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Tante Eleonore

„Schon wieder nichts gewonnen.“ Herbert knüllt den Lottoschein zusammen und wirft ihn wütend auf den Tisch.

„Du erwartest doch nicht allen Ernstes, irgendwann einmal zu gewinnen?“ frage ich erstaunt.

„Würde ich sonst spielen“, blafft er.

Es ist sein Hobby, Zahlen zu errechnen, die dann doch nicht gezogen werden. Sicher sehr enttäuschend. Mir erscheint seine Wahrscheinlichkeitsrechnerei ziemlich suspekt. Insgeheim denke ich, dass er Woche für Woche die Zahlen zu hypnotisieren versucht - augenscheinlich umsonst.

Ich verdiene mein Geld durch meiner Hände Arbeit. Glücksspiel ist nichts für mich. Und wenn ich Herberts missmutiges Gesicht betrachte, dann ist es auch nichts für ihn. Ein Steckenpferd sollte glücklich machen und den Alltag vergessen lassen. Trotzdem verstehe ich ihn.

Auch ich habe meine Träume …

Ich möchte sie niemand erzählen. Auch Herbert nicht. Selbst nach 45 Jahren Ehe, scheue ich mich, solche Dinge mit ihm zu teilen. Vielleicht habe ich Angst, dass er sie mit einer barschen Handbewegung vom Tisch fegt oder sie laut verlacht. Ich wäre verletzt und wüsste nicht, ob ich ihm das verzeihen könnte.

„Und was, wenn du wirklich gewönnest?“, bohre ich in der offenen Wunde. Sie würde in den nächsten Tagen an den Rändern verkrusten, wenn neue Zahlen aus seinem errechneten System hervorsprängen. Heilen würde sie nie, weil sie Woche für Woche wieder aufgerissen wird.

„Gewönne, gewönne …“, äfft mich Herbert nach und funkelt mich böse an. “Was für ein blödes Wort.“

„Ja, was würdest du mit einem Koffer voller Geld machen?“ Blanke Neugier liegt in meiner Stimme. Ich kenne seine geheimsten Wünsche genauso wenig wie er meine. Unser gegenseitiges Vertrauen schien ordentlich zu hinken. Das stimmt mich traurig. Wann genau es abhandengekommen ist kann ich nicht sagen oder es ist nie eine tragende Säule unserer Beziehung gewesen. Bei diesem fatalen Gedanken driftet meine Traurigkeit in absolute Erschütterung ab. Und das nur einer simplen Frage wegen.

Herbert wiegt bedächtig den Kopf hin und her. Zwischendurch schaut er mich an. Fragend, ob er mir das anvertrauen kann. Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich zurück. Unsere Blicke verfangen sich ineinander … halten sich fest. Für einen Moment entdecke ich meinen Herbert wieder. Zugeschüttet unter der Monotonie des Alltags mit seiner erschreckenden grauen Gleichgültigkeit sehe ich ein fürsorgliches Gesicht und ein liebevolles Lächeln aufblitzen. Wann genau habe ich es nicht mehr gesehen und irgendwann einfach vergessen? Dann war es vorbei. Ein wunderschöner Augenblick. Ob ihn Herbert ebenso empfunden hat?

Meine Frage hat er wohl vergessen. Ich bekomme keine Antwort.

 

***

 

Es klingelt. Der Postbote hält mir ein Einschreiben unter die Nase. Ich kann mir nicht vorstellen von wem.

Ein Notartermin. Tante Eleonore ist verstorben. Ich kenne keine Tante Eleonore. Sicher eine Verwechslung.

„Ich habe was geerbt.“, erkläre ich Herbert mit einem Augenzwinkern. „Von Tante Eleonore.“

„Wer ist Tante Eleonore?“

„Das weiß ich doch nicht. Sicherlich eine Verwechslung.“

 

***

 

Herbert möchte nicht mit zum Notar. Er wartet lieber im Auto.

„Vermutlich hat dir deine imaginäre Tante irgendwelchen Klimbim hinterlassen.“, feixt er hinter mir her und schlägt sich dabei lachend auf die Schenkel. Ich hätte mir mehr Einfühlungsvermögen gewünscht. Noch nie war ich bei einer Testamentseröffnung. Ich bin sehr aufgeregt.

Ein sehr seriös wirkender Herr bittet mich, ihm gegenüber am Schreibtisch Platz zu nehmen. Sein Gesichtsausdruck ist ernst. Meiner auch. Vorsichtshalber – ich weiß ja nicht was mich erwartet.

Und dann stellt sich heraus, dass es kein Irrtum ist. Keine Verwechslung. Tante Eleonore ist eine entfernte Cousine meiner Mutter gewesen. Ich weiß nicht, ob sie den Namen jemals erwähnt hat. Daran erinnern kann ich mich nicht.

„Frau Eleonore Weißenstein macht sie, Frau Erika Baumgarten, als ihre nächststehende Verwandte, zur Alleinerbin.“

Sicher sehe ich im Moment etwas dümmlich aus, denn ich lausche mit offenem Mund den Worten des Notars und versuche, deren Sinn zu verstehen. Alleinerbin.

Erika Baumgarten, die Alleinerbin.

Wie sich das anhört. Ob sie ein wenig Geld auf der Hohen Kante hatte? Umsonst säße ich doch sicherlich nicht hier. Ich könnte eine neue Waschmaschine gut gebrauchen.

„Frau Eleonore Weißenstein verfügte über ein nicht unerhebliches Vermögen. Wie sich das zusammensetzt entnehmen sie bitte diesem Schreiben.“ Mit starrer Miene schiebt er einen Umschlag über den Schreibtisch.

Ein nicht unerhebliches Vermögen. Was heißt das denn genau? Meine Beine fangen an zu zittern, Unmengen von Speichel sammelt sich in meinem Mund und ich habe große Mühe ihn weg zu schlucken. Ich bin in einem Ausnahmezustand und es ist schier unmöglich mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Auch nicht auf den Notar und den Umschlag, der jetzt einfach so vor mir liegt.

„Bitte!“, unfähig eines weiteren Wortes schiebe ich ihn zurück.

Der Notar räuspert sich und nimmt eine offizielle Haltung ein.

„Zum Umfang des Vermögens gehören 982.000 Euro in Aktien und Wertpapiern, ein paar kleinere Immobilien, 250.000 Euro in bar zur sofortigen Verfügung und ein Haus in den Dolomiten mit dazugehörigem Land und kleinem See.“

In meinen Ohren rauscht und pfeift es. Sicher ein Tinnitus, den mir der Notar mit dieser unglaublichen Eröffnung gerade angehext hat. Gerne hätte ich gefragt, ob er das noch einmal wiederholen kann. Doch das traue ich mich nicht.

„Ich war noch nie in den Dolomiten.“, denke ich.

Wie in Trance verlasse ich das Gebäude, den Umschlag in der Tasche. Das Rauschen und Pfeifen in meinen Ohren will einfach nicht aufhören. Ich bin froh, dass Herbert mitgekommen ist.

 

***

 

Blind und taub stakse ich am Auto vorbei und merke es gar nicht.

„Erikaaaaaaaa, wo rennst du denn hin.“

Herbert hat die Autoscheibe runtergekurbelt und ruft hinter mir her. Wirklich ein Glück, dass er dabei ist, ich wäre wer weiß wohin gelaufen. Stumm lasse ich mich auf dem Beifahrersitz nieder. Noch immer unfähig irgendetwas zu sagen. Mein Mann deutet das Schweigen anders.

„Habe ich es doch gewusst. Ein Karton voller Nippes.“ Mit einem zufriedenen Nicken unterstreicht er seine Worte.

„Herbert …“ Meine Zunge klebt jetzt am Gaumen fest. Alle Spucke ist verschwunden. Mein Mund ist staubtrocken.

„Mach dir nichts draus.“, liebevoll tätschelt er meine Hand. „Ich bin sicher, dass ich demnächst gewinne. Ich habe da ein richtig gutes Gefühl. Als erstes bekommst du dann eine neue Waschmaschine.“

Er schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln.

Ich nicke.

Das Auto ist nicht der richtige Ort eine solch große Sache auszusprechen. Zu so einem Ereignis gehört wenigstens ein Gläschen Sekt. Das Rauschen in meinen Ohren wird weniger. Die Gedanken klarer. Doch das Begreifen selbst liegt irgendwo in der Ferne.

Eine Waschmaschine … nur eine? Das bringt mich zum Lachen. Es ist kein gesundes Lachen. Ein hysterischer Krampfanfall. Mein Körper wird wellenartig geschüttelt. Meine Stimme kreischt in unerträglichen Höhen. Tränen rinnen unaufhörlich über mein Gesicht, ich pruste, japse, verschlucke mich und schnappe nach Luft. Ich bin kurz vor dem Ersticken.

Herbert steuert das Auto hektisch in eine Halteverbotszone und versucht mir auf den Rücken zu klopfen. Der Gurt ist dabei sehr hinderlich. Endlich wird das Atmen leichter.

„Erika, was ist denn los?“, besorgt streichelt er meine Wange.

Mein Verhalten ist sehr verwirrend für ihn. Ich verstehe das. So habe ich mich noch nie aufgeführt. In keinem unserer 45 Ehejahren.

Ich kann nicht warten bis wir zu Hause sind. Auch wenn es die größte Sache meines Lebens ist und ich das Auto nicht passend für solch eine Eröffnung halte, ist genau jetzt der richtige Moment. Ich kann es keine Minute länger für mich behalten.

Zittrig fingere ich den Umschlag aus meiner Tasche.

„Mein Erbe.“, ist alles was ich sagen kann.

Verunsichert öffnet Herbert den Umschlag. Gebannt starre ich ihn an. Neugierig auf seine Reaktion. Noch nie habe ich jemand gesehen, der im Sekundentakt die Gesichtsfarbe wechselt. Am Ende siegt die Blässe. 

„Dass er mir nur nicht ohnmächtig wird“, denke ich.

Der Vermögensaufstellung liegen drei Fotos bei. Es zeigt das kleine Anwesen mit dem See aus verschiedenen Perspektiven. Ich habe sie auf dem Armaturenbrett ausgebreitet. Eine lange Weile betrachten wir die Bilder. Stumm und sichtlich ergriffen. Ich denke an Tante Eleonore. Was war sie für ein Mensch? Ob ich sie gemocht hätte? Wo hat sie gelebt. In diesem Haus in den Dolomiten? Ob wir künftig dort leben möchten? Was macht man mit so viel Geld? Was machen wir mit so viel Geld? Gibt es dann überhaupt noch Träume? Werden wir glücklicher sein? Werden wir uns verändern? Und für einen Moment möchte ich, dass alles so bleibt wie es ist. Ohne Geld und Dolomiten. Nur Herbert und ich … im grauen Alltag.

Ich nehme seine Hand. Die Finger sind eiskalt und in seinen Augen sehe ich ungläubiges Staunen … und ein paar Tränen, die er verlegen eilig über sein Gesicht wischt. Seine Wangen haben wieder eine rosige Farbe angenommen. Einem Impuls folgend küsse ich ihn fest auf den Mund. Ich spüre seine weichen Lippen und die Bartstoppeln an seinem Kinn. Es fühlt sich an wie es muss. Vertraut und richtig. Ich bin erleichtert. Wir sind immer noch wir.  

 „Herbert, wir sind reich. Richtig reich“, flüstere ich.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.11.2019

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