten Typen aufgerissen. Tom. Den nettesten Typen, den Nelly kannte. Es brauchte schon eine Riesenportion Selbstbewusstsein, um der eigenen Cousine und besten Freundin den Mann auszuspannen.
»Und das sagt ihr mir an Weihnachten?«, platzte es aus Nelly heraus. »Gestern hatten wir drei einen so lustigen Abend, ich ... « Sie verstummte, ihre Brust schmerzte von einem unsäglichen Druck, Tränen brannten in ihren Augen. Doch sie wollte sich nicht die Blöße geben, zu weinen. Wenn sie einmal damit anfinge, würde sie nicht mehr aufhören können.
»Es tut mir so wahnsinnig leid«, heulte Nadine. Nelly zog ihre Hand zurück. Tom legte den Kopf in den Nacken und starrte mit angespanntem Gesicht an die Decke, versuchte krampfhaft, nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Das letzte Mal, als Nelly ihn weinen gesehen hatte, war der Moment gewesen, als Emily auf die Welt gekommen war und er ihre gemeinsame Tochter in seinen Armen gehalten hatte.
»Wann ist schon der richtige Zeitpunkt. Jetzt haben wir alle frei, müssen nicht mit Kunden sprechen. Nadine und ich dachten, das ...«
»Sei einfach still!«, fuhr Nelly ihn an. Nadine und ich ... Ihre Augen waren jetzt wieder trocken, aber ihr Herz hämmerte wild, als hätte sie Todesangst. Ihre gemeinsame Firma, die Werbeagentur. Wie sollte es jetzt weitergehen? Vorgestern hatte sie noch über der Kampagne für neue Vitaminbonbons gebrütet und währenddessen hatten sich Tom und Nadine bereits verliebt über ihre Schreibtische angesehen. Unbemerkt von ihr. Waren sie derart geschickt oder sie einfach nur blind gewesen?
Nelly spürte, dass der Zorn sie gleich packen würde, ein gewaltiger Zorn, der furchtbarer war als alles, was sie je erlebt hatte. Er schwelte in ihr und konnte sich entladen wie ein Feuerball und alles rundherum zerstören. Darum stand sie auf und entfernte sich ein paar Schritte. Stellte sich vor das Whiteboard, auf dem sie alle ihre Ideen für die Kampagne notiert hatten. Sah auf ihre eigene krakelige Schrift, sie hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, den Vitaminbonbon-Auftrag zu einem Erfolg zu machen. Die letzten Sätze hatte sie erst vorgestern geschrieben, als sie von dem süßen Geheimnis, das Tom und Nadine teilten, rein gar nichts geahnt hatte. Ob sie hinter ihrem Rücken Blicke getauscht und sich flüchtig, aber zärtlich berührt hatten, als sie ihre Stichpunkte auf die Tafel notierte?
Letztes Weihnachten hatte Nadine noch Kleidergröße 48/50 getragen, unter anderem einen sackartigen, haarsträubenden Weihnachtspullover, auf dem der Grinch abgebildet war. Jetzt saß sie da, schön und anmutig, in ihrem schwarzen Seidenrolli. Als wollte sie Nelly in ihrem peinlichen Strickteil noch lächerlicher machen, als sie es ohnehin schon war. Wieso habe ich nichts gemerkt?
Nellys Aufgabenbereich in ihrer kleinen Firma brachte es mit sich, dass sie häufig außer Haus war, während die beiden oft stundenlang allein im Büro waren. Doch das hatte ihr keine Sorge bereitet. Nadine war wie ihre Schwester. Wie Toms Schwester.
Nun wandte sie den Blick vom Whiteboard ab und drehte sich um, fühlte sich wackelig auf den Beinen, kehrte zurück an den Tisch und setzte sich. Sie wählte aber einen Stuhl am anderen Ende, weit weg von den beiden, versuchte, sich zu sortieren, und trotz der schlabbrigen Jogginghose und des unmöglichen Weihnachtspullovers etwas würdevoll auszusehen. Oben lag ihre Tochter Emily in ihrem Bett und träumte von ihren Weihnachtsgeschenken. Wie würde sie es wohl finden, wenn ihr Vater und „Tante Nadine“ sich küssten ... Stopp! Hör auf damit!
Sie hatte der Tochter vorhin oben im Kinderzimmer vorgelesen, hatte daran gedacht, ihr ein weißes Hochbett zu kaufen - alle Mädchen im Kindergartenalter wollten ein Hochbett mit Rutsche haben -, als Tom ins Zimmer geguckt und sie leise gebeten hatte, gleich, wenn Emily schlief, nach unten zu kommen.
Nadine und Tom hatten am Besprechungstisch gesessen und sie erwartet. Bevor Nelly Platz genommen hatte, war sie herumgegangen und hatte rasch die Kaffeebecher weggeräumt, die überall im Büro herumstanden. Nadine hatte die Angewohnheit, sich ständig frischen Kaffee aufzubrühen, die halbvollen Tassen dann aber irgendwo stehen zu lassen. Nelly hatte alle Becher nebeneinander auf den Tisch gestellt und sich gesetzt.
»Neuer Rekord, Cousinchen, acht halb ausgetrunkene Tassen«, hatte sie gewitzelt.
Aber die hatte nichts gesagt. Hatte Nelly nur seltsam mitfühlend angesehen. Und dann hatte Tom diese ungeheuerliche Eröffnung von sich gegeben: »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ... Aber Nadine und ich haben uns ineinander verliebt.«
»Sehr lustig.« Sie hatte die Kaffeetassen zusammengeschoben und gegrinst. »Saulustig.«
Doch es schien kein Witz zu sein.
Jetzt legte sie ihre Hände auf die Tischplatte, sah auf ihren breiten, goldenen Ehering, den ihr Tom vor zehn Jahren mit Liebe in den Augen auf den Ringfinger geschoben hatte, den sie nie ablegte. Nelly blickte auf und bemerkte, wie Nadine und Tom verstohlene, besorgte Blicke tauschten.
»Es ist also die wahre Liebe?«, fragte sie. »Ihr seid Seelenverwandte, was?«
In Toms Gesicht zuckte ein Muskel, Nadine zupfte an ihren Haaren. Ja. Das war es, was beide dachten. Ja, es ist wahre Liebe. Wir sind Seelenverwandte.
»Wann genau hat es denn angefangen? Wann waren da diese Gefühle zwischen euch?«
»Ist doch egal«, sagte Tom schnell.
»Nein, ist es nicht!« Nellys Stimme schwoll an.
»Ich weiß nicht genau, vor fünf Monaten etwa«, murmelte Nadine und sah dabei auf den Tisch.
»Also, als du gerade begonnen hattest so viel abzunehmen«, stellte Nelly fest. Nadine zuckte mit den Schultern.
»Witzig, dass du sie nie angesehen hast, als sie noch fett war, Tom.« Die bittere Schärfe purer Gehässigkeit stieß aus Nellys Mund. Derart boshaft war sie nie zu ihrer Cousine gewesen. Hatte sie nie als „fett“ bezeichnet, nie ein kritisches Wort über ihr Gewicht verloren. Sie wäre stattdessen jeden angegangen, der es gewagt hätte, so über Nadine zu sprechen.
»Nelly, bitte ... «, sagte Tom, seine Worte klangen wie ein sanftes, verzweifeltes Flehen.
»Schon okay«, meinte Nadine. »Geschieht mir recht. Geschieht uns beiden recht.«
Sie hob ihr Kinn und sah sie tapfer an. Uns. Wir. Immer wieder. Lancelot und Guinevere, so sahen sie sich anscheinend, eine tragische, aber reine Liebe. Und sie, Nelly, sollte den alten, gehörnten Artus geben? Never ever! Sie schluckte ein hysterisches Auflachen hinunter. Ihr war gerade danach, die beiden zu beißen und zu kratzen, und sie würden es wehrlos über sich ergehen lassen. Sie sahen ihre Schuld ein, hatten Verständnis für ihre Wut, waren zwei grundgute Menschen, sodass am Ende Nelly als die Böse dastand und nicht sie. Nein, sie hatten nicht miteinander geschlafen, hatten sie also nicht wirklich betrogen. Sie hatten sich ineinander verliebt, das war keine gewöhnliche, schmutzige, kleine Affäre. Es war Schicksal. Niemand konnte es ihnen übelnehmen. Genial!
»Warum hast du es mir nicht unter vier Augen gesagt?« Nelly versuchte, Toms Blick einzufangen, als könnte sie ihn so zurückholen. In seinen braunen Augen stand normalerweise ein Lachen, mit dem er der Welt entgegenstrahlte. Immer gelang es ihm, dem Alltag etwas Lustiges abzugewinnen. Eine Seite an ihm, die sie besonders liebte. Doch jetzt sahen sie seine Augen bittend an. Erinnerten sie an die ihrer Tochter, wenn sie im Supermarkt unbedingt etwas haben wollte. Bitte, Mami, ich will diese Süßigkeiten.
Bitte, Nelly, ich will deine zuckersüße Cousine, ich habe versprochen, dir treu zu sein, in guten und schlechten Zeiten, aber bitte, bitte, bitte!
Nein. Die kriegst du nicht. Niemals.
Warum, Tom? Ich dachte, unsere Ehe wäre gut. Wir haben zusammen gelacht, Sorgen geteilt, der Sex war doch super, du hast nichts Gegenteiliges geäußert oder dir anmerken lassen. Verdammt, du hast erst gestern gesagt, du liebst mich! Warum also, Tom?!
»Wir wollten es dir beide gemeinsam sagen. Wir konnten nicht ... Wir dachten nur, dass wir nicht länger so weiter machen können, ohne dass du davon weißt ...« Wir. Wenn sie noch ein einziges Mal wir sagten, würde sie explodieren. Sie hatten darüber gesprochen. Ohne sie. Nun, natürlich ohne sie. Sie hatten sich ja schließlich auch ohne sie ineinander verliebt.
»Ich dachte, ich sollte dabei sein, wenn er es dir sagt«, warf Nadine ein.
»Ach, dachtest du?« Nelly konnte es nicht ertragen, Nadine in ihre blauen Augen zu sehen. »Und was passiert als Nächstes?«
Mit dieser Frage stieg eine neue Welle der Übelkeit in ihr auf. Das war doch alles nicht zu glauben! Gleich würden sie loslachen und gestehen, dass das nur ein dummer Witz war, sie würden Gläser und eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank holen, sich gemeinsam eine Folge „Monk“ oder „Der Mentalist“ im Fernsehen anschauen und später über potentielle Männer für die erschlankte Freundin sprechen. Tom und sie hatten sich schon viele Konstellationen ausgemalt: Nadine und ihr Kundenbetreuer bei der Bank. Der große, ruhige Paketbote. Der Single-Nachbar. Aber niemals hatte Tom sich an die Stirn gefasst und gesagt: „Mensch, ich hab’s! Wie hatte ich das nur übersehen können? Ich wäre der perfekte Mann für sie!«
Oh Gott, was bin ich für eine Witzfigur!
Während sie mit ihrem Mann über mögliche Liebhaber für ihre Cousine sinnierte, hatte er mit eben der geflirtet, Herzklopfen verspürt, steigende Sehnsucht ... Wahrscheinlich sogar mit geschlossenen Augen an die aufgeblühte Frau in der Wohnung über ihnen gedacht, wenn er mit ihr, Nelly, schlief. Ihre Gedanken rasten. Es ging auch um Emily.
Ihre eigenen Gefühle waren unwichtig. Wie war ihre Beziehung zu retten? Wie konnte sie es aufhalten?
»Nie wollten wir, dass das passiert.« Ihr Mann sah sie mit großen, unschuldsvollen Augen an. »Und wir wollen das Ganze anständig über die Bühne bringen. Wir haben uns auch gefragt ... « Wir!
Nelly ballte die Hände, sah, dass Nadine rasch einen Blick mit Tom tauschte und leicht mit dem Kopf schüttelte.
»Was? Was habt ihr euch gefragt?«, hakte sie nach. Hier war ein weiterer Beweis dafür, dass die beiden oft darüber gesprochen hatten. Mit Intensität, begleitet von feuchten Augen, die bewiesen, welch anständige Menschen sie waren, wie sehr sie doch litten bei der Vorstellung, Nelly zu verletzen, aber sie hatten doch keine andere Wahl angesichts ihrer Leidenschaft, ihrer Liebe ...
»Es ist noch zu früh, zu sagen, wie es jetzt mit uns weitergehen soll.« Nadines Stimme klang plötzlich viel fester. Nelly grub ihre Fingernägel in die Handflächen. Was fiel ihr ein! Wie konnte sie es wagen, so lässig daher zu reden, als wäre dies eine ganz normale Situation, als sprächen sie über die Arbeit?
»Was habt ihr euch gefragt?«, wiederholte sie, ihre Stimme klang wie eine Messerschneide, die auf Eis kratzt. Sekundenlanges Schweigen. Ihre Augen ruhten auf Tom, dessen Gesichtsfarbe von weiß zu rot wechselte, ehe er sich räusperte.
»Wir haben uns gefragt, ob es nicht möglich wäre, dass wir ... nun, dass wir alle hier zusammen wohnen bleiben. Auch Emily zuliebe. Es ist ja nicht Schluss im eigentlichen Sinne, wir sind doch eine Familie. Unsere Firma muss weiterlaufen. Und deshalb haben wir gedacht ... ich meine, klingt ein bisschen seltsam, aber vielleicht wäre es das Beste. Für uns alle.«
Nelly brach in schallendes Gelächter aus. In ein hartes, kehliges Gelächter. Ja, waren die beiden denn komplett verrückt?
»Ihr meint, ich ziehe einfach aus dem Schlafzimmer aus, und sie zieht ein? Und Emily sagen wir: ‚Mach dir keine Sorgen, Schatz, Papa schläft jetzt mit Nadine und Mami oben in deren Wohnung, aber alles ist okay? Habt ihr euch das so vorgestellt?!«
Nadine wirkte beschämt. »Natürlich nicht.«
»Wenn du das so sagst ... «, hob Tom an.
»Wie soll ich es denn sonst ausdrücken?«, fuhr Nelly ihn an. Er atmete hörbar aus. »Sieh mal, wir müssen doch nicht alles heute Abend regeln.« Mit einem Mal sprach er in einem Tonfall zu ihr, als wäre sie ein bockiges Kind. Was bildete er sich bloß ein! Nelly hob die Arme, schlug mit geballten Fäusten auf den Tisch, so fest, dass er wackelte, dass die Kaffeebecher klirrten. Das war eine Premiere, so etwas hatte sie nie zuvor getan. Es fühlte sich fast befreiend an, diese Entladung, und es freute sie, zu sehen, wie Nadine und Tom die Köpfe einzogen.
»Ich werde euch sagen, was als Nächstes passiert«, sagte sie, denn auf einmal war alles sonnenklar. Ganz einfach.
Sie sollten ihre Affäre ausleben. Je eher, desto besser. Was da zwischen ihnen schwelte, musste seinen Lauf nehmen, Wirklichkeit werden. Es war süß und verlockend, sie waren zwei darbende Liebende, Lancelot und Guinevere, edler Ritter und Edeldame, voller Sehnsucht. Nur Artus-Nelly stand zwischen ihnen. Die Liebe musste gelebt werden, hitzig werden, klebrig und schmutzig. Bis sie schließlich - hoffentlich, das wünschte sie - banal und alltäglich werden würde. Tom liebte seine Tochter, und Nelly wusste, dass er eigentlich auch sie liebte. Hatte sich der Nebel des Verlangens, der Lust, erst einmal gelichtet, würde er erkennen, dass er einen schrecklichen, aber keinen irreparablen Fehler begangen hatte. War ihre Ehe dann noch zu retten?
Das Beste, was Nelly jetzt tun konnte, war sie fortzuschicken, und zwar sofort. Auch wenn es ihr das Herz brach, sich alles in ihr dagegen sträubte. Nadine schien zu spüren, dass eine Veränderung in ihr vor sich ging. Klar, wenn nicht sie, ihre engste Vertraute, wer dann?
»Was ist mit dir?«, fragte sie. Nelly ignorierte sie. Die Rolle der besorgten besten Freundin stand ihr nicht mehr zu. Sie war nun die „andere Frau“. Und sie, Nelly, war die Ehefrau, wollte für diese Position kämpfen. Sich selbst und Emily zuliebe. Letztendlich auch Tom zuliebe, der gerade den dümmsten Fehler seines Lebens beging. Sie würde die Schlacht schlagen und siegen.
Wieder bemerkte sie, wie Nadine und Tom heimliche Blicke tauschten, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Übelkeit stieg in ihr auf, aber sie verlieh ihrer Stimme einen gefassten Klang.
»Tom, du packst jetzt eine Tasche und ziehst vorerst zu Nadine nach oben ...«
»Nell«, fiel ihr Nadine ins Wort. »Du reagierst gerade total über ...« In Nellys Augen zog eine eisige Kaltfront ein, als sie ihrer ehemals besten Freundin das Gesicht zuwandte und diese musterte, es brachte sie zum Schweigen.
»Dann bin ich euch aus dem Weg«, fuhr Nelly an Tom gewandt fort. »Ihr beide sollt es endlich miteinander treiben können.« Böse Worte prickelten ihr auf der Zunge. Für Nadine: Er mag es, wenn du oben bist. Ein Glück, dass du abgespeckt hast.
Für Tom: Nun ja, sie hat viele Dellen und Dehnungsstreifen. Schau einfach nicht genau hin.
Doch dazu würde sie sich nicht herablassen. Aber ganz ohne Stichelei ging es nicht. Also stand sie auf, zog sich den peinlichen Weihnachtspulli über den Kopf und warf ihn vor Nadine auf den Tisch. »Den darfst du auch haben, zusätzlich zu meinem Mann. Jetzt passt du ja hinein.« Ihre ehemals beste Freundin presste nur die Lippen zusammen.
»Nun, Tom, geht jetzt und lebt eure Fantasien aus. Wenn ich gleich vom Klo wiederkomme, seid ihr bitte verschwunden.« Fast war sie ein wenig Stolz auf die Ruhe, mit der sie sprach.
Sie begann, Nadines leere Kaffeetassen aufzunehmen, flocht ihre Finger durch so viele Henkel, wie sie konnte. Dann überlegte sie es sich anders und stellte die Becher wieder ab.
Während ihr Tom und Nadine stumm zusahen, wählte sie die zwei vollsten aus, hob sie hoch und schleuderte den beiden treffsicher den Inhalt entgegen - mitten in ihre dämlichen, ernsten Visagen.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2019
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