Cover

Herr Santhrop und die Hypnose

Mit tiefer Befriedigung legte Herr Michael Ignatius Santhrop sein Buch beiseite. Es war immer wieder erhebend, sich mit dieser Lektüre zu befassen. Schopenhauers Meinung über die Menschen und seine glasklare Logik stimmten so sehr mit seiner eigenen überein, dass Michael Ignatius oft genug aus dem Staunen nicht herauskam.

Und weil er gerade in Hochstimmung war, beschloss Santhrop, sich einem seiner heimlichen Laster hinzugeben. In der Stadt war dieser Tage Jahrmarkt, da wollte er sich ein wenig umsehen, sich gebührend über die dummen Menschlein lustig machen, die Achterbahn fuhren und ihr Geld verpulverten, um eines vorübergehenden Nervenkitzels willen.

 

Leider hatte Herr Santhrop nicht ins Kalkül gezogen, dass an diesem Abend das Feuerwerk stattfand, und deshalb mehr Menschen unterwegs waren, als sonst. So geriet er gleich zu Anfang in eine zielorientierte Menschentraube, wurde vorwärts geschoben und gelangte in eine Sackgasse. Eine flackernde und musikalisch untermalte Leuchtreklame mit der Aufschrift „Hypnose“ und zwei offene Türen lockten die Massen, und sozusagen im Würgegriff begeisterter Leute wurde Herr Santhrop hineingespült. Weil er immer noch versuchte, jede Berührung zu vermeiden, vergebens reflexartig wegdrängte, stand er plötzlich am Seitenaufgang zur Bühne.

Zum wiederholten Mal rückte ihm die gleiche dickbusige Frau auf den Pelz. In seiner Not flüchtete Michael Ignatius die Treppe hinauf und landete auf der Bühne.

Um von dieser wieder herunterzukommen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu überqueren, denn hinter ihm tummelte sich das gemeine Volk bis zum Aufgang der Stiege. Gerade, als er bis zum Podium vorgedrungen war, trat ihm ein Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf in den Weg.

 

„Oh, da haben wir ja schon einen Freiwilligen“, begrüßte ihn der große Meister Mesmer Milton, denn um keinen Geringeren als den weltbekannten Hypnotiseur handelte es sich.

„Verdammt will ich sein …“, stieß Herr Santhrop hervor, während er sich an Herrn Milton vorbeimogeln wollte. Doch so leicht sollte er nicht davonkommen.

„Einen Moment noch“, hielt der ihn auf und schaute ihm tief in die Augen. Sofort wurde Michael Ignatius müde und seine Beine ließen ihn im Stich. Er torkelte und griff dankbar nach der hilfreich dargebotenen Hand des Meisters. Der geleitete ihn zu einem Sessel, der als einzige Requisite auf der Bühne stand, und Michael Ignatius versank darin. Seine Augen fielen zu und binnen Sekunden war er eingeschlafen.

 

„Bitte nehmen sie Platz, meine Damen und Herren!“, wandte sich der Milton an das Publikum. „Sie werden heute einer Weltsensation beiwohnen können. Der Titel meiner Show ist ‚Umgestaltung‘, und einer solchen werden sie beiwohnen. Dieser Mann hier, der sich freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, wird vor ihren Augen seinen Charakter verändern. Wir werden zunächst ausloten, ob er eher zu den warmherzigen oder den unterkühlten Zeitgenossen gehört. Anschließend werde ich ihn für mindestens vierundzwanzig Stunden umdrehen. Machen Sie sich auf ein kleines Wunder gefasst.“

 

Das Gemurmel im Zuschauerraum verstummte, als sich Herr Milton an Michael Ignatius wandte.

„Können Sie mich verstehen?“

„Ich bin doch nicht taub! Blöde Frage!“ Der große Mesmer grinste ins Publikum.

„Darf ich Ihren werten Namen erfahren?“

„Santhrop, aber das geht sie eigentlich gar nichts an. Kann ja jeder dahergelaufene Dämlack kommen und wissen wollen, wie ich heiße.“

„Sind Sie vielleicht ein bisschen schlecht gelaunt, Herr Santhrop?“

„Ich bin nie schlecht gelaunt! Oder sehe ich so aus?“ Und tatsächlich, Michael Ignatius hatte keineswegs einen Gesichtsausdruck, der ihn Lügen gestraft hätte. Zudem erklärte der Magier dem Publikum: „ In der Hypnose muss er die Wahrheit sagen - seine subjektive natürlich. Mal sehen, was er auf die nächste Frage antwortet.“

 

„Mögen Sie mich?“

„Natürlich mag ich Sie! So wie ich Pest und Cholera mag. Aber machen Sie sich nichts draus, dass Sie strohdumm sind. Es geht Ihnen wie einem hochgradig dementen Menschen: er merkt nichts davon, und wenn doch, hat er es gleich wieder vergessen.“

 

„Sie sehen“, wandte sich der Meister wieder ans Publikum, „wir haben es hier mit einem ganz besonders herzigen Zeitgenossen zu tun. Zur endgültigen Klärung seiner Persönlichkeitsstruktur werde ich eine letzte Frage vor der Tiefschlaf-Umwandlung stellen.“

Mit einschmeichelnder Stimme bat er:

„Herr Santhrop, erzählen Sie uns doch mal ihre liebste Erinnerung.“

Michael Ignatius strahlte über das ganze Gesicht, während er die folgende Episode zum Besten gab.

„Das war im Februar, in Mainz, vor etwa dreißig Jahren. Professor Silbernagel hat mich durch die Prüfung rasseln lassen und ich war so stinkwütend, dass ich ihn hätte umbringen können. Nichts von dem, was ich gelernt hatte, wollte er wissen, hat nur völlig unwichtiges Zeug gefragt. Also hab ich vor dem Prüfungszimmer gewartet, um ihm mal ordentlich die Meinung zu sagen. Doch ich kam nicht mehr dazu, denn während der Prüfung der Studentin nach mir, erlitt er einen Herzinfarkt und musste mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht werden. Nie wieder habe ich eine derart prompte Wunscherfüllung erlebt.“

Aus Michael Ignatius‘ Gesicht leuchtete eine Freude, die er sich im wachen Zustand niemals zu zeigen erlaubt hätte.

 

„Wir haben hier das ideale Studienobjekt, denn ich werde an ihm vorführen, zu welch tief greifender Metamorphose ein Mensch in Hypnose fähig ist“, erklärte der Bühnenkünstler. „Und sie wird auch nach dem Erwachen noch anhalten, mindestens vierundzwanzig Stunden, das kann ich garantieren.“

Herr Milton war sich seiner Sache sicher, das vermittelte er dem Publikum, und man wartete gespannt auf das Ergebnis.

 

„Herr Santhrop“, näherte er sich seinem Opfer, „ich male Ihnen jetzt mit Filzstift ein Herz auf die linke Wange. Solange dieses Symbol sich dort befindet, werden sie ihre Mitmenschen lieben und nur das Beste von Ihnen erwarten. Werden Sie tun, was ich von Ihnen verlange?“

Michael Ignatius‘ Gesicht veränderte sich in beängstigender Weise. Wie in großem Schmerz riss er die Augen auf und ein leidender Ausdruck ersetzte den freudigen von gerade eben. Mit gepresster Stimme gab er einen Laut von sich, den man mit einiger Fantasie als „Ja“ interpretieren konnte. Erst als das Herz auf seiner Wange prangte, lösten sich seine Züge wieder.

 

„Herr Santhrop, werden sie meine Fragen weiter beantworten?“

„Liebend gerne“, entrang sich seinem Mund, doch der Klang der Stimme strafte den Inhalt der Antwort Lügen.

„Und was denken Sie über die hier anwesenden Zuschauer?“

„Das sind hervorragende Menschen, denen ich ohne zu zögern mein Leben anvertrauen würde.“

Wieder gab es eine Diskrepanz zwischen Mimik und Klangfarbe der Stimme einerseits und Inhalt der Aussage andererseits. Ein Augen- und Ohrenschmaus für die Zuschauer, die in schallendes Gelächter ausbrachen.

„Ich bin begeistert, dass ich ihnen zur Belustigung dienen kann“, endete Michael Ignatius mit vor Ekel verzerrten Zügen.

 

Der Entertainer setzte seine Befragung noch einige Zeit fort, bis sich erste Ermüdungserscheinungen beim Publikum bemerkbar machten. Er beendete seine Bühnenshow mit den Worten: „Dann wollen wir den Armen mal wieder erlösen. Einen derart schwierigen Fall hatte ich wirklich noch nicht auf der Bühne. Bitte Applaus für den werten Herrn Santhrop!“

 

Unter dem mäßig begeisterten Klatschen der Zuschauer schnippte Herr Milton direkt vor Michael Ignatius‘ Augen. Misstrauisch schaute dieser sich um, stand dann so heftig von seinem Sessel auf, dass der mit Gepolter umfiel.

 

„Verdammte Hacke! Hast du mich etwa hypnotisiert?!“, brüllte er den großen Meister so wütend an, dass ein Sprühregen von Spucke im Bühnenlicht glitzerte. Als Herr Milton ihn entgeistert anschaute, konnte man beobachten, wie auf der Bühne ein Pulverfass in Zeitlupe explodierte.

Mit zwei großen Schritten ging Herr Santhrop auf seinen Peiniger los und holte aus. Erst im letzten Moment besann er sich. Statt den großen Meister zu schlagen, klatschte er unmittelbar vor dessen Nase in die Hände, sodass der zurückfuhr, über den Bühnenrand stolperte und in die erste Zuschauerreihe plumpste.

„Na, habt ihr euch gut amüsiert?“, schrie Herr Santhrop den Leuten zu. „Ihr seid so ein widerliches Pack!“, fügte er hinzu. Sein wilder und bedrohlicher Blick ließ alle Leute auf seinem Weg zum Ausgang zurückweichen, sodass er unbehelligt dorthin gelangte.

Als er in die kalte Oktoberluft hinaustrat, nahm er einen tiefen Atemzug und ließ die Luft geräuschvoll wieder entweichen.

 

„Mensch Santhrop“, beschimpfte er sich selbst, „wie konntest du nur so blöd sein? Geschieht dir ganz recht!“

Mit grimmiger Miene trat er nach einem Stock, dessen Flug und Landung in einer Hecke die Spatzen aufscheuchte, die sich bereits zur Ruhe begeben hatten.

„Es war schrecklich heute!“, setzte er seine Selbstbemitleidung fort. „Und das Allerschlimmste ist: Ich habe das Gefühl, während der Hypnose etwas unsäglich Dummes getan zu haben. Als ich aufwachte, hatte ich einen Moment das Bedürfnis, den Scharlatan auf der Bühne zu umarmen. Zum Glück bin ich rechtzeitig zur Besinnung gekommen. Nicht auszudenken …“

 

Noch einige Zeit lang wachte Michael Ignatius mitten in der Nacht auf und grübelte darüber nach, warum er im Traum wildfremde Menschen küsste.

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.05.2019

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /