Ich habe viele Kinder – und doch ist da der Eine, der alle anderen überwiegt. Gerechtigkeit ist ein schönes Wort, wird gerne gelebt, auch von mir und doch habe ich die Feststellung gemacht, dass Gerechtigkeit vor allem selbstgerecht ist.
Wie soll man seinem Herz befehlen, Gleichheit zu empfinden?
Wie kämpft man mit aller Kraft des Verstands gegen ein Gefühl?
Vorwürfe, über all die Jahre habe ich gehört, mir selbst gemacht – und doch, ich konnte niemals dagegen an. Heute ist es tot, ermordet, mein liebstes Kind.
Die Dunkelheit in mir erdrückt mich. Die Sonne, die mir stets Zuversicht und Auftrieb gab, versank. Ich hadere, nicht in Trauer, in Dankbarkeit für die Zeit, die ich erleben durfte, mit ihm – und, natürlich auch, mit meinen anderen Kindern, meiner Frau, meiner Familie.
Wie knüpft man an, an das, was man versäumt hat?
Wie findet man zurück ins Licht?
Kann ich erwarten, dass die anderen mir verzeihen, mich lieben, so, wie ich bin? Ein ungerechter, mittlerweile in die Jahre gekommener Mann? Ein selbstgerechter Egoist? Dabei wollte ich ein Vorbild sein, Ideale leben, meine Kinder auf den richtigen Weg führen.
Alles habe ich für jeden Einzelnen von ihnen getan, auch habe ich sie lieb. Nur keinen, wie den Einen, meinen ältesten Sohn. Meinen Gefährten, meinen Freund, der nun vor mir liegt, im Schnee.
Ich bitte Gott, sich meiner zu erbarmen, mich zu holen, mich dieses nicht ertragen zu lassen, aber er hat Aufgaben für mich, die ich erfüllen muss. Nicht, dass ich das möchte, gar glaube, dass ich das kann – aber Mitleid und Mitgefühl, gar Gnade sind fremde Wörter in dieser unsagbaren, dunklen Zeit.
Was, wenn ich von vorne herein einen falschen Weg wählte? Ein falsches Ziel vor Augen hatte? Was, wenn der Krieg, den ich zu vermeiden suchte, der einzige Ausweg war? Ich habe ihn verzögert, ausgesetzt, um die zu schützen, die mir am Herzen liegen. Leben, nicht Tod, sollte der Lohn für meine Arbeit sein, doch ich bekam den Tod, nicht meinen, sondern den von meinem Sohn, als Preis.
Ich fühle mich alt. Ich bin alt. Ein alter Mann, der von schwerer Last erdrückt wird. Zerquetscht wird, von allem, was falsch war. Von Entscheidungen, die nicht zurückgenommen werden können, von Handlungen, die dem Guten dienen sollten und das Unheil herauf beschworen.
Ich bekenne mich schuldig, hoffe auf einen schnellen Tod – und doch – mein Geschenk wird ein ganz anderes sein. Verdammt zum Leben, gezwungen, auch die zu verlassen, die mir noch etwas bedeuten.
Das Leben ist grausam. Es schenkt dir Liebe, frohe Stunden, um sie dir dann zu ersetzen, durch Trauer und Leid. Und doch ist unsere Zeit auf Erden kurz bemessen. Vielleicht ein Trost in meiner Dunkelheit.
Ich bin müde und der Weg zurück ist weit. Der Schnee wird stärker und der Wind ist kalt. Innerlich bin ich längst erfroren und doch setze ich meinen Weg fort.
Es ist nicht so, dass ich mir das Ende nicht ersehne, dass ich mich nicht am Liebsten neben ihn legen würde, auf die kalte Erde, in den Schnee. Aber wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, dann hat man gelernt sein Herz zu verbergen und seinen Verstand über alle Dinge zu stellen, mitsamt dem Pflichtgefühl.
Ich habe versagt. Mein Versagen kostete vielen Menschen das Leben. Mein Leben schulde ich all denen, die mir vertraut haben.
Ich versage mir das Recht aufzugeben, zu sterben, auf Ruhe und Frieden. Warum holt Gott mich nicht zu sich? Warum erlöst ER mich nicht?
Ich überwinde meine Lethargie und setze meinen Weg fort. Auch erreiche ich mein Ziel, wenn auch mit Hilfe.
Da stehe ich nun, in einer, für mich vollkommen anderen Welt. Nichts hat sich verändert, alles ist so, wie es war – nur ich sehe alles anders. Ich sehe die Gefahr. Ich sehe die Endlichkeit. Ich sehe, wie sich die anderen Kinder um meine Gunst streiten.
Sie wollen den Platz ausfüllen, der nicht auszufüllen ist. Das Fortsetzen, was nicht fortzusetzen ist und dem Irrweg folgen, dem ich mein ganzes Leben folgte.
Gerne würde ich sie vor diesem Fehler bewahren. Gerne würde ich ihnen raten, dass sie ihr Leben nach eigener Wertigkeit gestalten sollen, nicht nach der eines anderen.
Ich versuche es und doch fehlt mir die Kraft, ihnen das zu erklären, was ich gerade erst verstanden habe.
Sie denken, ich will sie bestrafen, für seinen Tod – aber es war sein Tod, der mir deutlich machte, dass jeder Mensch seinem eigenen Weg folgen muss und nicht dem eines anderen. Immer stehen verschiedene Ziele am Ende des Weges, selbst, wenn die ursprüngliche Idee die Gleiche sein mag.
Wie soll ein Mensch sich auf frei entfalten? Immer auf die Interessen und Befindlichkeiten des Vaters, des Mentors oder Vorbilds bedacht? Nicht enttäuschen zu wollen ist ein hehres Ziel, das aber oft dem eigenen Weg widerspricht. So wählt der Mensch bescheiden, nicht weise und kommt immer wieder an der selben Stelle an.
Der Tod ist ein strenger Lehrer – und doch bietet er den Lebenden immer ein Innehalten und ein Überdenken des eigenen Weges an. Jedes Ende ist ein Neuanfang.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2019
Alle Rechte vorbehalten