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Alles nur Illusion

Ich krieche in Köpfe und lese dort Gedanken. Nicht nur die, die man erahnen könnte – nein, ich lese sie alle. Die Ungesagten. Die Geheimen. Die Schönen und die Hässlichen.

Das ist meine Show.

Alles nur Illusion ... so scheint es jedenfalls.

Und deshalb gibt es ihn nicht wirklich. Den Mentalisten. Es ist ein Name. So wie Akrobat oder Sänger. Künstler eben. Extra dafür erschaffen, um zu unterhalten, um die Menschen in Staunen zu versetzen.

Jeder auf seine Weise und ich im Speziellen mit der Magie. Es bereitet Gänsehaut, wenn ich ans Licht bringe, was sie bis eben noch wohlbehütet in ihren Köpfen wähnen.

Ja, sie lassen sich gerne auf mich ein, um sich von mir in die Welt des Unerklärlichen entführen zu lassen.

 

Und doch versuchen sie, mir auf die Schliche zu kommen. Den Trick herauszufinden. Gedanken sind frei und niemandem ist es möglich, tatsächlich in Köpfe „zu schauen“. Es gibt für alles eine Erklärung. So belauern sie mich, um mich dann überführen zu können. Aber es wird ihnen nicht gelingen. Keinem. Denn es gibt keinen Trick.

Es ist eine Gabe. Meine Gabe. Sie ist wie ein Fluch, der schwer auf meinen Schultern lastet.

Auch wenn ich es nicht will, passiert es einfach, so wie man mit den Augen schaut und den Ohren hört … so lese ich in ihnen, wer oder was sie wirklich sind. Der Blick hinter diese Fassade ist oft sehr erschreckend. Immer wieder.

 

***  

 

Als Mentalist stehe ich Abend für Abend auf der Bühne und verblüffe mein Publikum. So auch heute.

Der letzte Applaus verebbt nur langsam. Zum x-ten Mal verbeuge ich mich, schicke mein strahlendes Lächeln in den großen Saal. Blumen fliegen auf die Bühne ... und Plüschtiere. Ich verschenke sie. An Kinderheime. Man mag es mir nachsehen. Diese Flut an Liebesgaben wäre nicht zu bewältigen. Ich müsste eigens dafür ein Zimmer anmieten, um sie gebührend aufbewahren zu können. Und wo ist ein Kuscheltier nicht besser aufgehoben als in den Armen eines Kindes.

Ein letzter Blick ins Publikum. In ihre begeisterten Gesichter und ich atme die Welle der Zuneigung ein, die mir entgegen strömt. Tiefer und tiefer. Wieder und wieder. Ich gebe zu ich liebe es, geliebt zu werden. Weil ich sonst niemand habe, der mich liebt.

 

Vielleicht kann man sich vorstellen, wie schwierig es ist eine Beziehung mit jemandem zu führen, der jeden Gedanken lesen kann, dem nichts verborgen bleibt.

Meine Welt ist gläsern, ich weiß was ich sehe und sehe was ich weiß.

Vertrauen kenne ich nicht. Und trotzdem sehne ich mich danach, dieses Gefühl einmal erleben zu dürfen. Uneingeschränktes Vertrauen. Sich auf Gesagtes verlassen zu können und in warmer Geborgenheit zu versinken. Für mich wird es ein Traum bleiben.

 

Ich bin mit dem Wissen großgeworden, dass Worte bedeutungslos sind. Schon in dem Augenblick, wo sie ausgesprochen werden. Der Schmerz der Enttäuschung ist nicht weniger, nur weil man den Verrat von erster Sekunde an weiß. Es tut weh, in Augen zu schauen und Worte zu hören, die nicht sagen, was sie wirklich meinen. Deshalb habe ich mir eine Mauer gebaut. Um mich selbst. Eine Mauer, die mich unendlich einsam macht.

 

Mit wehem Herzen schaue ich in die erste Reihe. Seit genau zwölf Vorstellungen sitzt dort eine Frau immer auf dem gleichen Platz. Eine sehr hübsche Frau. Braune, lockige Haare umrahmen ihr schmales Gesicht. Mit großen ausdrucksvollen Augen schaut sie zu mir hinauf, um dann wieder den Blick zu senken, als wäre ihr irgendetwas peinlich. Es ist wie ein Spiel. Unbemerkt von den Leuten. Nur zwischen ihr und mir. Ein Spiel, das mein Herz schneller schlagen lässt und das Blut heiß durch meine Adern jagt. Jeden Abend. Seit zwölf Vorstellungen.

 

Nach meiner allerletzten Verbeugung verschwinde ich hinter dem samtroten Vorhang, um von dort aus heimlich in den Saal zu spähen. Sie sitzt immer noch eine lange Weile auf ihrem Platz. Klein und verloren wirkt sie zwischen den leeren Stuhlreihen. Ich verfolge jede ihrer Bewegungen, bis sie irgendwann aufsteht und geht. Jedes Mal wünschte ich, dass sie noch bliebe. Törichte Gedanken und doch merke ich, wie meine Mauer zu bröckeln beginnt. Es wird dauern, bis ich sie wieder in Ordnung gebracht habe. Ich kann es nicht zulassen, dass irgendwer oder irgendwas meinen Schutzwall einreißt. Es fehlt mir einfach der Mut, aus meinem Leben auszubrechen. Etwas zu verändern.

 

Gib ihr eine Chance“ sage ich in drängendem Ton zu mir. Ich sage es so laut, dass ich mich fürchterlich über meine Stimme erschrecke - und über den Sinn der Worte. Unwillig schüttle ich den Kopf.

Und doch … was wäre schon dabei, sie anzusprechen. Sie gibt mir schließlich die Gelegenheit dazu. Abend für Abend.

Aber ich schleiche mich jedes Mal feige in meine Welt zurück.

 

***

 

Zeit, nach Hause zu gehen. Als ich die Tür ins Freie öffne, setzt mein Herzschlag aus …

das Blut stockt in den Adern. Alle Farbe weicht aus meinem Gesicht. Die totale Hirnleere.

 

Da steht sie. Diese wunderschöne Frau aus der ersten Reihe. Am Fuß der Steintreppe. Es scheint, dass sie auf jemand wartet. Womöglich auf mich.

Mir wird mit einem Male ganz schwindelig. Ich versuche Fassung zu bewahren. Schon wieder solch törichte Gedanken. Warum sollte sie gerade auf mich warten?

 

Sie winkt und lächelt in meine Richtung. Irritiert drehe ich mich um. Hinter mir steht niemand. Meint sie tatsächlich mich? Die Hirnleere steigert sich – wenn das überhaupt möglich ist. Meine Beine geben etwas nach. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, konzentriere mich auf die Stufen.

Sie lächelt immer noch.

 

„Endlich lerne ich dich persönlich kennen.“, sagt sie leise.

 

Was soll ich antworten? Stumm ergreife ich ihre mir dargebotene Hand und schäme mich für mein schon fast plumpes Verhalten. Ich glaube, ich bin in den letzten Jahren sehr wunderlich geworden –   hinter meiner Mauer.

Und ich tue das, was ich am besten kann. Gedanken lesen.  

Aber was ist los? Es funktioniert nicht.

Aus Verwirrung wird Panik. Kalter Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Wie kann das sein?  So wie man mit den Augen schaut und den Ohren hört … so einfach ist mein Blick in das Innerste der Menschen. Bis eben noch.

Was passiert gerade mit mir? Ich fühle mich plötzlich so hilflos. Ohne dieses Wissen, was der Andere denkt, verliere ich jegliche Bodenhaftung. Niemals hätte ich das vermutet. Wie oft habe ich es mir genauso gewünscht. Völlig unbedarft auf Menschen zugehen zu können. Zu Glauben und zu Vertrauen.

 

Noch immer halte ich ihre Hand fest in der meinen. Starre ihr fast unverschämt ins Gesicht und versuche mich immer wieder in ihren Kopf zu denken. Erfolglos.

 

„Die Dame aus der ersten Reihe“, endlich sage ich etwas. Meine Stimme klingt ungewöhnlich rau. Mein Lächeln misslingt. Mein Herz bummert aufgeregt gegen die Rippen. Für diese Frau würde ich alle meine Bedenken über Bord werfen, meine Mauer selbst niederreißen. Mit ihr würde ich es versuchen wollen – endlich glücklich zu sein.

 

„Paulina“, erwidert sie.

 

„Hector“

 

Ich weiß“, sie strahlt mich noch immer an.

Natürlich weiß sie es. Was für ein Dummkopf bin ich doch.

 

„Du bist kein Dummkopf.“

 

Was redet sie da? Habe ich das laut gesagt?

 

„Nein, du hast es nur gedacht.“ Sie wirkt sehr zufrieden.

 

Fassungslos starre ich sie an. Was tut sie da? Kann sie Gedankenlesen? Meine Gedanken?

 

„Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“, fragt sie mit ihrer leisen Stimme.

 

Ich fühle mich unwohl, bei dieser direkten Frage. Ist das nicht die Aufgabe des Mannes Einladungen auszusprechen. Da bin ich noch von Gestern übriggeblieben. Irgendwie. Das hat nichts mit meiner Gabe zutun. Dieser Gabe, die mir im Moment abhandengekommen ist.

 

„Sehr gerne“, sage ich trotzdem.

 

Aber im Grunde müsste ich gar nicht antworten. Sie kann ja offensichtlich Gedankenlesen.

 

Sie nickt mir zu und es ist als ob sie jedes ungesagte Wort in meinem Kopf verstanden hätte. Was für ein Irrsinn.

 

„Nein, du hättest nicht antworten müssen.“, bestätigt sie mir.

 

Vielleicht ist es möglich, Gaben zu stehlen. Vielleicht hat SIE sie mir einfach weggenommen -  während der Vorstellung oder gleich danach. Schließlich sitzt sie Abend für Abend in der ersten Reihe und starrt zu mir hinauf. Ich bin wirklich sehr verwirrt. Auf was für einen Quatsch man kommt, wenn sich Verzweiflung breit macht. Und ich bin verzweifelt. Sehr sogar. Mir war nicht klar, dass ich mich ohne mein Talent so ausgeliefert fühle. So schutzlos, dass ich irgendwie nur noch ein halber Mensch bin.

 

***

 

Es ist ein sehr gemütliches kleines Café, in das mich Paulina entführt. Sie ist eine unglaublich schöne Frau. Trotz allem Misstrauens schlägt mein Herz immer noch unruhig, wenn ich in ihre Augen schaue. Und ich schaue ständig in ihre Augen … doch ihre Gedanken bleiben mir verschlossen.

 

“Es ist ein Trick, Hector“, zart streicht sie mit dem Finger über meine Hand, die neben meiner Kaffeetasse ruht. Es fühlt sich gut an.

 

„Was für ein Trick?“ frage ich irritiert.

 

„Ich bin wie du … aber besser. Besser in dem Sinne, dass niemand MEINE Gedanken lesen kann. Es ist ein Trick und wenn du möchtest verrate ich ihn dir.“

 

Ein Trick. Es ist nur ein simpler Trick. Und ich dachte ich hätte meine Gabe verloren. Sie ist nicht nur hübsch, sie ist klug … sie ist alles was sich ein Mann nur wünschen kann. Was ich mir jemals gewünscht habe. Wenn das wirklich funktioniert, wie sie es gerade sagt, dann wären wir wie alle anderen. Einfach nur ein Paar. Wir müssten einander vertrauen. Einfach so. Worte bekämen plötzlich eine Bedeutung, weil wir nichts anderes hätten als an sie zu glauben.

Dies alles gilt es abzuwägen.

Aber die Waagschale hat sich bereits geneigt. Schon sehr lange. Vom ersten Moment an, war mir klar, dass sie die Frau meiner Träume ist.

 

Konzentriert starre ich in meinen Kaffee. Ich brauche ihr dies alles nicht sagen. Meine Gefühle liegen offen da. Jeder meiner Gedanken, ist für sie wie ein Buch, in dem sie nur zu lesen braucht. Und wenn es Paulina möchte sogar mit einem Happy End – für uns beide. Ich traue mich nicht, sie wieder anzusehen und doch suche ich ihren Blick.

 

Warm legt sich ihre Hand über die meine.

 

„Ich würde es auch gerne versuchen, Hector.“ Ihre Augen haben diesen ganz besonderen Glanz.  

Sie ist wie ich – das ist unsere Chance. Es würde alles gut werden. Ich weiß es einfach.

 

Und obwohl sie mich gerade meiner Einzigartigkeit beraubt hat, fühle ich mich glücklich. Sehr glücklich sogar.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.05.2019

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