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Seelenverwandt

Der Umbau des „Roten Rössle“ hat sich wirklich gelohnt. Jedenfalls für mich.

Aus dem alten Kasten haben sie etwas ganz Besonderes gemacht. Die neue Fassade in strahlendem Weiß hat etwas sehr Elegantes. Ein echter Blickfang. Und natürlich der Empfangsbereich … das Herz eines jeden Hotels. Verschiedene Sitzgruppen, Tische mit bequemen Schwingstühlen und sogar eine kleine Bar. Die indirekte Beleuchtung verleiht dem riesigen Raum ein heimeliges Ambiente. Es gleicht jetzt mehr einem gemütlichen Wohnzimmer. Zugegeben einem sehr großen Wohnzimmer.

Im hinteren Teil des Raumes, sehr gekonnt integriert, gibt es zwei kleine Schalter zum Ein-und-Aus-checken. Wenn man weiß wie es geht, erledigt sich alles kurz und schmerzlos mit der Plastikkarte. Ich weiß nicht ob ich das könnte. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr geschickt und schon gar nicht erfahren.

Früher stand in Mitten der riesigen Empfangshalle ein klobiges Ungetüm. Die Theke. Dunkles Holz auf hochglanz poliert. Dahinter eine adrett gekleidete Dame. Weiße Bluse, dunkelblauer Rock – roter Lippenstift – korrekt onduliertes Haar … unverbindliches Lächeln. Mindestens zweisprachig wurde sie jedem Problem, das an sie herangetragen wurde, spielend Herr. Seltsamerweise haben wir nie ein Wort gewechselt. Die Dame und ich. Ich wüsste nicht einmal ihren Namen. Vielleicht war ich immer viel zu sehr in meiner Routine verstrickt. Immer darauf bedacht, dass alles so bleibt wie es schon immer gewesen ist.

Die Zimmer kenne ich nur vom Hörensagen. Ich nächtige nicht auswärts. Aber auch sie wurden generalüberholt. Klimaanlage, modernes Mobiliar, neue Toiletten sogar mit WC-Sitz-Desinfektion. Was will man mehr. Nein, ich habe sie nicht gesehen. Weder die alten noch die neuen Möbel und alles andere auch nicht. Wie gesagt, ich schlafe generell zu Hause.

Ich verkehre nur im Foyer oder in der sogenannten Lobby. Früher habe ich dort jeden Samstag meine Zeitung gelesen und ein Tässchen Kaffee getrunken. Es gab einen kleinen Tisch nahe der Empfangstheke. Mein Stammplatz. Dort war ich von 9.00 Uhr bis 11.30 Uhr zu finden. Leider hat mich nie jemand gesucht.  

Dies alles ist anders geworden. Und vielleicht, ja vielleicht werde ich recht bald in einem dieser neu ausgestatteten Zimmer übernachten. Denn mit dem Umbau des „Roten Rössle“ hat sich alles geändert. Auch mein Leben. Vorbei sind die Zeiten, an denen ich vormittags im Foyer herumlungerte, um mich nicht ganz so allein zu fühlen. Ich wollte etwas von dem pulsierenden Leben spüren, den Hauch der großen weiten Welt einatmen und davon träumen, einfach dazu zugehören. Naja, das mit der großen weiten Welt ist sicher ein bisschen übertrieben. So spektakuläre Gäste sind hier nie abgestiegen.

Nach dem Umbau wird mir vom neuen Manager nahegelegt, dass es nicht gewünscht ist, sich in der Lobby einfach nur so aufzuhalten. Ohne Zimmerbuchung.  Es gäbe jetzt Events aller Art …

…  z. B.  Ausstellungen bekannter als auch unbekannter Künstler, Philatelisten-Tauschbörsen, Jahrgangstreffen, Hochzeiten und Geburtstage – und die Freitagabend Singletreffs. Da wäre bestimmt etwas für mich dabei.

Ich nehme es ihm nicht übel. Jeder muss schauen wo er bleibt. Auch solch ein Hotel. Und so habe ich mich für die wöchentlichen Single-Treffs entschieden. Seltsamerweise bin ich irgendwie erleichtert, dass sich endlich einmal was in meinem Leben tut. Eine Veränderung, die mir praktisch aufgezwungen wird und die ich mir mit Sicherheit nicht selbst angetan hätte. Trotzdem nehme ich sie dankbar an. Vielleicht finde ich so ganz nebenbei meine Traumfrau.

Heute habe ich ein richtig gutes Gefühl. Anders als die Freitage zuvor, an denen ich nur als stiller Beobachter teilnahm, scheinbar unbeteiligt umherschlenderte und mich recht früh wieder auf den Heimweg machte. Zu feige, mich unter das „Volk“ zu mischen. Zu feige, endlich aus dem alten Leben herauszutreten. Aber heute bin ich mir sicher, dass es passiert. Warum? Ganz einfach, mein Bauchgefühl sagt mir das und darum werde ich endlich meine Traumfrau treffen …

Wer nicht wagt, der gewinnt auch nichts.

Ich habe mich für eine Jeans und ein knallrotes Poloshirt entschieden. Damit werde ich gesehen. Hundertprozent! Rot ist die Farbe der Liebe, der Lust und der Verführung. Rot tragen Menschen mit Selbstbewusstsein und genügender Eigenliebe. Außerdem ist es ein Markenshirt. Das Emblem ist gut sichtbar auf der Brusttasche angebracht. Ich war auch beim Friseur. Der neue Haarschnitt steht mir außerordentlich gut und gibt mir einen jugendlichen Touch. Ich habe mich sozusagen ebenso generalüberholen lassen wie das „Rote Rössle“. Bei dem Gedanken muss ich grinsen. Ja, ich bin prächtiger Laune. Das verleiht mir ein gutes Karma.

 

***

 

Es ist Zeit mich auf den Weg zu machen. Eine genaue Vorstellung von meiner Partnerin habe ich nicht. Ich bin da ganz offen. Vom Alter her sollte es halt so einigermaßen passen. Das ist die einzige Einschränkung, die ich habe. Ansonsten müsste es halt einfach „Bämmmm“ machen … in den ersten drei Sekunden. Ich bin mehr als gespannt.

Beschwingt betrete ich „meine“ Lobby. Trotz ihres neuen Kleides ist sie mir immer noch so vertraut. Ist sie doch schon immer mein zweites Zuhause gewesen. Ich bin überaus zuversichtlich und begebe mich sofort zum Check-In-Schalter und zücke meine Bankkarte. Ich werde ein Zimmer mieten. Heute! Zum ersten Mal! So wird das nämlich gehandhabt und ist auch so gewünscht. Vom Management. Es ist freitags meist ausgebucht. So wie jetzt. Ich bin zu spät.

„Die meisten Zimmer werden schon online reserviert“ erklärt mir die Dame, die früher die weiße Bluse und den dunkelblauen Rock trug. Heute „steckt“ sie in einer dieser verschlissenen, ausgefransten Jeans und einem figurbetonten T-Shirt. Ziemlich eng. Sie hat hübsche Brüste – gut erkennbar. Das ist mir früher nie aufgefallen.

Ich bin sehr enttäuscht. Nein, nicht der Brüste wegen.

„Aber … es gibt noch eine Suite. Die kostet natürlich etwas mehr“, dabei lächelt sie mich so unverbindlich an, dass es mir weh tut. Ein wenig Empathie hätte ich mir schon gewünscht, bei solch einem immensen Druck, den sie gerade auf mich ausübt.

„Sie müssten sich aber schnell entscheiden.“, fordert sie. Dabei zwinkert sie mir sehr aufreizend zu. Das verwirrt mich. Sie hat mir noch nie zugezwinkert – all die Jahre nicht.

Und jetzt soll ich mich auch noch schnell entscheiden. Dieses Zwinkern lässt mein Herz laut gegen meine Rippen pochen und stört erheblich den Denkvorgang. Und vor allem ist das gar nicht mein Ding. Schnell! Was glaubt dieses Fräulein denn wie lange ich gebraucht habe, mich für eine Übernachtung zu entscheiden. Wochen waren das. Ein innerer Kampf tobte in mir. Denn wenn ich dieses Zimmer nun umsonst bezahlte, weil sich niemand fände, der bereit für „Weiteres“ wäre. Für „Weiteres“! Schweiß tritt auf meine Stirn. Für dieses „Weitere“ fehlt mir jegliche Erfahrung. Ich weiß gar nicht woher ich den Mut nehme, überhaupt darüber nachzudenken. Aber einmal muss es ja sein. Ich bin nun schon 48 Jahre alt und ich habe das Gefühl, dass mein Leben in einer Stagnationsschleife gefangen ist. Nichts geht voran. Ich trete sozusagen seit Ewigkeiten auf der Stelle.

Aber seit dem sich das „Rote Rössle“ dieser Umgestaltung unterziehen musste, denke ich, dass auch für mich die Zeit der Veränderung gekommen ist. Schließlich sind wir Seelenverwandt. Die Lobby im „Roten Rössle“ und ich.

Also stehe ich da, starre abwechselnd auf das Auge, hoffend, dass es wieder zwinkert und die hübschen Brüste. Hin und her … und her und hin. Sehr unhöflich von mir, jemand so unverhohlen anzuglotzen. Es macht ihr jedoch nichts aus. Sie lächelt immer noch sehr unverbindlich. Wobei ihre Zungenspitze ab und zu ihre vollen Lippen benetzt. Das sieht ziemlich keck aus. Mein Herzschlag überholt sich selbst. Bestimmt pulst meine Ader am Hals wie verrückt – für jeden klar ersichtlich. Auch für sie. Oder gerade für sie. Ärgerlich. Es geht sie nichts an, wie verwirrend ich ihr Zwinkern und die Brüste finde.

„Ich nehme die Suite“, höre ich mich atemlos sagen. Irgendwer tief in mir drinnen hat das entschieden, ohne mich zu fragen - das Für und Wider abzuwägen. Unglaublich.

Sie nickt und lässt ein letztes Mal ihre Zunge zwischen ihren Lippen aufblitzen. Dann übernimmt sie für mich den Check-In.

„Bitte sehr, Herr Jeremias Müllerschön“, sie reicht mir eine Plastikkarte. Mein Schlüssel für die Suite.  „Sie können ihre Sachen schon hinaufbringen.“, erklärt sie mir dann.

Das verwirrt mich schon wieder. Welche Sachen denn? Bei all meinen Überlegungen habe ich nicht an eine Zahnbürste und meine Schlafmaske gedacht. Hilflos hängen meine Arme am Körper herunter. Mein Blick hat sich von ihren Brüsten gelöst und bohrt sich jetzt in das samtene Braun ihrer Augen. Solch schöne Augen habe ich lange nicht mehr gesehen. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass ich mir nicht die Mühe mache, die Augen anderer Leute zu studieren.

„Kommen sie mit dem Schlüssel zurecht?“, fragt sie mich.

„Ich weiß es nicht,“ antworte ich und zucke ratlos mit den Schultern.

Das rote Shirt erfüllt überhaupt nicht seinen Zweck. Ich wirke weder selbstbewusst noch weltgewandt. Ich bin einfach nur Jeremias Müllerschön.

„Dann helfe ich ihnen.“

Dankbar greife ich nach ihrer Hand. Sie lässt es geschehen. Dabei fällt mein Blick wieder auf ihre Brüste und erst jetzt sehe ich das kleine Metallschildchen, das da oberhalb ihres rechten Busens befestigt ist. Nelly

Einfach nur Nelly.                                                       

Währenddessen treffen immer mehr Leute ein. Die Sitzgruppen, die Schwingstühle und die kleine Bar sind schon längst überfüllt. Hier also soll ich meine Traumfrau finden. Und ich stelle fest, dass ich nun nicht mehr ganz so „offen“ bin. Außer dem passenden Alter sollte sie so hübsche Brüste haben, so warme braune Augen, solch eine kecke Zunge und ein freches Zwinkern besitzen wie meine Nelly.

„Meine“ Nelly. Über die besitzergreifenden Gedanken bin ich sehr verwundert. Das kenne ich gar nicht von mir.

Noch immer halte ich ihre Hand fest und starre in das bunte Treiben. Der Mut hat mich verlassen und ich möchte gerne nach Hause. Da muss ich nichts sein. Nicht souverän, nicht selbstbewusst oder eloquent. Dort bin ich einfach nur Ich. Jeremias Müllerschön.

Nelly merkt von meinem Zwiespalt nichts. Wie sollte sie auch. Sie dirigiert mich zu den Aufzügen, um mich dann zu meiner Suite zu bringen.  Ich habe ja dummerweise dieses unglaublich teure Zimmer gemietet. Für mein neues Leben, das gerade in ganz weite Ferne rückt.

Nelly öffnet inzwischen meine Suite und gibt der Tür einen kräftigen Stoß.

„Bitte sehr, Herr Müllerschön“, sagt sie lächelnd.

Ich finde ihr Lächeln diesmal gar nicht unverbindlich. Es ist, als gehörte es mir ganz allein.  

„Möchten sie mit hereinkommen.“, frage ich deshalb leise.

Sie nickt. Ich kenne Nelly schon so lange. In ihrer weißen Bluse und dem dunkelblauen Rock. Nie haben wir uns beachtet. Und jetzt das. Auch wenn mir ihr neuer Kleidungsstil nicht mehr so ganz altersgerecht erscheint, betrachte ich sie mit völlig neuen Augen. Die „alten“ waren wohl schon blind vor lauter Angst, es könnte tatsächlich etwas Aufregendes in meinem Leben passieren. Aber es ist nie zu spät. Auch nicht für mich.

Fast andächtig schaue ich mich um. Diese Suite erscheint größer und komfortabler als meine kleine Zweizimmerwohnung. Vielleicht ist es richtig hier zu nächtigen. Ein Anfang. Das vorsichtige Heraustreten aus einem starren Gestern. Etwas Neues beginnt immer mit dem ersten Schritt.

„Wie groß“, sage ich nur.

„Ja, eine tolle Suite“, Nelly hält wieder meine Hand fest. Wärme und Geborgenheit strömen durch meinen Körper.

„Ich habe um 22.00 Uhr Feierabend.“, sie lächelt nicht mehr, dafür schaut sie mich fragend an.

Mir wird schwindelig. Vor Glück natürlich.  Mein Herz bummert völlig außer Takt gegen mein Brustbein. Die Halsschlagader ist kurz vor dem Bersten. Sie kann die Unmengen Blutes, das wild durch meinen Körper jagt, nicht mehr bewältigen.

„Ich warte“, krächze ich heiser und bin froh, dass ich überhaupt ein Wort herausbekomme.                                                                                          

Nelly ist mein Ticket in ein neues Leben. Das hört sich jetzt sicher sehr unromantisch an. Aber mir ist klar geworden, dass sie meine Traumfrau ist. Alles an ihr erscheint mir perfekt. Ich habe es all die Jahre nicht bemerkt. Ich habe all die Jahre einfach an ihr vorbeigeschaut. Wir haben unendlich viel nachzuholen. Sie hat es geschafft, aus meinem grauen Gestern eine bunte Zukunft zu zaubern.

Jetzt sitze ich hier in dieser riesigen Suite und bin unsagbar glücklich … und natürlich unsagbar aufgeregt, denn ich kann es kaum erwarten, Nelly endlich in den Arm zu nehmen …

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2019

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