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Die Pyramide der gefiederten Schlange

Etl ließ ihren Blick über das Tal schweifen. Seit vielen Sonnen kehrte sie täglich an diesen Ort zurück und wartete auf Etzel. Sie hoffte und wünschte dass der, dem ihre Gedanken gehörten, mit froher Kunde heimkehren würde und er so das Wohlwollen ihres Vaters erlangen konnte.

Für ihn, den Priester und Weisen von Xochicalco, war kein Mann gut genug. Wohlstand und Ruhm allein reichten ihm nicht aus. Der Krieger, den er vielleicht für seine Tochter, die Tochter der Sonne, in Betracht ziehen würde, musste zudem über eine hohe Spiritualität verfügen. Zumindest nahm Etl das an.

 

Der Wind hauchte seinen warmen Atem über das Land. Ein dunkler Schatten hob sich in weiter Ferne vom Grün der Täler ab und kam näher auf sie zu. Etl brauchte einen Moment um ihren Augen zu trauen, doch dann rief sie ihre Freude laut heraus. „Er ist wieder da! Seht doch! Etzel kommt zurück!“

Etl lief den Hang zu ihm hinunter, während sich die Menschen auf der Anhöhe versammelten und ihm laut zujubelten.

 

Etzel lächelte, als Etl auf ihn zustürmte. Er sah in ihre hellen, fröhlichen Augen und in ihr strahlendes Gesicht. Sein Lächeln breitete sich zu einem Grinsen aus und Grübchen zeigten sich auf seinen Wangen.

Er streckte seine Hand aus und ihre Hände streiften sich für einen kurzen Moment.

„Dein Vater“, gab er zu bedenken und sah den Hügel hinauf zu dem Mann, der ihn mit starrer Miene musterte.

„Bringst du gute Nachricht?“, fragte sie. Etzel lächelte wieder. „Ja, das tue ich. Glaubst du, dass er endlich in unsere Hochzeit einwilligen wird?“

„Er kann uns doch nicht für immer trennen“, machte Etl ihm Mut, „Ich werde ihn um Erlaubnis bitten.“

 

 

***

 

 

„Teotihuacán hat seine Macht verloren?“, aufmerksam folgte der Priester Etzels Worten, „Die Menschen werden sich nach Norden wenden und wir werden das neue Handelszentrum sein.“

Er klopfte Etzel anerkennend auf die Schultern. „Du bist ein ruhmreicher und wohlhabender Krieger. Meine Tochter hat mir deine Bitte zugetragen, doch, bevor ich dir eine Antwort darauf gewähre, verrate mir, wie steht es mit deinem Glauben?“

 

„Mein Glaube ist fest und unerschütterlich, mein Herr“, antwortete Etzel sicher.

 

Der Priester verneigte sich leicht vor ihm. „Das habe ich erhofft. Deine Aufgabe wird es sein, die Pyramide des Quetzalcoatl zu schützen und zu ehren.“

 

 

***

 

 

„Wo ist Etzel?“, fragte Etl ihren Vater, als die Sonne am Abend sank.

 

„Sie ist immer hungrig“, sinnierte der weise Mann zufrieden und ergriff ihre Hand, „täglich nimmt sie sich ein Leben mit auf ihren Weg und heute wird es Etzels sein. Siehst du ihren Glanz? Ihre schönen Farben? Etzel gefällt ihr. Die Pyramide der gefiederten Schlange wird durch ihn unsterblich sein.“

 

Etl zog ihre Hand zurück. „Du hast ihn geopfert? Ihn in die Pyramide eingemauert? Wie die anderen?“

 

Ihr Vater nickte. „Er war nicht ruhmreich. Nicht einmal bereit, sich opfern zu lassen! Für dich oder für uns alle zu sterben. Wir mussten ihn fesseln, sonst hätte er die Wand eingedrückt. Vermutlich hat er sich unter seiner Belohnung, der Vermählung mit der Tochter der Sonne, etwas ganz anderes vorgestellt.“

 

Etl nahm seine Hand wieder in die ihre. „Er war überrascht? Was glaubst du, Vater, woran er gedacht hat?“

 

 

Ende

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.09.2019

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