Cover

Bestes Selfie aller Zeiten

„Das darf doch nicht wahr sein!“, posaunte Viktoria laut hinaus, als sie das viertklassige Vehicle im Hafen sah. Dieses Mittelklasse-Dings, wie sie es in Gedanken nannte, verdiente den Namen „Schiff“ nicht im Ansatz. Selbst in ihren schlimmsten Albträumen hätte sie nie daran gedacht, jemals auf so einem Kutter zu schippern.
Entsetzt darüber, dass sie gleich damit übersetzen sollte, strich sie sich über das von der Sonne geblendete Gesicht, als wollte sie den Anblick des Schiffes damit beiseite wischen.
Danke Sven! Das hast du dir ja toll überlegt!, verfluchte sie ihren Freund in Gedanken. Er hatte ihr gestern nur lapidar mitgeteilt, dass alles vorbereitet sei, um die besten Fotos aller Zeiten zu knipsen.
„Entschuldigung, aber Sie können froh sein, dass vor Ihnen ein Gast abgesprungen ist.“ Viktoria blickte den Seemann irritiert an. Sollte sie ihn jetzt etwa loben, dass sie noch mitkommen durfte trotz der miesen Ausstattung?
„Wir müssen ablegen, die Zeit drängt. Schließlich wollen wir alle heute noch auf der Insel ankommen, nicht wahr?“ Sein Zwinkern sollte die angespannte Situation retten, das sie arrogant mit einem Schnauben kommentierte, was dem Wiehern eines aufgebrachten Pferdes in nichts nachstand. Um ihre Empörung im Zaum zu halten, strich sie sich in voller Rage mit einer raschen Bewegung eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht, woraufhin erneut Wut in ihr aufstieg; diesmal, weil sich ihre Hochsteckfrisur begann aufzulösen. Wie sollte sie Fotos von sich und der Welt machen, wenn ihr Äußeres einer Kräuterhexe glich?
Im Moment hatte sie das Gefühl, als entglitte ihr mit diesem Trip alles.
Zum Glück hatte sie die Abfahrt des Kutters nicht verpasst. Nur eine Portion Koffein konnte ihr Leben jetzt noch retten. Doch wie sollte sie hier in diesem nach Fisch stinkenden Hafen einen perfekten Latte Macciato bekommen, wenn es nicht einmal eine ansprechende Lokalität gab?

Naserümpfend blickte sie sich um. Die verblassten Holzhütten, der instabile Holzsteg und die vielen Möwen störten ihre Vorstellung von einer angemessenen Überfahrt. Nie zuvor hätte sie gedacht, dass sie sich in diesem Instagram-Paradies so unwohl fühlen würde.
 

Der Kapitän blieb aufrecht in Habachtstellung, routiniert darin, motzende Gäste so kurz vor seiner Rente notfalls in die Schranken zu verweisen. Sein Gesicht blieb undurchdringlich, was Viktoria in dieser Form noch nie erlebt hatte. Bisher brauchte sie symbolisch nur mit dem Finger zu schnippen und ihr Wille geschah. Ob es an ihrem Auftreten, ihrem Bekanntheitsgrad oder ihrem Aussehen lag, wollte sie genau jetzt nicht wissen.
Aufmerksam betrachtete der Kapitän die Kundin, wobei seine Unterlippe zuckte, als er ihr kurzes Röckchen im aufkommenden Wind bemerkte. Viktoria blickte in die Ferne, um sich zu sammeln, weil sie lieber nicht wissen wollte, was ihn amüsierte.
„Aber ich hoffe, Sie haben wenigstens etwas zu trinken an Bord“, setzte sie versöhnlich an. Wohl wissend, dass sie ohne ihn hier nicht fortkam, musste sie sich seinem Gefährt anvertrauen.
Sie brauchte die Überfahrt für die Fotosession, für die sie den Vertrag unterzeichnet hatte. Da kam sie nicht daran vorbei. Aus dem Grund versuchte sie so elegant wie möglich auf ihren schicken High Heels an Bord zu steigen, ohne abzurutschen. Höflich reichte ihr der Kapitän den Arm, damit Viktoria im stärker werdenden Wellengang nicht doch noch umknickte – in seinem Reich. Aus dem Grund zog sie es vor, ihre Klappe zu halten.

In seiner Mimik spiegelte sich die Hoffnung wider, dass sie sich an Bord besser benahm als in den Minuten vor ihrem Einstieg.

„Darf ich bitten, Gnädigste.“ Sein Zwinkern kommentierte sie mit einem bösen Blick, um ihn in seine Schranken zu verweisen. Auf ihrem Blog würde sie an ihm bestimmt kein gutes Haar lassen. Viktoria hasste blöde Anmache von Männern. Einschleimen brauchte er sich bei ihr nicht. Ein alter Mann eines lächerlichen Schiffchens stand nicht auf ihrer „Come – in“- Flagge. Außerdem brauchte sie so schnell wie möglich einen Drink, sonst verdurstete sie noch, bevor sie am Ziel angekommen war.
Staksend wankte sie an der übersichtlichen Reling entlang nach hinten, weil sie dort eine Bar oder etwas in der Art vermutete.
Naja, eher eine notdürftige Minibar mit Ausschank, stellte sie enttäuscht fest. Welcher Bootsbauer hatte denn diese glorreiche Idee?!
Ihre Unzufriedenheit stieg erneut an. Mit zusammengepressten Zähnen blickte sie sich in dieser Spelunke, die sich ihr mit abgeschabtem Mobiliar präsentierte, um. Ein Seufzen entglitt ihr, bevor sie so elegant wie möglich auf einen der Hocker glitt, ohne dem dicken Mann neben sich einen zu intensiven Anblick ihrer Beine zu gestatten. Zum Glück verstand der Senior sofort und drehte sich zu seiner Frau in Blickrichtung Meerwasser, das laut an die Schiffsseite schlug.

Der Junge am Ausschank bediente sie prompt mit ihrem gewünschten Kaffee Latte, sogar mit Caramel, aber ohne Amaretto.
„War ja so was von klar“, murmelte sie grimmig in ihren nicht vorhandenen Bart. Der Bursche hinter der Theke blickte sie kurz fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern, wollte sich nicht erklären. Warum sollte sie das jetzt auch tun? Sie war niemandem eine Rechtfertigung schuldig. Niemals! Ihr Leben gehörte ihr und das wollte sie genießen – in allen Facetten. Ein schlechter Start bedeutete, dass es nur noch besser werden konnte. Bei dem Gedanken nahm sie einen großen Schluck ihres Kaffees. Voilà! Der war lecker. Geht doch! Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

Ein paar Minuten später legte das kleine Schiff ab. Keiner der Gäste ahnte, dass sich bereits einige Meilen entfernt dunkle Wolken am Himmel sammelten.

Viktoria knipste nicht unauffällig ihr Getränk und posierte vor dem Fenster, an den bereits die Wellen schlugen, als sie einige Minuten später auf offener See waren.

„Leichte Wellen“, zitierte Viktoria die Auskunft am Ticketschalter, als sich der Kutter hob und senkte und einige Landratten an Bord bereits mit Würgreiz zu kämpfen hatten.

Ein älteres Paar nicht weit entfernt stritt sich darüber, ob sie nicht in Anbetracht der Wellen erst später hätten fahren sollen.

Genau in dem Moment ertönte mit einem lauten Paukenschlag der Donnerhall des Gewitters. Auch diejenigen, die sich noch trauten bei diesen dunklen Wolken an der Reling zu stehen, starrten gebannt nach oben. Einige flüchteten bereits nach innen, um vor dem möglichen Regen geschützt zu sein. Blitze schossen fast in Sekundentakt über den Himmel. 

 Überrascht über die Lautstärke des Gewitters zuckte Viktoria, die sonst nichts so leicht auch der Fassung brachte, zusammen.

Die Blitze erhellten das weite Meer besonders grell und der überlaute Donner dröhnte ohrenbetäubend über ihnen. Das Unwetter tobte und die auf- und absteigenden Wellen zeigten sich deutlich am Kajütenfenster.

Einzig um ihr Kleid nicht zu beschmutzen, stellte sie den nur halb getrunkenen inzwischen zweiten Kaffee auf dem Fenstersims ab.

Mit Kaffeeflecken auf dem Kleid wäre ihr Posing auf der Insel hinüber. Mit einem lauten Schlag brachte eine neue Welle das Schiff zum Wanken. „Verdammt“, fluchte sie ungehalten. Der Innenraum schwankte und Geschirr klapperte in der Ablage. Einige Teller fielen zu Boden.

Ihr Heißgetränk nässte die Ablage ein.

 „Bitte herhören“, erklang in dem Moment die bedeckte Stimme des Kapitäns aus dem scheppernden Lautsprecher zwischen Innen- und Außenbereich. „Bitte verhalten Sie sich ruhig und kommen nach innen, um vor dem Wasser geschützt zu sein. Bewahren Sie Ruhe.“

Da Viktoria durch den Lärm um sich herum nur ansatzweise die Ansage mitbekam, registrierte sie nur anhand der eintretenden Fahrgäste, dass viele nach innen strömten.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass es jetzt hier so voll wird“, maulte sie eine rothaarige Frau Anfang dreißig an, die sich mit einem schlafenden Bündel Menschenkind auf dem Arm an ihr vorbei drängte.

Viktoria entschied in dem Moment das Wetterleuchten live vor Ort sehen zu wollen und quetschte sich an ihr vorbei nach draußen. So ein Naturschauspiel wollte sie sich nicht entgehen lassen. Da konnte der dicke Kapitän reden, was er wollte. Schwankend und sich stützend zog sie nebenbei im stürmischen Treiben ihr Smartphone aus der hinteren Rocktasche und strich wie gewohnt über das Display. Der Wind peitschte ihr entgegen. Ein überlegenes Lächeln schlich sich dabei auf ihr Gesicht. Dieses Schauspiel live hier an Bord wollte sie sich bestimmt nicht entgehen lassen. In Gedanken verfluchte sie, keine Liveschaltung übers Netz geschaltet zu haben und notierte sich stattdessen bereits den Hashtag, unter dem sie die Geschichte posten würde. Selbst in Krisensituationen achtete sie auf gutes Aussehen und zog ihre Handtasche zurecht. Ein schlechtes Äußeres stellte bisher die größtmögliche Krise ihres Lebens dar.

Ohne darüber nachzudenken, was ihr Aufenthalt  so nah am Wasser bedeuten könnte, wollte sie sich diese Aufnahme nicht entgehen lassen.

Sie lächelte profimäßig mit dem Rücken zum Meer stehend in die Kamera und drückte mehrmals auf den Auslöser. Die riesige Welle im Hintergrund erkannte sie deutlich im Bild. Eine Veröffentlichung würde ihr viele Likes auf Instagram geben. Erneutes Klicken, die sie im allgemeinen Trubel nicht hören konnte.

Gottlob hinderte sie keiner an ihren Aufnahmen, da die anderen Gäste bereits innen waren.

Ein Glück, dachte sie. Das wird das beste Selfie aller Zeiten!

Ein Mann innen schüttelte am Fenster den Kopf, als er sah, dass sie vor der heranflutenden Welle posierte, um ein Foto von sich und den Wassermassen zu machen.

Ungläubig starrte er sie an, doch sie zuckte überlegen die Achseln, um sich nicht von ihrem Tun abbringen zu lassen.

Wild knipste Viktoria weiter, als sie unbewusst in all dem Trubel einen lauten Schlag gegen das Schiff hörte, der sie über das Geländer stieß. Sie hing halb über der Reling und knipste und knipste ohne Unterlass weiter, um diese Chance auf die besten Fotos nicht zu verpassen. Ein wahrer Rausch erfasste sie dabei, der sie nicht mehr losließ.

Erst als sie den kalten Sog, der ihren Körper in die Tiefe zog, gewahr wurde, setzte ihr Verstand wieder ein. Meerwasser unterband ihren Schrei. Eiskaltes Salzwasser drang in Mund und Nase. Ihr Blick fiel auf ihre Hand, die krampfhaft das Handy umklammerte. Wie gebannt starrte Viktoria darauf, während sie immer weiter sank.

Die Kälte verlangsamte ihre Bewegungen. Wie in Trance sank sie tiefer und tiefer, bis plötzlich Panik in ihr aufkam. Sauerstoff!

Sie richtete den Blick nach oben, in Richtung Helligkeit, während sie die dunkle Tiefe unbarmherzig immer weiter nach unten zog. Dort oben lag ihr Ziel.

Sie ließ ihr Mobiltelefon, ihr bisheriges Lebenselexier, entgleiten, um schwimmen zu können.

Wie in Rage begann sie, gegen das Wasser anzutreten.

Obwohl sonst nur an Beautymagazinen interessiert, wusste sie, dass es nicht lang dauerte, in Eiseskälte zu ertrinken.

Mit hektischen Schwimmbewegungen strampelte sie der Helligkeit entgegen.

Nach endlosen Minuten oder auch nur Sekunden hatte sie es schwer atmend geschafft und war stolz, dem Würgegriff des Meeres entkommen zu sein. Gedankenverloren klammerte sie sich mit vor Erschöpfung geschlossenen Augen nach etwas, das in der Nähe schwamm.

Als sie nach einer halben Unendlichkeit erneut eine leichte Welle abbekam und nach Luft schnappend die Augen öffnete, erkannte sie das schwere Holzstück, das sie fest umklammerte.

Sonst erkannte sie nichts außer das WWW, das sich als Wasser, Wellen und die Weite des Himmels offenbarte.

Sie schwamm im Meer, im eisigen Meer, und die nächtliche Dunkelheit griff um sich.

„Hilfe!“, rief sie entkräftet, während die eine Hand paddelte und die andere krampfhaft etwas festhielt, das einer Holzplatte ähnelte.

Wie lange sie schon im Wasser schwamm, wusste sie nicht. Aber an Armen und Beinen spürte sie die Kälte immer deutlicher an ihr hochkriechen.

„Hilfe“, kam es inzwischen leiser, als immer noch kein Mensch zu sehen war. Das Unwetter hatte, so rasch es kam, wieder nachgelassen. Ein ihr völlig neuer Zustand beschlich sie: Angst.

Kein Schiff, kein Kutter, kein Boot. Nicht eine einzige Menschenseele war zu sehen. Hatte die riesige Welle sie etwa als Einzige über Bord gezogen? War sie ins Meer geworfen worden, als das Wasser sie mitriss und die anderen hatten es ignoriert oder ihren Sturz nicht einmal mitbekommen? Vergnügten sie sich etwa stattdessen jetzt im Ankunftshafen – ohne sie dem golden Insta-Girl Viktoria Belle?

 Hilflosigkeit kroch in ihr hoch. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Warme Tränen auf ihrer Wange. Ein komisches Gefühl, da sie selten weinte. Normalerweise hatte sie alles im Griff oder sie wusste sich Hilfe zu organisieren. Hier hatte sie weder ihre Lakaien noch eine andere Idee, aus dem Schlamassel herauszubekommen.

Ihr Handy war spurlos verschwunden, sodass ihr lebenswichtigstes Kommunikationsmittel mit fünf Millionen Followern und dem besten Selfie aller Zeiten auf dem Meeresgrund schwamm.

„Hilfe", murmelte sie bei dem Gedanken allein in der Dunkelheit in den Weiten des Meeres zu sein. Allein und unbekannt, ohne die Unterstützung irgendeines Followers ...

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2019

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /