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Madame Lydia

Zurück auf Anfang. Einfach die Reset-Taste drücken. Wer wünscht sich das nicht, wenn alles in einer Sackgasse endet oder man einfach den Überblick über sein Leben verloren hat. Noch einmal ganz von vorne beginnen. Anders – vielleicht sogar besser. Natürlich würde es besser werden, schließlich ist man so unendlich reich an Erfahrungen. Gute und schlechte. Damit ließe sich doch etwas völlig Neues gestalten. Ein traumhaftes Leben voller Liebe und Glück. Einmal auf der Sonnenseite stehen, weil man weiß wie es geht. Ob man solch ein unverhofftes Angebot ausschlägt?

Eine Sofortentscheidung. Jetzt und in diesem Moment.

 

Ich hatte die Chance dazu. Kaum zu glauben. Da stellte sich mir schon die Frage. Warum gerade ich?

 

„Warum gerade ich“, eben noch gedacht schon sprudelte es aus mir heraus.

 

Argwöhnisch betrachtete ich mein Gegenüber.

 

„Du musst dich entscheiden. Jetzt … sofort!“ Madame Lydia überging einfach meine Frage.

 

Warum diese Eile? Ich musste erst einmal darüber nachdenken. Es sollte doch nur ein Blick in die Zukunft sein. Und jetzt sowas. Dieses Angebot. Mit der Reset-Taste erlosch alles. Mein ganzes bisheriges Leben. Anders als ich mir das vorgestellt hatte. Wenn ich mich wegträumte. In ein neues Leben. Ich wäre ohne Erinnerungen und somit auch ohne den unendlich vielen Erfahrungen, die einen lehrten, wie das Leben funktionierte. So jedenfalls erklärte es mir Madame Lydia. Ob es tatsächlich so etwas gab? Ich wusste es nicht. Es wäre ein ungeheuerliches Abenteuer. Und trotzdem überkam mich bei dem Gedanken ein beklemmendes Gefühl. Angst? Alles aufzugeben - einfach alles. Da gehörte schon etwas dazu.

Eigentlich war ich nicht wirklich unzufrieden. So wie es war. Ich würde Emil verlieren. Und Loretta. Aber es gäbe dann eben andere Menschen. Bessere Freunde und Ehemänner.

Eine bessere Freundin als Loretta? Kaum vorstellbar. Ich würde sie vermissen. Definitiv. So ganz tief drinnen wäre sie bei mir. Ich würde mich immer an sie erinnern, egal was die alte Wahrsagerin brabbelte. Loretta war nämlich mein Herzensmensch. Und Emil? Mein Mann? Würde er mir fehlen? Nicht so sehr. Nicht so sehr wie Loretta. Dafür schämte ich mich gerade. Für diesen Gedanken. Ein böser Gedanke – aber ehrlich.

Emil und mich verband nicht mehr viel. Vielleicht gar nichts mehr. So war mein ganz persönliches Empfinden. Und er? Keine Ahnung. Er sprach nicht über so etwas. Im Grunde über gar nichts, was uns betraf. Er verlor kein Wort darüber, was sich in seinem Inneren tat. Ob er glücklich war mit seinem Leben. So generell … und im Speziellen mit mir. Ich hatte mich daran gewöhnt.

Gewohnheit war ein warmes Zuhause, in dem sich nichts veränderte. In dem ich bis vor kurzem noch ganz zufrieden lebte. Wenn alles blieb wie es war, musste man sich vor nichts ängstigen. Aber gerade das ängstigte mich, weil mich die Gewohnheit zu ersticken drohte.

 

Nur deshalb dachte ich darüber nach, alles loszulassen. Für etwas anderes. Etwas Unbekanntes.  Eine Chance auf ein neues Leben. Und das mit Hilfe der Reset-Taste von Madame Lydia.

 

„Was ist jetzt?“ , drängelt die Wahrsagerin.

 

***

 

Aber erst mal zurück auf Anfang.

 

Ich wollte mir einfach mal die Zukunft voraussagen lassen. Was noch so kommt. Insgeheim wünschte ich mir, dass etwas passierte. Irgendetwas. Die Gewohnheit sollte in ihren Grundfesten erschüttert werden – zusammen mit meinem Emil. Er sollte sich wieder an mich erinnern. Als Mensch und Geliebte. An alles, was uns einmal verband.

Also schlenderte ich über den Jahrmarkt und suchte nach dem Standplatz der Wahrsagerin. Sie hatte Plakate in der ganzen Stadt verteilt. Ich war neugierig geworden. Ein winzig kleiner Blick in die Zukunft würde mir schon genügen. 

Also betrat ich den Wohnwagen von Madame Lydia. Sie hockte an einem runden Tischchen. Diese lächerliche Glaskugel vor und einen Stapel bunter Karten neben sich. Ja wirklich! Voll klischeemäßig eben. Ohne ein Wort zu sagen gebot sie mir mit einer bestimmenden Handbewegung, Platz zu nehmen. Da saß ich nun und schaute mich erst einmal um. Dunkelroter Samt an Wänden und Decke. Auf dem zierlichen Sidebord standen goldene Skulpturen, Schälchen und Vasen. Kaum zu übertreffender Kitsch im Übermaß. Ein seltsamer Geruch erfüllte den kleinen Raum. Die Alte selbst war in bunte Tücher gehüllt und ihr Haar versteckte sich unter einem mit perlenbesetzten Schal. Sicher war sie es gewohnt, dass sich ihre Kundschaft ziemlich aufdringlich bei ihr umsah. Aber genau so intensiv war ihr Blick. Ihre blassblauen Augen hatten etwas Stechendes. Sie starrte mich an, als suchte sie in meinem Inneren nach meiner Seele. Ich fühlte mich ziemlich unbehaglich. Ehrlich gesagt, machte sie mir sogar ein wenig Angst.

Ich räusperte mich, um ihr zu erklären, wie ich mir das Ganze hier vorstellte. Meinen Blick in die Zukunft. Ich wollte nur Schönes hören. Das weniger Gute konnte sie für sich behalten. Aber ich kam gar nicht dazu.

 

„Ich biete dir ein neues Leben“, krächzte sie.

 

Irritiert schaute ich sie an. Wie meinte sie das … ein neues Leben. Das hatte nichts mit meinem Wunsch zutun.

 

„Ohne Erinnerungen ...“, ergänzte sie. Ihr Blick grub sich bis hinter meine Netzhaut oder noch tiefer. Vielleicht wirklich bis zu meiner Seele.

 

Was meinte sie damit „ohne Erinnerungen“? Es würde mein Leben nicht mehr geben? Samt den Menschen darin?

 

„Du beginnst ganz von vorne. Du musst dich jetzt entscheiden.“, beschwörend sprach sie auf mich ein.

 

Wie kam sie nur auf solch eine Idee? Und warum gerade ich?

 

Ich würde alles verlieren. Emil und Loretta – mein ganzes Leben. Es gäbe nichts Vertrautes mehr. Plötzlich erschien mir das, was ich besaß so unendlich wertvoll. Vor allem mein Zuhause mit Emil. Seine brummige Art. Die behagliche Wärme der eben noch so verhassten Gewohnheit.

Ohne Emil? Es würde mir das Herz brechen. Komisch. Ja, das fand ich komisch. Liebte ich ihn am Ende immer noch und hatte es wie er einfach nur vergessen? Vielleicht lag diese Liebe vergraben unter dem grauen Alltag.

 

„Was ist jetzt?“, wiederholte die Alte drängend.

 

„So etwas gibt es nicht. Wie soll denn das überhaupt gehen?“, trumpfte ich auf.

 

„Entscheide dich.“

 

„Um Himmels Willen, dass kann man doch nicht einfach so sagen. Wie soll das neue Leben denn  aussehen?“

 

„So wie du es dir machst.“, war ihre knappe Antwort.

 

Wie ich es mir mache. Als wenn das so einfach wäre. Was hatte ich aus meinem alten Leben gemacht? So vieles lag doch gar nicht in meiner Hand. Das Schicksal hatte immer kräftig mitgemischt.

Madame Lydia war da wohl anderer Meinung. Sie hatte doch gar keine Ahnung, dass sich so ein Leben verselbständigen konnte und sich nicht so formen ließ, wie man es haben wollte.

Und überhaupt – das war alles nur dummes Gequatsche. Niemand konnte so etwas - auch nicht diese alte Frau. Größenwahn nannte man das.

 

„Entscheide dich“, wie ein Papagei wiederholte sie unbeirrt die Worte wieder und wieder.

 

Und dann passierte es. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass so etwas nicht möglich war. Niemand konnte neues Leben schenken. So ein Schwachsinn. Sie hatte sicherlich nicht mehr alle Tassen im Schrank und redete wirres Zeug. Unter diesem Aspekt fiel es mir leicht, ihr endlich meine Entscheidung mitzuteilen.

 

„Gut. Ich möchte dieses neue Leben.“, erklärte ich ihr breit grinsend.

 

Jetzt musste Madame Lydia Farbe bekennen. Ich war gespannt, wie sie sich aus der Situation rettete. Ein Weilchen würde ich noch warten und dann Heim zu meinem Emil gehen. Alles wäre dann wie es gewesen war und wie es immer sein würde … und merkwürdiger Weise machte mich dieser Gedanke glücklich.

 

Aber sie gab sich nicht so schnell geschlagen. Geschäftig zündete sie eine handvoll Räucherstäbchen an und wedelte damit durch die Luft, dabei murmelte sie seltsame Laute. Es waren sicherlich Zauberformeln. Ganz große Show. Sie wollte mich sicher beeindrucken. Aber ich fand es einfach nur lächerlich. Am Ende glaubte sie noch selber daran.

Mein Grinsen wurde immer breiter. Entspannt hatte ich mich zurückgelehnt und verfolgte ihr albernes Treiben. Leise kicherte ich in  mich hinein. Was es nicht für verrückte Menschen gab … bis mir übel wurde. Von dem Geruch. So übel, dass mir langsam die Sinne schwanden. Wie sehr ich mich auch dagegen wehrte verlor ich mich immer tiefer in diesem Duftnebel …

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 10.01.2019

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