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Ein perfekter Plan

Walter lächelte in sich hinein, während er den Wagen über die verlassene Landstraße lenkte, die sich durch die Berge schlängelte. In seinem Blut tanzte das Adrenalin Samba, immer wieder musste er sich zur Ruhe mahnen.

Bisher verlief alles nach Plan, denn er war zeitig genug losgefahren. Natürlich hatte er noch so lange warten müssen, bis das Schlafmittel, das er Bärbel in ihrer abendlichen Tasse Darjeeling-Tee verabreicht hatte, die gewünschte Wirkung zeigte. Erst als seine Frau auf der Couch zurückgesunken war, und - einem Walross auffallend ähnlich - mit offenem Mund schnarchte, hatte er sich davon gestohlen.

 

Jetzt war er fast am Ziel angekommen und parkte den Wagen in dem Wäldchen, das sich neben dem großen Ferienhaus seiner Tante Hildegard erstreckte. Den restlichen Weg legte Walter zu Fuß zurück, bis er das alte Gemäuer am Tristacher See erreichte. Kurz sah er hinaus auf das von den Lienzer Dolomiten umsäumte, friedlich in der Dämmerung liegende Gewässer. Abendliche Stille. Die Tannen und das gegenüberliegende Ufer waren nur als dunkle Schemen zu erkennen. Nun, mit diesem Frieden würde es bald vorbei sein …

 

Hin und wieder verbrachte Tante Hildegard ein Wochenende hier, für gewöhnlich residierte sie in ihrer Gründerzeitvilla in Innsbruck. Seit dem Ableben ihres Gatten, des Stahlmagnaten, dem sie ihren Reichtum verdankte, lebte sie allein in dem Anwesen. Und genauso allein hielt sie sich momentan auch hier auf.

Schon als junge Frau war sie eine unausstehliche Person gewesen, was sich mit zunehmendem Alter gesteigert hatte. Diesen Wesenszug hatte Walter über einen langen Zeitraum, wenn auch unter Zähneknirschen, hinnehmen können, zumal er sie nur selten besuchte. Beim letzten gemeinsamen Dinner war sie jedoch entschieden zu weit gegangen.

»Ich werde dich enterben, du nutzloser Trottel!«, hatte sie Walter geschworen, allein, weil er versehentlich eine ihrer kitschigen Meissener Figuren zerbrochen hatte. Diese Drohung setzte ihn unter Zugzwang. War er doch seit jeher im Umgang mit Geld äußerst leichtsinnig, obwohl er als Versicherungsagent keineswegs fürstlich verdiente. Dadurch hatte er sich von Tantes Gunst und ihren launenhaften Zuwendungen abhängig gemacht.

 

Unerträglich war dieser Zustand aber erst geworden, als er vor einigen Monaten Gina kennen und lieben gelernt hatte, dem anbetungswürdigen Geschöpf komplett verfallen war, es seitdem mit Luxusgeschenken überhäufte. In einem Anflug von Wahnsinn hatte er ein exklusives Salzburger Stadtappartement gemietet, welches den Ansprüchen seiner jungen Geliebten gerecht wurde.

Jetzt wuchsen ihm die Schulden über den Kopf. Außerdem bestand Ginas sizilianisch-stämmige Familie darauf, dass er sie ehelichte. Ihre beiden älteren Brüder hatten ihm das – obwohl sie nur wenige Worte gebrauchten - unmissverständlich klar gemacht.

Somit musste er das aufreibende Versteckspiel schnellstmöglich beenden. Ginge es nach ihm, würde er eine rauschende Hochzeit mit Gina feiern und sich dann mit seiner neuen Frau irgendwo im Süden niederlassen, den Herbst seines Lebens in vollen Zügen genießen. Aber dafür musste er nicht nur seine jetzige Gattin, die langweilige und mit wenig Intelligenz gesegnete Bärbel, loswerden.

Nein, für seinen Plan brauchte er auch Unmengen an Geld. Walter war Realist genug zu wissen, dass ihn die betörende Gina sofort zum Teufel jagen würde, käme sie dahinter, dass er ihr seinen Reichtum nur vorgegaukelt hatte. Er durfte sie nicht verlieren! Er wollte sie heiraten, den Jungbrunnen an sich binden!

 

Dieser Gedanke verlieh Walter die nötige Entschlossenheit für sein Vorhaben, als er nun die Augen vom schimmernden See löste und auf den Eingang des Hauses zuschritt.

»Diesen alten Kasten werde ich sofort verkaufen, wenn ich mein Erbe antrete. Viel zu einsam hier«, dachte er, als er den Klingelknopf drückte. Erst nach dem dritten Läuten öffnete Hildegard, in einem Kleid, das aussah, als hätte es ein hyperaktives Kind mit Fingerfarben bemalt. Wie erwartet, rief der von ihm lang geplante Überraschungsbesuch bei »Tantchen« keine Freude hervor.

»Was willst du denn hier um diese Zeit?«, blaffte sie zur Begrüßung. »Brauchst nicht glauben, dass ich mich davon abbringen lasse, dich aus dem Testament zu streichen! Nächste Woche ist der Termin beim Notar.«

»Aber, aber, Tante Hildegard! Ich bin nur gekommen, um unser Verhältnis wieder zu verbessern. Mir geht es doch nicht ums Geld«, log er.

 

Nach weiteren Beschimpfungen, denen er mit beschwichtigender Höflichkeit begegnete, bat sie ihren Neffen widerwillig auf eine Tasse Tee in das Esszimmer.

Während sie auf ihre umständliche Art und mit grimmigem Ausdruck in ihrem Bulldoggengesicht das Service aufdeckte, schrillte irgendwo ein Telefon. Hildegard verließ den Raum und gab Walter Zeit, sich seinen Plan nochmals vor Augen zu führen. Da es sein erster Mord werden sollte, hatte er sich die wichtigsten Punkte in sein geheimes Notizbuch notiert. Ihm war klar, dass er, der Alleinerbe, sofort als Hauptverdächtiger in den Fokus der Polizei rückte. Verstärkt durch die Tatsache, dass seine Tante inzwischen überall heraus posaunte, ihr Testament zu Gunsten des Hausfrauenbundes ändern zu wollen. Aus diesem Grund hatte Walter nächtelang über dem Problem des perfekten Kapitalverbrechens gebrütet, um die bestmögliche Ausführung zu finden. Und er hatte sie gefunden.

 

Zunächst wollte er seine Tante mit einer ihrer zahlreichen scheußlichen Skulpturen erschlagen, die sie mit ebensolcher Hingabe sammelte wie ihren Meissener Porzellan-Kitsch. In seinem geheimen Büchlein stand hinter dieser kurzen Notiz: »Keine Emotionen!« Denn Nervosität und Angst, das wusste Walter, machten jeden weiteren Schritt sinnlos. Allerdings war er sich sicher, dass es ihm in Anbetracht der Abscheulichkeit seiner Erbtante nicht sonderlich schwerfallen würde, gefühllos zu agieren.

Wenn der alte Drache erst die Hölle unsicher machte, plante er, die Tür zur Terrasse zu öffnen, damit die Leiche in der Herbstluft schneller abkühlte und eine genaue Bestimmung des Todeszeitpunktes verkomplizierte. Die offene Tür würde ferner einen Hinweis darauf liefern, wie der Mörder mühelos ins Haus eindringen konnte. Daraufhin wollte er die Zimmer durchwühlen und Wertsachen einstecken, die er vor der Rückfahrt im Tristacher See verschwinden zu lassen gedachte.

Und er hatte vor - mit Genuss - einige der grässlichen Figuren und eine Lampe zu zerschlagen, um die Polizei zur Annahme eines Kampfes, eines Raubmordes zu verleiten. Schließlich würde er ungesehen das Haus verlassen und zu seinem im Wäldchen versteckten Wagen zurückkehren.

Daheim angekommen folgte ein wichtiger Schritt: Die Beschaffung eines Alibis. Walter war stolz auf seinen Einfall, die betäubte Gattin zu wecken, nachdem er sämtliche Uhren in der Wohnung um einige Stunden zurückgestellt hatte, sodass die dämliche Bärbel glauben musste, er hätte keine Zeit gehabt, zu seiner Tante zu fahren. Gab es bessere Zeugen als jene, die ihre Aussage für absolut wahr hielten? Wenn er sie zu Bett gebracht hatte und sie wieder eingeschlafen war, wollte er die Anzeigen der Uhren korrigieren.

 

Ein verräterisches Schmunzeln legte sich um Walters Mund. Am nächsten Tag würden Bärbel und er vollkommen unverdächtig eine länger gebuchte Kreuzfahrt antreten. Sozusagen sein Abschiedsgeschenk für seine Ehefrau, denn danach wäre sie an der Reihe. Doch bis sie einem vermeintlich häuslichen Unfall erlag, musste er sich etwa zwei Monate gedulden, zuvor wäre es zu auffällig. In dieser Zeit würde er seine Verlobung mit Gina feiern, damit sie nicht noch misstrauisch wurde, zu schnüffeln begann und womöglich dahinter kam, dass er bereits verheiratet war.

Ruhte seine Seekuh von Gattin erst unter der Erde, konnten die Hochzeitsglocken läuten.

»Ein perfekter Plan!«, jubilierte Walter innerlich, als Hildegard mit einer Teekanne ins Esszimmer zurückkehrte, was ihn zwang, das Grinsen zu unterdrücken. Während sie einschenkte, betrachtete er eine Bronzeskulptur auf der Anrichte. Sie besaß die richtige Größe und Schwere für sein Vorhaben. Direkt darüber hing ein Spiegel, in dem seine Augen plötzlich auf den unergründlichen Blick der Tante trafen.

»Denkst du, ich merke nicht, wie du auf den Bronzeakt starrst, missratener Neffe?«, zerfetzte ihre eisige Stimme die Stille. Walters Gesicht brannte vor Scham. Die alte Vettel war aufmerksamer, als er gedacht hatte.

»Falls du den Wert der Skulptur schätzen solltest, vergiss nicht: Du bist und bleibst enterbt!« Die Bemerkung ärgerte Walter zwar ungemein, doch lieferte Hildegard damit selbst eine passende Erklärung für sein Interesse und entließ ihn aus der Suche nach einer Ausrede.

Es wurde wirklich Zeit, seinen Plan in die Tat umzusetzen! Lang genug hatte er sich diesen Demütigungen und ihrer Selbstgefälligkeit ausgeliefert. Sich erneut zur Ruhe mahnend senkte er den Blick. Deshalb kam es für ihn absolut überraschend, als seine Tante, die schlangengleich hinter ihn geschlichen war, böse in sein Ohr zischelte: »Du törichter, durchtriebener Bengel!«

Im selben Moment, als Walter der tiefere Sinn ihrer Worte bewusst wurde, durchfuhr seinen Schädel ein stechender Schmerz und es wurde schwarz um ihn.

 

 

»Die Haushälterin hat uns heute Morgen um 8.30 Uhr benachrichtigt, sofort, nachdem sie den Tatort betreten hatte. Sie steht unter Schock. Ihrer Aussage nach öffnete Frau Odenthal jeden Abend zum Lüften die Terrassentür, durch die sich der Mörder vermutlich gestern Einlass verschaffte. Als Tatwaffe haben wir eine Skulptur aus dem Besitz der alten Dame sichergestellt«, erstattete Wachtmeister Lambert dem hinzugekommenen Hauptkommissar Brunner Bericht. »Es fehlen Schmuck und einige teure Kunstgegenstände. Sieht nach einem Raubmord aus.«

Brunner ließ seinen Blick auf der männlichen Leiche ruhen, die auf dem Perserteppich vor dem Couchtisch lag.

»Ist seine Identität bekannt?«, fragte er.

»Bei dem Toten handelt es sich um den Neffen der Odenthal, Walter Rußmeier, wohnhaft in Innsbruck. Wir haben seine Frau, Bärbel Rußmeier, aufgesucht und hierher geholt. Sie hat ihn identifiziert, ist völlig aufgelöst. Jetzt wartet sie drüben in der Küche, falls Sie sie noch befragen möchten.« Er nickte zu der halboffenen Tür, durch die man die Witwe an einem Tisch sitzend sah, mit einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, und der just in diesem Moment ein zittriger Klagelaut entfuhr.

»Ja, das werde ich gleich tun. Vielleicht kann sie uns Feinde der Ermordeten oder andere Motive nennen.« Der Hauptkommissar hielt kurz inne, dann zog er den Wachtmeister am Arm etwas beiseite und raunte: »Hätte nicht auch sie ein Motiv, ihren Ehemann und dessen Tante aus dem Weg zu räumen?«

»Durchaus«, gab Lambert ebenso leise zurück. »Sie ist jetzt die Alleinerbin des Odenthal-Vermögens. Doch unter uns gesagt: Ich traue ihr eine solch brutale Tat nicht zu. Bei der Befragung empfand ich sie als gutmütig und ... ein wenig einfältig, wenn Sie verstehen. Zudem besitzt sie weder Führerschein noch Auto. Sie öffnete uns heute Morgen völlig verschlafen erst nach mehrmaligem Läuten die Tür. Nimmt abends wohl immer ein Schlafmittel. Wir haben eine Tasse mit einem Rest Tee auf ihrem Couchtisch entdeckt, wird gerade im Labor untersucht.«

Lambert senkte seine Stimme noch weiter: »Frau Odenthals Haushälterin hat da so eine Andeutung gemacht. Walter Rußmeier hatte demnach eine Geliebte, deren Brüder sollen der Italo-Mafia angehören. Ein Hinweis, dem Sie nachgehen können. Aber seine Witwe sollte das mit der Geliebten vielleicht nicht unbedingt hören, sie ist ja schon vollkommen am Ende.«

Brunner nickte und sah nachdenklich von der Trauernden auf den zweiten Leichnam vor dem Kamin. Ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin kniete daneben und untersuchte ihn. Hildegard Odenthals bleiche Finger umklammerten noch immer den Griff einer zersplitterten Teetasse.

»Können Sie mir bereits etwas zur Tatzeit sagen?«, fragte Brunner den Mann.

»Beide Opfer wurden fast unmittelbar nacheinander erschlagen, schätze gegen 21 Uhr. Genaueres später.«

Wieder wanderten die Augen des Hauptkommissars zu der molligen, doch kleingewachsenen Bärbel Rußmeier.

»Somit sollten wir von einem kräftigen Täter ausgehen, wenn es nicht sogar mehrere waren. Wie sonst hätte ein Einzelner nahezu gleichzeitig beide Opfer erschlagen können, ohne dass Gegenwehr erfolgte? Es gibt hier keine Kampfspuren.« Sinnierend strich sich Brunner über das Kinn, bevor er sich Richtung Küche wandte, um die Witwe zu vernehmen. Der Gerichtsmediziner erhob sich, seine Stimme hielt den Hauptkommissar zurück.

»Die tödlichen Hiebe wurden mit unterschiedlichem Krafteinsatz sowie aus verschiedenen Winkeln ausgeführt. Ich gehe daher von mindestens zwei Tätern, zwei unterschiedlich großen Personen aus.« In diesem Moment betrat ein weiterer Polizist den Raum. Er hielt einen Beweismittelbeutel in die Höhe, zeigte mit der anderen Hand aus dem Terrassenfenster.

»Hinter der alten Ulme dort haben wir diese Zigarettenstummel gefunden. Zwei verschiedene Marken, eine davon aus Italien. Meiner Meinung nach ist das der ideale Platz, um Haus und Terrasse zu beobachten.«

»Damit erhärtet sich der Verdacht, dass es mehrere waren«, erwiderte Brunner. Erneut sah er zur Witwe hinüber, deren bleiches Gesicht unglaublich leer wirkte. Diesmal war etwas wie Bedauern in seinen Zügen zu erkennen.

»Ich verschiebe die Befragung auf morgen. Fahren Sie Frau Rußmeier jetzt nach Hause.«

Lambert nickte und kam der Anweisung nach. Hauptkommissar Brunner hingegen verließ den Tatort, um einen ersten Bericht zu schreiben und in Richtung Mafia weiter zu ermitteln.

Walters blicklose Augen starrten ihm nach. Der Tod hatte das triumphierende Lächeln auf seinem Gesicht zu einer Grimasse der Erkenntnis festgefroren.

 

 

 

Vier Wochen darauf saß Bärbel Biermann, die wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte, auf der Terrasse des Hauses am Tristacher See.

Für November war es ein erstaunlich milder und sonniger Tag. Die Bäume trugen noch etwas buntes Laub, das grünlich schimmernde Gewässer lag still vor ihr. Eine leichte Brise strich über ihren Körper, der in ein schmeichelndes Designerkleid und eine Kaschmirstrickjacke gehüllt war. Genüsslich nippte sie an einem Glas Rotwein, während sie die spiegelnde Wasseroberfläche und die dahinter liegenden Berge betrachtete. Sie genoss die Ruhe, atmete tief die Luft ein, die so klar und frisch war, und ein wenig nach dem See, nach feuchtem Laub und Erde roch.

Oh, wie herrlich das Leben sein konnte! In den zwei Wochen, die sie hier nun weilte, hatte sie eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen und bereits zehn Pfund verloren. Ohne die täglichen Beleidigungen und Vorwürfe ihres Gatten war es so leicht, auf Naschereien und die ewige Frust-Völlerei zu verzichten. Einen Augenblick lang verzogen sich ihre Mundwinkel bei dem Gedanken an die jahrelange Schikane durch Walter und seine Tante.

Sie erinnerte sich an den Schock, die schmerzvolle Erkenntnis, als sie zufällig das geheime Büchlein sowie die Fotos seiner Geliebten gefunden hatte. Immerhin hatte sie erst durch diese Aufzeichnungen die Tragweite seines Hasses auf die Tante verstanden. Aber auch die bösartige Ablehnung erkannt, die er ihr, Bärbel, entgegenbrachte. Es hatte sie zutiefst verletzt. Doch letztendlich erwies sich der Fund als Segen. Denn nur dadurch hatte sie gewusst, dass er an besagtem Abend ihren Tee mit einem Schlafmittel versetzen würde, und hatte den Spieß umkehren können.

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen zurück.

Sie hatte den Tee – nach einem angedeuteten Schlückchen – unbemerkt in einer Topfpflanze verschwinden lassen und sich schlafend gestellt. Erst, als sie Walters Wagen davon fahren hörte, hatte sie sich mit klopfendem Herzen erhoben und Hildegard angerufen, um sie über den ungeheuerlichen Plan zu informieren, sie zu warnen. In der Annahme, diese würde sich an die Polizei wenden.

Doch die morbide veranlagte, alte Frau hatte sich für eine andere Lösung entschieden. Wie Bärbel erst später erfuhr, hatte Hildegard sofort nach dem Mord am Neffen ihre Haushälterin unter einem Vorwand zu sich zitiert, um sie zur Handlangerin zu machen. Als Frau Fischer das Esszimmer betreten und fassungslos auf Walters Leichnam gestarrt hatte, war ihre Arbeitgeberin auf sie zu getreten. Hatte ihr die Tatwaffe in die Hand gedrückt, mit der Anweisung: »Stehen Sie nicht herum. Sehen Sie zu, dass Sie meinen Neffen in einem Loch im Garten verschwinden lassen, bevor Sie den Teppich schrubben.«

Ein hinterhältiges Lächeln soll ihr faltiges Gesicht verzogen haben, ehe sie ihre behandschuhten Hände erhob und fortfuhr: «Denken Sie daran, meine Gute: Allein Ihre Fingerabdrücke befinden sich auf der Statue. Und ich habe mir eine nette, kleine Aussage zu Ihren Ungunsten zurechtgelegt. Wenn Sie nicht wünschen, dass ich jetzt die Polizei rufe, machen Sie, was ich sage.«

Eiseskälte hatte sich in der Haushälterin ausgebreitet. Statt Dankbarkeit für all die Jahre der treuen Dienste offenbarte ihr Frau Odenthal in diesem Augenblick die ganze Schwärze ihrer Seele.

Lang unterdrückter Zorn war in ihr aufgewallt. »Nein, das werde ich nicht tun!«, war es ihr entfahren, ehe sie sich hatte bremsen können.

»Nun denn, Ihre Entscheidung.«

Schon hatte sich die Odenthal abgewandt und auf das Telefon zubewegt, als etwas in Frau Fischer aussetzte. Die Skulptur noch immer in der Hand hatte sie diese mit dem Ausruf «Niemals!« mit Wucht auf Hildegards Hinterkopf niederfahren lassen. Als ihr, am ganzen Leibe zitternd, bewusst geworden war, was sie getan hatte, fiel ihr in ihrer Panik nur ein Mensch ein, den sie anrufen konnte. Der ihr vielleicht helfen würde: Die freundliche Bärbel Rußmeier.

Im Nachhinein stellte sich Bärbel die Frage, wer von ihnen wirklich dumm war. Ihr Mann und seine Tante waren davon überzeugt gewesen, sie sei eine hohle Nuss. Hatten es ihr oft genug an den Kopf geworfen.

Sie schmunzelte. Nun ja, immerhin war sie es, die jetzt in der Novembersonne an diesem wunderschönen Gewässer saß und einen exzellenten Rotwein genoss, während die anderen beiden in ihrer Gruft verrotteten.

 

Ja, sie hatte sich der armen Haushälterin angenommen, diese am Telefon beruhigt. Minutiös hatte sie ihr die Schritte des Plans aus Walters Büchlein vorgegeben, nur die Kampfspuren sollte Frau Fischer auslassen. Zudem war ihr der geniale Einfall mit den Zigarettenstummeln gekommen, sowie der Hinweis auf das italienische Liebchen. Und sie hatte mit den Worten geschlossen: »Tun Sie genau, was ich gesagt habe, Frau Fischer, und alles wird gut.«

Diese war vor Dankbarkeit in Tränen ausgebrochen, hatte aber im Folgenden einen erstaunlich kühlen Kopf bewahrt.

Bärbel hingegen hatte nicht geschlafen in dieser Nacht. Der bevorstehende Besuch der Polizei sowie die zu spielende Rolle hatten sie in Angst versetzt und ihr Bauchschmerzen bereitet.

Mit Erleichterung hatte sie beobachtet, wie ein Wachtmeister die Teetasse vom Couchtisch in einen Beweismittelbeutel steckte. Es würde ihre Unschuld untermauern. Noch beruhigter war sie gewesen, als der Kommissar mit den kühlen, grauen Augen sie in Hildegards Haus vorerst nicht befragt hatte. Denn im Gegensatz zu Frau Fischer war sie eine miserable Lügnerin, hatte sich erst sammeln müssen.

 

Einen Blick auf ihre Uhr werfend klopfte ihr Herz etwas rascher. Oh, es war Zeit hineinzugehen, jeden Moment konnten die Handwerker läuten, die sie beauftragt hatte, damit aus dem alten Haus in nächster Zeit ein schmuckes, kleines Hotel wurde.

Vorher aber trat sie auf den etwas maroden Bootssteg und zog Walters Notizbüchlein aus der Jackentasche. Sie hatte Steine mit etwas Schnur darum gebunden und warf es nun, so weit sie konnte, hinaus auf die im Sonnenlicht glitzernde Wasserfläche, wo es platschend auftraf und sofort versank.

Leb wohl, treuloser Walter, setzte sie in Gedanken hinzu, ehe sie sich umwandte und den Steg verließ. Der würde ebenfalls saniert werden, denn sie hatte vor, kleine Ausflugsboote zu kaufen, in denen man den See erkunden konnte.

 

Hier, am malerischen Tristacher See, wollte Bärbel leben und alt werden. Die protzige Villa in Innsbruck würde sie hingegen verkaufen. Sie, die keine Kinder hatte bekommen und lieben dürfen, weil ihr verblichener Ehemann keine hatte haben wollen, würde zukünftig Gäste bewirten, Familien umsorgen, Kinder verwöhnen, immer Menschen um sich herum haben. Sie trug so viel Zuneigung in sich, die sie verschenken wollte. Vielleicht bekam sie auch welche zurück.

Mit einem strahlenden Lächeln, in dem ihre ganze Vorfreude auf den weiteren Verlauf ihres Lebens zutage kam, zog sie den Gürtel ihrer Strickjacke enger und machte sich endlich auf den Weg ins Haus.

Ja, manchmal erledigten sich die Dinge fast von selbst. Ihr Gatte hatte stets für alles einen Plan benötigt. Wozu? Es ging doch auch ohne!

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2019

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