Wie beschützt man den, den man liebt? Wie erspart man den Schmerz, den man selbst zu gut kennt, um ihn von seinem Kind abzuwenden?
Es ist heute kein Verbrechen, anders zu sein. Anders als der Durchschnitt. Jeder wird gefördert, Gesetze geändert, denn alle Menschen sind gleich.
Trotz aller Gesetze weiß jeder, dass ein „Anderer“ anders bleibt. Kein Gesetz der Welt vermag die Menschen in ihrer Denkweise zu verändern.
Leitsätze wie: „Stärken stärken und Schwächen schwächen“, ringen mir ein müdes Lächeln ab.
Die Gleichheit ist schon am Kommunismus gescheitert, denn wirklich gleich ist niemand. Die Einen sind eben anders als die Anderen.
Bin ich anders? Nein. Ich bin einer von vielen, totaler Durchschnitt und doch jemand, der das Leiden „der Anderen“ nicht erträgt, schon gar nicht, weil mein Sohn Jona, der wertvollste Teil meines Lebens, anders ist.
Natürlich habe ich zuerst versucht gegenzuhalten, mein Recht auf Gleichheit eingefordert, gekämpft.
Wer macht das nicht? Aber trotz aller Gesetze und aller Gleichheit trifft es bis ins Mark, wenn der Betroffene selbst erkennt, dass er anders ist und wenn er nur diesen einen Wunsch hegt, nämlich, ebenso zu sein, wie alle anderen Kinder.
Dass alle Menschen verschieden sind und Begabungen sowie Schwächen haben, tröstet nicht. Das Kind wird verlacht, verliert seine Freunde, denn kaum jemand achtet einen Nerd. Und niemand achtet Jona.
Die Gesellschaft ist eine Welle, die nur eine Richtung duldet. Es gibt kein Zurück, höchstens das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand.
„Woanders ist es besser“, macht man sich selber Mut, schickt sein Kind in ein Heim unter „seinesgleichen“ - oder man flieht vor dem Rest der Welt.
Ich bin so ein Geflohener.
‚Hier, am Ende von nirgendwo, wird uns niemand finden‘, so hoffe ich.
Ich atme auf, atme die frische Luft, die Einsamkeit.
Jona, mein Sohn, vermisst seine Freunde.
„Welche Freunde?“, frage ich und füge hinzu, „meinst du die, die dich immer gehänselt haben?“
„Wenn jemand beim Fußball gefehlt hat, durfte ich mal mitspielen“, antwortet er kleinlaut. „Hier ist niemand mehr, mit dem ich spielen kann.“
„Du wirst auch hier zur Schule gehen müssen“, erwidere ich, „und hoffentlich bessere Freunde finden, als die, die du hattest. Unten im Dorf ist eine Gesamtschule, auf der ich dich angemeldet habe.“
„Glaubst du denn wirklich, dass diese Kinder anders sind?“, fragt Jona mich und wendet sich von mir ab ohne eine Antwort zu erwarten.
„Sieh dir doch erst mal alles an“, bitte ich ihn und will ihn am Arm festhalten. Er tritt nach mir, so, wie er es zuvor getan hatte, wenn ihm in der Schule alles Zuviel wurde.
Mein Schienbein schmerzt, er hat genau getroffen. Ich lockere meinen Griff und er läuft davon. Hinaus in eine Gegend, die er nicht kennt. Ich humple hinterher, rufe immer wieder seinen Namen, doch er ist mittlerweile wesentlich schneller als ich.
Ich kenne sein Davonlaufen. Auch sind diese Wutausbrüche mir nicht fremd.
„Anderssein ist nichts für Feiglinge“, erinnere ich mich an die Worte seines Psychologen, der immer wieder betonte, dass „Anderssein besonders wertvoll ist.“
„Aber nicht für mich“, schrie Jona, „wissen Sie eigentlich, wie furchtbar das ist? Geben Sie mir irgendwas, das mich gleich macht.“
Der Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie ergab keine neuen Erkenntnisse, nicht einmal einen Hauch von Erfolg. Im Gegenteil, danach wurde alles nur noch schlimmer, weil mit dieser „Auszeit von der Schule“ und der Anerkennung des Förderbedarfs amtlich bestätigt wurde, dass Jona ein Nerd ist. Und einen Nerd zum Freund will niemand.
„Jona! Komm zurück!“, rufe ich mittlerweile verzweifelt. „Ich habe doch noch eine Überraschung für dich! Komm doch wieder! Du wirst begeistert sein!“
Zu unserem Neustart habe ich ihm einen Welpen gekauft, der bereits in seinem Zimmer auf ihn wartet. Jona hatte sich schon immer einen Hund gewünscht, einen Kameraden, dem es egal ist, ob er Rechnen kann oder eben nicht.
Dabei ist mein Junge gar nicht dumm, er kann viele Dinge besser als alle anderen, hat Ideen und ist handwerklich sehr begabt. Aber Jona sieht das nicht. Er sieht nur das, was die anderen über ihn sagen und gibt auf.
Wie unterbricht man einen Teufelskreis? Welche Möglichkeiten bietet einem diese Welt voller Menschen, die alle auf einer Welle schwimmen? Der Welle der Behaglichkeit, der Überheblichkeit, des Besserwissens?
Nicht nur einer hat mir erzählt, dass „solche Kinder“ in Sondereinrichtungen besser aufgehoben wären, dabei hat Jona nicht einmal ein körperliches Handicap. Er ist einfach nur lernschwach. Zumindest sagen die Ärzte das heute.
Drei Kliniken. Drei IQ Tests. Drei Kinderärzte. Und immer abweichende Ergebnisse. Ich weiß nicht wie viele Monate wir, vor allem Jona, mit Untersuchungen verschwendet haben. Wie viele Diagnosen wir erhalten haben.
Drei Jahre behandelte man ihn auf ADS und er bekam entsprechende Medikamente. Aber auch dadurch wurde er nicht „normal“ nur noch dünner. Eine üble Nebenwirkung dieses, zumindest für ihn wirkungslosen, Medikaments.
Die nächste Diagnose lautete auf Unterversorgung des Gehirns wegen Unterernährung.
„Jonas Gewicht entspricht nicht der Kurve. Wissen Sie, wovon ich spreche?“
Natürlich kannte ich diese Kurve. Seit seiner Geburt wich mein frühgeborener Sohn von dieser Kurve ab. Jetzt holte sie mich wieder ein – und ihn natürlich auch.
Jona landete wieder in der Klinik, da man mir die Fähigkeit absprach, ihn richtig zu versorgen. Man würde das Jugendamt einschalten, wenn ich mich weigern würde, denn man müsse sich ein genaueres Bild von seinem Essverhalten machen um sein Gewicht in den Griff zu bekommen.
„Sie brauchen mir nicht zu drohen“, erwiderte ich ruhig, obwohl ich zutiefst gekränkt war, „ich mache alles mit, wenn mein Kind gesund wird.“
Aber auch dieser Klinikaufenthalt erwies sich als Nullnummer und Jona wurde mit den Worten entlassen: „Es liegt nicht am Essen, sondern an der Birne. Wo nichts drin ist, kriegt man auch nichts rein.“
„Haben Sie Jona das ebenso schonend beigebracht?“, fragte ich den Chefarzt, der achselzuckend hinzufügte, „wenn jemand dumm ist, kann man das eben nicht ändern. Es ist so, wie es ist.“
„Dann waren wir fünf Jahre lang der Spielball für Statistiken und Forschung?“, fragte ich zornig, doch der Mann in weiß ließ sich nicht beirren und erwiderte sicher, „kein Arzt kann was dafür, dass Ihr Kind blöd ist!“
Ich habe mich manches Mal gefragt, was Menschen dazu treibt, einen Mord zu begehen. In diesem Moment hätte ich selbst in diese Liga aufsteigen können, doch hinter mir öffnete sich die Tür und Jona trat herein. Wortlos nahm er meine Hand und zog mich aus dem Raum hinaus.
„Du hast alles gehört?“, fragte ich mit heiser Stimme, doch er antwortete mir nicht. Das war die erste Nacht, in der er von Zuhause weggelaufen ist. „Du bis beser dran one misch“, stand auf dem Zettel, der anstatt seiner im Bett lag.
„Jona! Jona!“, schrie ich mit verzweifelter Stimme. Damals. Heute.
Langsam neigt sich die Sonne und ich laufe. Immer weiter. Irgendwohin. Nirgendwohin. Und zuletzt wieder in unser neues Zuhause. Fernab der Welt. Fernab der Menschen, die uns verletzt haben. Und auf einmal sitzt er da, in seinem Zimmer und spielt mit seinem Welpen.
Er lächelt mich an. Dies ist ein besonderer Augenblick. Ein Moment, in dem er glücklich ist.
Ende
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Tag der Veröffentlichung: 05.11.2019
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