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Falschfahrer

„Unverständlich. Vollkommen unverständlich ...“, raunt Horst seinen beiden Freunden am Stammtisch zu. „Das ist, als wenn man ein anderes Universum betritt. Macht man Komplimente, ist es falsch, sagt man nichts, dann hat man auch vergeigt. Jetzt bin ich schon 12 Jahre verheiratet – und habe Marlene noch immer nicht verstanden. Alles, was ich mache, ist verkehrt.“

„Vielleicht hat sie einen anderen“, gibt Fred zu bedenken. „Zu Anfang sind die Frauen immer ganz zugänglich, aber mit der Zeit lässt das nach. Dann haben sie Migräne oder sonst irgendwas. Als Cornelia mich verlassen hat, war ich schlauer! Ein anderer Kerl. So’n Guru. Hat sie im Kurs kennengelernt.“

„Was denn für’n Kurs?“, fragt Ernst nach.

„Ein Weltversteher-Kurs oder so ähnlich. Lass mich nachdenken. Ach ja: „Finde zu dir selbst, dann findest du Zugang zu den anderen.“ Bei Cornelia hat das geklappt. Die ist mit diesem Franz auf und davon.“

„Ne? Den kenne ich“, meint Ernst. „Der Franz, der ist alles andere als schön. Aber als Auserwählter hat der einen Charme, eine Empathie, die unglaublich ist. Sogar für Männer. Ein echter Mentalist. Der hat was drauf!“

„Sag nicht, du warst auch in diesem Kurs“, staunt Fred. „Das ist doch was für Weicheier.“

„Mit deiner Einstellung kommt man auch nicht weiter“, widerspricht Ernst. „Ludmilla ist zumindest noch da. Stand bei uns auch scharf an der Grenze.“

„Früher gab es welche an die Moppen. Heute, mit der ganzen Gleichberechtigung und so, da darf der Mann ja gar kein Mann mehr sein. Abspülen muss er. Kochen und Wäsche bügeln. Ne, Jungs, da habe ich wirklich keinen Bock drauf! Soll sie doch glücklich werden mit ihrem Hanswurst. Mir ist das einerlei!“, schimpft Fred und bestellt noch eine Runde Bier.

„Schaden kann es ja nicht“, gibt Horst zu bedenken. „Meine Marlene hat auch ihre guten Seiten. Und hübsch ist sie. Für mich noch immer die schönste Frau der Welt.“

 

„Trink man noch ein Bier“, schlägt Fred vor. „Wenn man genug gesoffen hat, sind alle Frauen schön.“

„Was soll das denn heißen!“, moniert Horst. „Ich bekomme meine Marlene zurück. Ich kämpfe um sie. Bei Ernst hat das ja auch geklappt. Sag mal Ernst, wo muss man sich da anmelden?“

„Da ist der Haken, Horst“, antwortet Ernst. „Erst musst du einen Fragebogen ausfüllen. Die wollen wissen, wie weit du bist. Mit Empathie und so. Da kommt nicht jeder rein. Diese Kurse sind arg überlaufen. Insgesamt gibt das 5 Stück. Der 5. Kurs ist nur den Mentalisten oder Diplomaten vorbehalten. Deshalb wollte ich ja dahin. Beamter sein ist auf Dauer ziemlich langweilig. Aber leider hat meine Eignung nur für Kurs 1 ausgereicht. Viele haben nicht mal den Test bestanden – kann ich mir eigentlich schon was drauf einbilden. Aber gebracht hat das gar nichts, außer, dass Ludmilla noch an meiner Seite ist. Und die hätte sowieso keinen Besseren gefunden.“

Horst und Fred nicken bedächtig. „Ja. Die hat eigentlich viel Glück mit dir gehabt. So ne Frau mit drei Kindern nimmt nicht jeder. Fand ich damals schon erstaunlich, dass du das gemacht hast“, stimmt Horst ihm zu. „Hoffe mal, dass das keine Grundvoraussetzung für diesen Test ist. Aber du kannst mich nicht abschrecken. Ich versuche das. Wo muss ich mich anmelden?“

 

 

*** in einem Hinterzimmer einer heruntergekommenen Bahnhofskneipe ***

 

 

Drei Männer und zwei Frauen sitzen verloren auf einer schäbigen Bank in der besagten Kneipe und harren der Dinge, die da kommen sollen.

„Haben Sie auch diesen Test gemacht?“, fragt ein blonder, ängstlich wirkender, Mann mit Nickelbrille beinahe flüsternd in die Runde.

„Ja“, antwortet Horst. „Das Ergebnis liegt mir aber noch nicht vor.“

„Ich wollte mich ja nur selbst finden“, jammert eine der Damen. „Und nun finde ich mich in einer Bahnhofskneipe wieder. Tiefer geht ja wohl nicht mehr!“

 

„Wie ich sehe, haben Sie sich bereits kennengelernt“, begrüßt ein grauhaariger, schlanker Mittfünfziger die Gruppe. „Ich bin sehr gespannt, was sich aus dem heutigen Treffen ergeben wird. Jemand von Ihnen hat den Test mit sehr gut abgeschlossen. Das ist außergewöhnlich und in den letzten 5 Jahren noch nicht vorgekommen. Aus diesem Grund haben wir dieses 2. Treffen mit Ihnen arrangiert. Die gute Nachricht lautet, Sie alle wurden als Kursteilnehmer auserwählt. Für welchen Kurs Sie sich qualifiziert haben, entscheidet sich heute. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Fragen Ihnen nicht vorab bekannt gewesen sind, und durchleuchten Sie daher noch einmal.“

 

„Durchleuchten?“, fragt die Dame, die sich schon zuvor unwohl fühlte. „In so einer Bahnhofskneipe hört sich das nicht gut an. Ich fall immer auf die gleichen Männer rein! Dabei wollte ich mich doch nur selbst finden und einen anderen Weg zu anderen, nicht den, den ich schon kenne. Sie wollen doch auch nur das Eine von mir! Aber das mach ich nicht mehr mit! Durchleuchten Sie die andere Tante!“

„Wie bitte?“, empört sich Kandidatin 2 und zieht ihren Minirock weiter runter. „Ich bin nicht so Eine ...! Was erlauben Sie sich! Ne. So eine Schmuddelnummer habe ich mir auch nicht unter diesem Kurs vorgestellt. Wer ist denn nun der Auserwählte? Das erzählen Sie doch sicher allen Damen, damit sie willig sind!“

„Außerirdische“, stammelt der Kandidat, der bislang geschwiegen hatte. „Ich ahne es. Ich habe es geträumt, genau dieses hier. Ich habe gesehen, was sie mit uns vorhaben. Sie wollen uns zu Forschungszwecken in ihre Welt bringen. Ich weiß, dass ich Ihre Erwartungen übertroffen habe und der Auserwählte bin. Bringen wir es hinter uns und lassen Sie die anderen gehen.“

„Dies hier ist ein Vorgespräch und kein Gefängnis“, grinst der Moderator eine Spur zu selbstgefällig. „Wer nicht bleiben möchte, der darf jetzt gehen.“

Die zwei Frauen und der von den Außerirdischen Auserwählte verlassen den Raum. Zögerlich steht nun auch der schüchterne Blonde auf. „Mir ist das hier alles zu suspekt“, raunt er Horst zu. „Was ist mit Ihnen? Wollen Sie nicht mitkommen?“

Horst schüttelt verneinend mit dem Kopf und bleibt als Einziger von der Gruppe übrig. Mit leisem, aber doch deutlichem „Klicken“ schließt sich nach dem Verlassen der Leute die Tür.

„Nun sind wir allein“, bemerkt der Moderator beifällig, aber immer noch lächelnd. „Was anderes habe ich nicht erwartet. Sie?“

„Momentan verstehe ich von dem Ganzen noch nichts“, antwortet Horst. „Mir ist vollkommen schleierhaft, warum ein einziges Wort von Ihnen ausgereicht hat, hier diese Unruhe reinzubringen. Nun gut, der Raum ist nicht schön, aber ausreichend. Durchleuchtet werden wir Menschen doch seit Jahren. Warum bringt das eine Gruppe aus der Fassung?“

„Sie hinterfragen. Lassen sich nicht von Eindrücken täuschen. Das ist der Grund, warum Sie übrig geblieben sind. Am meisten erstaunt hat mich, dass Sie auf dem Fragebogen nicht eine einzige Antwortmöglichkeit angekreuzt haben, sondern im Gegenzug eine Frage stellten. Ist bislang noch nicht vorgekommen.“

„Die Frage habe ich noch immer. Warum ist der Kurs kostenlos? Sie sieben die Menschen aus. Nach welchem Prinzip? Sollte es nicht für einen Empathie-Kurs, der vom Amt für Bildung bezahlt wird, für jeden eine Förderung geben?“

„Sie spielen auf das Gleichheitsgesetz an“, grinst der Moderator und setzt sich nun zu Horst. „Das ist der Punkt, den Sie außer Acht gelassen haben. Sehen Sie nicht, dass alle Menschen gleich sind? Sie unterliegen ihren Ängsten, glauben an irgendwas und irgendwen. Vollkommen egal, ob das nun Gott ist oder Außerirdische. Ein jeder unterliegt dem Gruppenzwang. Geht einer in die falsche Richtung, dann laufen die anderen hinterher. Nein, mein Freund. Sie sind der, der sich im Gegenverkehr befindet. Sie bedürfen unserem Kurs.“

„Das hört sich für mich nach einem Systemfehler an. So, als würde man alle Menschen programmieren und steuern wollen. Ihnen den eigenen Willen entziehen. So etwas gab es früher mal. Heute ist das dank der Medien vollkommen antiquiert“, widerspricht Horst sicher.

„Was es früher an Zensur gab, wird heute durch Überfütterung von Nachrichten wettgemacht. Das menschliche Gehirn ist nicht in der Lage, die Schwemme von Nachrichten nach Wahrheitsgehalt zu filtern. Ein Hinterfragen von „echt und falsch“ ist aus Zeitgründen gar nicht machbar. Leute, wie Sie, sind zu unserem Glück selten geworden. Die Meinungsfreiheit ist eine schöne Sache, so lange alle glauben, dass es diese wirklich gibt. Es gab sie nie – und wird sie niemals geben. Daher müssen wir Individuen, wie Sie, mit in unsere Arbeit einbeziehen – oder – eliminieren.“

„Sie wollen mich töten?“, fragt Horst ungläubig. „Weil ich keine Empathie besitze, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen? Machen Sie sich nicht lächerlich. Von Leuten, wie mir, gibt es viele. Ich habe diesen Kurs nur ausgewählt, weil ich meine Frau nicht mehr verstanden habe. Der Rest Ihrer Politik interessiert mich nicht.“

„Ihre Frau schwimmt längst in unserem Fahrwasser, Horst Schneider. Auch Ihr Freund Ernst ist einer von uns. Den haben wir auf Sie angesetzt. Es gilt, bei jedem Menschen Schwächen festzustellen und diesen durch seine eigenen Empfindlichkeiten gefügig zu machen. Was würden Sie tun, um Ihre Frau zurückzubekommen?“

„Vermutlich alles“, gibt Horst zu und schaut dem Moderator in dessen eisblauen Augen.

„Sehen Sie, dabei helfe ich Ihnen. Sie müssen sich nur unserem Kurs anvertrauen.“

„Mich einer Gehirnwäsche unterziehen?“, schimpft Horst. „Damit ich werde, wie Sie mich haben wollen? Vielleicht verzichte ich dann doch besser auf meine Frau. Was bleibt von meiner Persönlichkeit übrig, wenn ich denke, wie der Rest?“

„Es lebt sich danach wirklich leichter, Herr Schneider. Sie ecken nirgendwo mehr an. Finden viele Freunde. Schwimmen auf gleicher Welle. Was will man mehr?“

„Was ist mit den anderen? Mit denen, die gegangen sind? Warum waren die hier? Ist das alles nur ein Spiel gewesen, um mich zu testen?“

„Aber nein. Keineswegs. Wie kommen Sie darauf? Bei allen vier gab es Abweichungen von der Norm. Aber, wie Sie selbst erlebt haben, ohne Gefährdung für unser System. Der richtige Raum, der richtige Satz, und alles bringt die Menschen in die richtige Richtung. Ihr Fehler, dass Sie kein Mitläufer sind. Nun sind Sie hier, bei mir, gefangen am Bahnhof in einem Hinterzimmer. Sie kommen hier nicht mehr raus. Das ist Ihnen klar, oder nicht?“

Horst zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Ob eine Welt, wie diese, vor allem ohne meine Frau, noch lebenswert für mich ist, kann ich Ihnen noch nicht einmal beantworten. Sie spielen mit Vorurteilen und mit den Ängsten der Menschen. Nur der, der diese hinter sich gelassen hat, ist wirklich frei. Was wollen Sie mir nehmen? Wie mich beherrschen? Nein. Ich fürchte mich nicht. Nicht vor Ihnen und nicht vor dem, was da vielleicht noch auf mich zukommt.“

„Wir töten niemanden, Herr Schneider. Wir lassen Einweisen. Das ist alles. Ich gebe Ihnen jetzt die allerletzte Möglichkeit, sich uns anzuschließen und weitere Individuen aufzuspüren. Ihre Alternative ...“ Er stand auf und holte eine Spritze aus seiner Tasche, „... ist dieses Serum hier. Nur ein kleiner Pieks und alles ist vorbei.“

Horst springt von seinem Stuhl auf und versucht dem Moderator die Spritze zu entreißen. An mehr erinnert er sich nicht, denn Dunkelheit erfüllt auf einmal den Raum.

 

 

***

 

„Horst! Horst, schläfst du?“ Müde öffnet Horst seine Augen und starrt auf das volle Bier, vor ihm auf dem Tisch. Erst jetzt spürt er Ernst, der ihm auf die Schulter klopft.

„Ich glaube, der hatte zu viel“, meint Fred. Der Streit mit seiner Marlene nimmt ihn ganz schön mit. Wir sollten zahlen und nach Hause gehen.“

Ernst nickt zustimmend. „Komm, Horst, ich nehme dich mit.“

„Ne, lass mal“, wehrt Horst seinen Freund ab. „Ich gehe zu Fuß. Die frische Luft bekommt mir sicherlich am besten.“

Ernst grinst und drückt ihm eine Karte in die Hand. „Vergiss nicht, dich beim Kurs anzumelden. Der ist sogar umsonst. Wird vom Bildungsministerium gesponsert. Das muss man wahrnehmen.“

Horst nimmt die Karte entgegen und starrt dann in Ernsts Augen. Umständlich zwängt er sich in seinen Mantel und tritt zur Tür hinaus. „Was für eine Idee“, murmelt er vor sich hin und fragt sich, seit wann Ernst so eisblaue Augen hat. Noch einmal schaut er auf die Karte und zerreißt diese in viele Teile. „Wer will schon diese Welt verstehen“, denkt er bei sich. „Besser ist, ich folge ich meiner eigenen Empathie und lade Marlene zu zweiten Flitterwochen ein.“

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.05.2019

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