Ich war noch nie ein Fan von Sozialen Netzwerken. Diese Plattformen verunsichern mich. Man verliert schnell den Überblick. Ich jedenfalls - weil ich mich damit nicht auskenne. Was darf man von sich preisgeben und was überhaupt glauben. Ist die Person wirklich die, die ich da sehe? Das macht mir zu schaffen. Mit Vertrauen kommt man da nicht weit. Und Vertrauen ist ein überaus wichtiger Pfeiler in meinem Lebensmodel.
Nichtsdestotrotz besitze ich einen Computer. Man kann sich ja dem Neuen nicht gänzlich verschließen. Und so schaue ich ab und an, was es Neues gibt. Im Nachrichtenteil. All die Scheußlichkeiten, die in der Welt passieren. Aber ich lese auch gerne über Promis. Was die so treiben. Ulkiges und Peinliches. Ich finde das sehr unterhaltsam. Oder ich google ein bisschen. Über Krankheiten, wenn es bei mir irgendwo zwickt und zwackt. Da kann ich dem Arzt gleich die richtigen Tipps geben. Zeit haben die eh nicht für den normalen Kassenpatienten. Oft habe ich jedoch den Eindruck, dass es da an entsprechender Dankbarkeit für meine Mühe mangelt. Oder ich gucke die Namen von Vulkanen. Zum Beispiel der Popocatepetl in Mexiko oder der Nyiragongo im Kongo. Wer kann sich das merken. Die Namen fallen mir wieder und wieder aus dem Kopf. Das Internet ist da wirklich hilfreich und geduldig. Im Grunde genau so wie Bücher. Aber ich besitze ja daheim keine Bibliothek und kann mal eben über jedes gewünschte Thema nachschlagen. Da bin ich schon erfreut über diese Errungenschaft.
Und ich habe ein Handy. Es kann telefonieren. Sonst nichts. Kein Schnick-Schnack. Es genügt mir. Ich verschicke keine Nachrichten und keine Fotos. Ich weiß wie ich aussehe und muss nicht durch ständige Selfies daran erinnert werden. Und zur Not gibt es Spiegel. Mein ganzer Stolz ist eine richtige Spiegelreflexkamera - nichts Digitales. Mit der gehe ich auf die „Jagd“ und knipse dann alles, was mir vor die Linse kommt. Das macht Spaß.
So sitze ich im Park und beobachte ein Eichhörnchen durch mein Teleobjektiv und warte auf den für mich passenden Moment für das perfekte Foto … das ist spannend.
„Hallo Rudi“, sagt da plötzlich jemand, dass ich erschreckt zusammenzucke.
Es ist Harald, der sich mit einem lauten Seufzer neben mich setzt. Ohne zu fragen, ob ich gerade Unterhaltung haben möchte.
„Was gibt’s“, frage ich und halte meinen Fotoapparat noch immer vor mein Auge. Ich wirke sehr geschäftig, was ihm den Eindruck vermitteln soll, dass er stört. Das Eichhörnchen ist schon lange im dichten Blätterwerk verschwunden, aber Harald weiß das ja nicht.
„Ich dachte, du magst keine sozialen Netzwerke und schon gar keine Selfies?“ fragt er.
„Nein!“, antworte ich knapp.
„Aber ich habe ein komplettes Profil von dir im Netz gefunden.“
„Was für ein Profil denn?“ Ich bin irritiert und verstehe nur Bahnhof.
„Na, so ein Profilbild und Angaben zu deiner Person. Nur … seltsamer Weise trägst du da einen Bart. Ich muss sagen, der steht dir nicht schlecht. Aber ich habe dich trotzdem erkannt.“ Harald klopft mir gönnerhaft auf die Schulter, dass mir fast die Kamera aus den Händen gleitet. Vielleicht ist es auch der Schreck.
„Ich bin nirgends angemeldet. Das wüsste ich doch.“ Kontere ich.
„Na dann hast du einen Doppelgänger.“ Harald zieht tief die Luft ein und verdreht ein wenig die Augen. Ich sehe genau, dass er mir nicht glaubt. Das ärgert mich. Warum sollte ich lügen? Irgendwie habe ich in letzter Zeit den Eindruck, dass die ganze Welt verrückt wird. Harald jetzt auch. Trotzdem sollte ich dem Ganzen auf den Grund gehen.
Das Dumme an der Sache ist nur, dass ich mich damit wirklich nicht auskenne. Vermutlich würde ich für meine Recherchen Tage brauchen und es wäre nicht einmal sicher, dass ich finde was ich suche.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich meinen Freund. Er hat sich gemütlich zurückgelehnt und betrachtet interessiert die Spaziergänger, die durch den Park schlendern. Es fällt mir schwer um etwas zu bitten. Schon immer. Aber ich werde nicht darum herumkommen.
„Zeigst du mir meinen Doppelgänger?“, frage ich ganz beiläufig.
Harald guckt mich erstaunt an und fummelt bereitwillig sein Handy aus der Jackentasche. Das ist natürlich ein richtiges Smartphone. Das kann alles – auch diese Netzwerke auf das Display zaubern.
„Hier schau!“
Ich rutsche dicht an ihn heran. Was mir sehr unangenehm ist. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, wenn ich was sehen will.
„Kann man das größer machen?“, frage ich.
Zu meinem Erstaunen gelingt es ihm tatsächlich. Jetzt kann ich ihn gut erkennen. So groß, dass ich die Poren seiner Haut sehen kann. Ja, da ist der Typ. Selbst ich kann die Ähnlichkeit nicht abstreiten. Er hat meine Nase, meine Augen, meinen Mund. Dieser Mensch – das bin ich.
„Und?“, triumphiert Harald.
Ich starre auf das Handy. Sprachlos. Die Gedanken rasen durch die Gehirnwindungen. Suchen nach einer Antwort. Es gibt nur eine.
„Da macht sich einer einen üblen Scherz mit mir.“ Sage ich noch immer fassungslos.
„Er heißt Konrad … so nennt er sich jedenfalls hier.“
„So eine Frechheit“, schimpfe ich.
Harald kichert vor sich hin.
„Sowas passiert immer wieder. Da klaut jemand irgendwelche Fotos und macht sich daraus ein Profil. Erfindet irgendeine Geschichte um irgendeinen Namen.“, erklärt er mir in seiner arroganten Art als wäre ich nicht ganz gescheit im Kopf.
„Aber von mir gibt es weder Selfies noch Fotos oder so was und schon gar nicht mit Bart. Also wo hat er das Bild her, Herr Neunmalklug“, frage ich.
„Was weiß denn ich.“ Harald zuckt mit den Schultern.
„Schreib ihn an und frage, wie er dazu kommt, ich sein zu wollen.“
„Spannend.“ Sagt er nur und tippt auf dem Display rum. „So … hab ihn jetzt gefragt.“
„Im Ernst?“ Aufregung macht sich in mir breit.
„Ja, jetzt warten wir mal, ob er antwortet oder sein Profil löscht.“, erklärt er.
„OK.“, nuschle ich und bin immer noch völlig verstört. Solch ein Eingriff in mein Privatleben ist unfassbar.
So sitzen wir beide auf der Bank und gucken in den blauen Himmel. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ich eigentlich nur einem. Wer ist dieser Konrad? Und warum tut er sowas?
Hin und wieder schaut Harald auf sein Handy. Seufzt und lässt dann seinen Blick erneut über den Himmel wandern.
„Wir warten wohl vergeblich“, denke ich so vor mich hin.
„Da passiert heute nichts mehr. Ich muss nach Hause. Alma wartet mit dem Essen.“, bestätigt er meine düstere Vorahnung. Ich nicke und bin enttäuscht.
„Ich sage dir Bescheid, wenn sich was tut.“ Harald klopft mir wieder auf die Schulter. Ich finde das eine sehr schlimme Angewohnheit.
Zum Fotografieren ist mir die Lust vergangen und ich mache mich auch auf den Heimweg. Dort wartet niemand. Keine Alma oder Hannelore oder sonst irgendjemand, der ein leckeres Essen vorbereitet hat. Ich war schon immer ein Einzelgänger. Ein komischer Kauz. Und je älter ich werde, desto kauziger bin ich wohl. Sagt Harald jedenfalls. Der muss es schließlich wissen, denn wir kennen uns nun schon weit über 60 Jahre. Im Grunde ist er der einzige Freund, den ich habe – und den ich wohl je haben werde. Aber jetzt gibt es Konrad, der sich einfach mein Leben nimmt und darin breit macht, mit irgendwelchen Geschichten, die nicht zu mir gehören. Und zu allem Übel hat er sich auch noch einen Bart angeklebt. Was ihn deutlich von mir unterscheidet. Vielleicht ist er doch nicht ich. Vielleicht ist es nur jemand, der eine starke Ähnlichkeit hat. Wäre mir das lieber? Ich weiß keine Antwort. Auf nichts.
So sitze ich in meinem Lieblingssessel und warte. Sonst warte ich nie auf etwas. Vielleicht irgendwann einmal auf den Tod.
„Nur weil ich so viel allein bin, kommt mir so wirres Zeug in den Kopf“, schimpfe ich leise mit mir.
Und bevor ich mich in diesem düsteren Gedanken verliere, klingelt das Telefon. Wie elektrisiert schieße ich in die Höhe. Ich wusste gar nicht, wieviel Jugendlichkeit noch in mir steckt.
„Harald, bist du das?“, brülle ich in den Hörer.
„Schrei nicht so.“, beschwert er sich.
Ich bin sofort still und warte. Ich möchte ihn nicht verärgern, sonst erfahre ich am Ende gar nichts.
„Konrad ist Konrad …“ verkündet er und macht eine theatralische Pause. Typisch ist das wieder. Er kostet seine Überlegenheit immer aus. Trotzdem lausche ich gespannt in den Hörer. Es ist nicht der richtige Moment beleidigt aufzulegen. Was bedeutet das „Konrad ist Konrad“?
„Was heißt das“, frage ich fast schüchtern.
„Na, Konrad ist Konrad – und du bist du. Ihr seid zwei Personen. Geboren am selben Tag und in der selben Stadt.“ Selbst ich kann die Aufregung in seiner Stimme hören. Sie ist schriller und lauter als sonst.
Warum ist er überhaupt aufgeregt? Das betrifft doch mich. Mein Doppelgänger hat mich nicht nur meines Aussehens sondern auch meines Geburtstages beraubt – vom Geburtsort ganz zu schweigen Das ist wirklich ungeheuerlich.
„Das kann nur eins heißen …“ Haralds Stimme ist nur noch ein heißeres Flüstern.
Ich weiß wirklich nicht, was er mir sagen will und bin sehr beunruhigt.
„Er muss dein Bruder sein … dein Zwillingsbruder!“
Stille.
Ich versuche den aufsteigenden Lachanfall zu unterdrücken. Vergeblich – und pruste in den Hörer. Das ist wirklich ungeheuerlich. Ungeheuer lächerlich. Ich kann mich gar nicht beruhigen. Tränen rollen über meine Wangen. Es klickt in der Leitung. Harald hat aufgelegt. Er ist beleidigt.
Selbst schuld. Wie kommt er nur auf solch einen Schwachsinn.
Lachen strengt an. Völlig erschöpft sinke ich wieder in meinen Sessel. Harald spinnt. Total. Ein Zwillingsbruder. Ich habe keinen Bruder. Noch nie gehabt. Und doch. Erste Zweifel nagen an mir. Wie schnell bin ich doch zu verunsichern. Womöglich habe ich wirklich einen Bruder. Mit Bart. Harald hat sicher noch weitere Informationen und ich habe sie einfach weggelacht. Ich sollte ihn anrufen und mich entschuldigen, um weiteres zu erfahren. Oder ich starte meine eigenen Recherchen – erst einmal. Fragen kann ich ihn später immer noch. Sonst gibt es niemand, der mir da helfen könnte. Meine Eltern sind schon vor ewigen Zeiten gestorben. Vielleicht haben sie tatsächlich vergessen, mir Wichtiges mitzuteilen …
Auf jeden Fall kann ich hier nicht tatenlos herumhocken - und starte meinen Computer. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht ganz allein hinter das Geheimnis meines Doppelgängers komme …
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2019
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