„Es kann doch nicht so schwer sein, sie irgendwo unterzubringen“, geschäftig blätterte meine Sachbearbeiterin in irgendwelchen Ordnern.
Ich weiß nicht, wie oft ich hier schon sinnlos gesessen habe. Unwillig hob ich den Kopf. Ich wollte nicht IRGENDWO untergebracht werden. Ich war schließlich ein Talent. Doch schien das niemand zu interessieren. Auch nicht die nervige Dame von der Arbeitsvermittlung, die ziemlich erhaben hinter ihrem Schreibtisch thronte. Sie hatte schätzungsweise mein Alter und sah ganz passabel aus. Leider spielte das bei unserem Gespräch keine Rolle. Jedenfalls nicht für mich.
„Sie haben keinerlei Qualifikation.“ Sie kräuselte den Mund und blinzelte über ihre randlose Brille.
„Aber ich habe Talent“, konterte ich selbstbewusst.
„Und was für eins?“ Sie entkräuselte wieder ihre Lippen und schaute mich neugierig an.
„Alles, was sie wollen.“
Bei diesen von mir sehr ernst gemeinten Worten zuckten ihre Mundwinkel leicht nach oben, als ob sie lachen wollte. In ihren Augen blitzte es belustigt auf. Sie sah auf einmal so menschlich aus. Ein magischer Moment – für mich.
Von einer Sekunde auf die andere hatte ich mich verliebt. In dieses Fräulein Soundso. Ich schielte auf das Namensschild, das auf ihrem Schreibtisch stand. Damit hatte ich mich noch gar nicht beschäftigt. Birte Schulze las ich.
Naja, dafür konnte sie nichts. Kein Grund sich wieder zu entlieben.
Wie befreit strahlte ich sie an. Ja, ich hatte wirklich viele Talente … auch mich zu verlieben. Von jetzt auf nachher. Das sollte mir mal jemand nachmachen.
„Ich hätte es gern etwas konkreter.“ Mit ihrer fordernden Stimme holte sie mich von meiner rosaroten Wolke.
Was wollte sie jetzt hören was ich nicht schon tausende Male zuvor gesagt hatte? Ich konnte singen und tanzen. Ich konnte das Leben genießen. Ich hatte Ausstrahlung, riss Menschen in meinen Bann. Auch Birte. Sie merkte es nur noch nicht.
Meine innere Stimme warnte mich davor, ihr hier und jetzt meine Liebe zu gestehen. Wir mussten erst das Geschäftliche klären – das Ganze etwas langsamer angehen.
Sie sollte mich endlich vermitteln. Ich wollte ihr schließlich etwas bieten. Meiner Birte.
„Hallo???“, quäkte es störend in meine Gedanken. Irritiert schüttelte ich den Kopf. Sie schien zu der ungeduldigen Sorte Mensch zu gehören. Aber selbst das war kein Grund für mich, mit ihr sofort wieder „Schluss“ zu machen. Daran ließe sich ja arbeiten. An ihrer Ungeduld. Später einmal.
„Ach Birte“, nuschelte ich so leise, dass sie es nicht verstehen konnte. Sich beim Vornamen zu nennen war noch nicht der richtige Zeitpunkt.
„Bitte?“
„Was können sie mir denn heute anbieten.“, fragte ich stattdessen.
Sie schob mir daraufhin zwei Stellenausschreibungen zu. Ich überflog die beiden Blätter.
„Naja“, dachten meine Gedanken.
„Dankeschön“, sagte ich artig.
„Ich hoffe es klappt diesmal“, erwiderte Birte und lächelte mich aufmunternd an, ergriff meine Hand und drückte sie ordentlich. Es knackte leise zwischen dem zweiten und dritten Fingergelenk. Ihre tiefblauen Augen strahlten dabei wie der aufgehende junge Morgen. Ihre feuchtglänzenden Lippen verlangten danach, geküsst zu werden. Von mir natürlich. Ich starrte ihr völlig verzaubert ins Gesicht.
Dass ich nie bemerkt hatte, was für eine begehrenswerte Frau sie war. Meine Birte.
Ich schlenderte zufrieden in den Tag. Ich hatte mich verliebt. Das war mehr als ich mir jemals hätte vorstellen können.
Es war an der Zeit, mein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Bei meinen Talenten konnte das wirklich nicht so schwer sein. So eine neue Liebe war eine enorme Triebfeder – jedenfalls für mich.
Ich würde Birte schon zeigen, dass man den Mensch nicht nur auf seine Qualifikation reduzieren durfte, mit der er dann besser zu vermitteln war.
„Es ist halt ihr Job“, verteidigte sie meine innere Stimme.
Ja, schon … aber trotzdem … widersprach ich
„Was trotzdem???“, stichelte es in mir
Ich blieb die Antwort schuldig. Soweit war es schon gekommen, dass ich mich vor mir selber rechtfertigen musste.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Nachdenken. Über mein Leben. Wie es künftig aussehen sollte … wie es bisher ausgesehen hatte. Was ich ändern musste.
ALLES!!!!
Alles musste anders werden. Für Birte.
Das Schicksal war schon manchmal komisch und das Leben sowieso. Aber diesmal im positiven Sinne. Ja, ich glaubte an das Schicksal. Ich wusste schon immer, dass es etwas besonderes mit mir vor hatte. Und da stand das Besondere. Schwarz auf weiß. Unübersehbar. Und zwar auf einer Plakatwand.
Talentshow
stand da.
In der hiesigen Stadthalle.konnte jeder, der meinte etwas zu können, sein Talent vorführen. Wobei das Wort „vorführen“ für mich immer einen negativen Touch hatte. Jemand vorzuführen war nichts, was ich jemals getan hatte oder tun wollte.
Ich wollte mein Talent zeigen. Endlich konnte ich beweisen, was für ein begabter Sänger, Tänzer und Entertainer ich war.
Mein Herz sprang vor Aufregung beinahe aus dem Brustkorb. Und ich konnte dem Impuls, sofort zu Birte zu rennen, um ihr davon zu berichten, nur schwer unterdrücken. Das kannte ich gar nicht von mir. Diese Ungeduld. Liebe verändert wohl alles. Auch den Mensch. Oder genauer gesagt sogar mich.
***
Und dann war er da … der Tag X … der mein Leben verändern sollte. Unser beider Leben. Birtes und meins.
Die Anmeldung ging schnell. Keine großen Formalitäten. Ähnlich wie bei den Casting-Shows im Fernsehen. Ich bekam die Nummer 113. Ich bin ja nicht abergläubisch, aber die 113 hätte es nicht unbedingt bedurft. Und ich überlegte nach einer anderen Nummer zu verlangen. Ließ es dann aber bleiben. Das Schicksal würde schon wissen was es tat. Dann hieß es warten. Und wieder musste ich feststellen, dass mir meine Geduld irgendwie abhanden gekommen war.
Unzählige Menschen tummelten sich in der als Warteraum umfunktionierten Eingangshalle. Alles Talente. Ich war beeindruckt.
Über Monitore konnte man die jeweilige Darbietung verfolgen. Ein Weile vertiefte ich mich in die Vorführungen. Ja Vorführungen. Ich fragte mich wirklich wer hier wen vorführte.
Hatten diese Menschen keine Freunde oder Verwandten, die ihnen ehrlich sagten, wie es um sie stand. Dass sie einfach nur peinlich waren und in den Zuschauern ein Fremdschämen hervorriefen???
Das klang jetzt sicher sehr überheblich, weil ich schließlich auch an diesem Event teilnahm. Dummerweise hatte ich keine Freunde und auch keine Verwandte, die irgend etwas zu mir hätten sagen könnten. Ehrlich oder unehrlich. Ich hatte nur Birte. Trotzdem war es bei mir etwas anderes. Ich wusste was ich konnte und brauchte nur endlich eine Chance, es zu beweisen.
Und dann war es soweit. Mein Name wurde aufgerufen … nicht die Nummer. Das fand ich schön. Es hatte etwas persönliches.
Über die geöffnete Seitentür gelangte ich auf das Podium. Es war eine richtige kleine Bühne. Da stand ich nun. Langsam atmete ich ein und aus, versuchte den aufkommenden Fluchtimpuls zu ignorieren, während ich ein strahlendes Lächeln auf mein Gesicht zauberte.
Die Jury saß unterhalb der Bühne. Es waren so an die zwölf gemischte Personen, die mehr oder weniger gespannt zu mir herauf starrten. Sagte man „gemischt“, wenn sie sowohl männlicher als auch weiblicher Natur waren? Was für dumme Gedanken. Ich sollte mich auf meinen Beitrag konzentrieren. Schließlich musste ich gewinnen. Für Birte und mich.
Ich räusperte mich.
„Ich bin der Zyprian Häusler.“ Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war viel zu nervös, um lange Erklärungen zu meiner Person abzugeben.
„Ich fange gleich an.“, erklärte ich deshalb.
Und dann legte ich los. Ich steppte und sang was das Zeug hielt … wuchs über mich selbst hinaus.
Im Saal herrschte Stille. Ob es gut war, dass ich nicht unterbrochen wurde? So selbstbewusst war ich wohl doch nicht. Ich war schlichtweg verunsichert. Mein Herz pochte wie verrückt gegen meine Rippen. Schweiß sammelte sich am Haaransatz und floss dann in Strömen die Schläfen hinunter.
Der letzte Ton verklang - die Anspannung blieb. Ich versuchte die Zunge vom Gaumen zu lösen, die da jetzt irgendwie festgeklebte. Ja, ich war schon sehr verunsichert. Es herrschte immer noch Stille. Warum sagte denn niemand etwas?
Irgend jemand fing an zu klatschen.
„Bravo!“ ….
„Toll!!“.....
“Wahnsinn!“
Sie meinten tatsächlich mich. Ich wurde herunter gewunken und bekam einen Zettel … und somit befand ich mich unter den besten zehn. Also hatte ich mich doch nicht getäuscht. In mir.
Ich wäre ein Talent und ich gehörte hierher hatten sie gesagt. Sie klopften mir auf die Schulter und tätschelten meine Wange. Es machte mich stolz. Ja, es machte mich wahnsinnig stolz. Wenn doch nur Birte das alles miterleben könnte.
Morgen würde die Entscheidung fallen.
***
Wider Erwarten hatte ich richtig gut geschlafen. Hätte ich nicht gedacht. Ob es ein ruhmreicher Tag werden würde? Wenn ich doch nur Birte zur Seite hätte. Aber es war im Moment keine Zeit für Träumereien.
Ich musste einfach gewinnen. Und dann würde ich meinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Träume waren schließlich nur die Vorstufe zum Glück.
Dann machte ich mich auf den Weg … in mein neues Leben.
***
Ich war das Schlusslicht. Das Schicksal schien mir tatsächlich gewogen. Man blieb als Letzter am besten in Erinnerung. Lampenfieber ist etwas wirklich Schlimmes und es dauerte bis ich es so einigermaßen im Griff hatte. Und dann kam ich dran.
Es fühlte sich genauso an wie beim ersten Mal. Nicht besser – aber auch nicht schlechter. Ich stand auf dieser Bühne und gab alles. Es ging um meine Zukunft. Um unsere Zukunft.
Ich sang mir die Seele aus dem Leib und tanzte wie ich noch nie zuvor getanzt hatte. Ich musste gewinnen!
Nach meinem Auftritt herrschte wieder Stille, die alles bedeuten konnte. Auch völliges Versagen.
Aber …
… so war es nicht. Ich hatte gewonnen.
ICH hatte gewonnen!
Was mir vorher völlig klar erschien und für andere überheblich klang, war jetzt für mich unbegreiflich geworden. Mein Verstand blockierte jegliches Denken. Nichts in mir wollte sich freuen. Eine totale Lähmung sämtlicher Gefühle. Komisch.
Vielleicht lag es daran, dass es niemand gab, der diesen Triumpf mit mir teilen konnte.
Und dann kam es wie es kommen musste. Plötzlich hatte ich einen Manager. Den Julius Stumpf. Er bestimmte fortan mein Leben. Durch ihn bekam ich einen Plattenvertrag! Ständig gab ich Interviews und konnte dann in diesen bunten Illustrierten Dinge über mich lesen, die ich selbst noch gar nicht wusste. Und ich hatte Fans. Vor allem weibliche. Junge und alte. Hübsche und nicht so hübsche. Sie schenkten mir Plüschtiere, Unterhosen und Bhs. Komisch!
Ich trat im Fernsehen als Sänger auf. Ich war Kandidat bei Unterhaltungssendungen. Für all das musste ich Zeit haben. Nur nicht für mich … und Birte. Für unser Leben.
Tage, Wochen und Monate flogen einfach so dahin … und ich war noch immer nicht bei ihr gewesen.Traurig.
Aber ich hatte unendliche Sehnsucht nach Birte, die von all dem nichts wusste. Schon gar nichts von meinen Gefühlen. Das war nicht komisch – das war einfach nur blöd und musste dringlichst geändert werden. Es war schließlich immer noch mein Leben, in dem Julius Stumpf wild herumhantierte … und mich dabei völlig vergessen hatte.
***
„Hallo Herr Häusler“, Birte drückte mir die Hand, dass es in den Gelenken nur so knackte. Sie hatte schon einen kräftigen Griff, meine Birte ...
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2019
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