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Die Quote

„Ah, ein Leidensgenosse! Wie heißt du?“

„Jakob, und du?“

„Winfried.“

Die beiden weißhaarigen Greise stehen sich gegenüber und schütteln sich die Hand. Die Lichtung im Wald, auf der sie sich begegnet sind, liegt in strahlendem Sonnenschein. Staubpartikel tanzen durch die Luft.

  

„Du bist zum ersten Mal bei der Jagd, stimmt’s, Winfried?“

„Ja, woran hast du das gemerkt?“

„Später! Beantworte erst mal ein paar Fragen. Du bist älter als 65, oder?“

„Ja, ich bin 75.“ Winfried greift unwillkürlich an den Identifikationsring um seinen Hals. „Beim 65. und 70. Jahrestag war ich beim Wettlauf.“ 

„Und warum hast du zur Jagd gewechselt? Meinst du, das sei einfacher?“

„Die Jagd ist meine einzige Chance. Beim Wettlauf zu meinem Siebzigsten bin ich dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Alle, die nach mir ins Ziel kamen, wurden ausgesondert, ich hatte unglaubliches Glück.“

„Ich weiß, die Eliminationsquote war verdammt hoch.“

„Es war wahnsinnig stressig. Die Quoten werden ja nicht mehr vorher bekannt gegeben. Du weißt also zu keiner Zeit, ob es reicht oder nicht. Du rennst und rennst und hast keine Garantie. Ich hab am Ziel Rotz und Wasser geheult, weil ich fix und fertig war. Zudem hab ich mir in die Hose gemacht vor Angst, ob es gereicht hat.“

„Bei der Jagd ist es umgekehrt, Winfried, die Letzten überleben. Wenn die Quote an Abschüssen erfüllt ist, wird die Jagd abgebrochen. Ich bin zum vierten Mal dabei, ich weiß, wovon ich rede.“

 

Jakob hat eine seltsame Art, seine Rede mit der Hand zu untermalen. Der rechte Arm ist in ständiger Bewegung, während der linke in einer Schlaufe hängt. Sein zerknittertes Gesicht und das vorgeschobene Kinn drücken die Entschlossenheit aus, die seinem Gegenüber fehlt. Winfried ist voller Angst, und das spiegelt sich in seinem Gesicht wider.

 

„Dann bist du also schon achtzig“, nimmt Winfried nach kurzer Pause das Gespräch wieder auf. „Wie hast du es geschafft zu überleben?“ 

„Ich bin Jäger von Beruf, mein Lieber, und der Wald ist mein Zuhause.“

„Mann, hab ich ein Glück, ausgerechnet dich getroffen zu haben.“

„Wir werden nicht zusammenbleiben können, Winfried. Zu zweit sind wir chancenlos. Viel zu leicht als Wärmequelle auszumachen. Du kannst in meiner Nähe bleiben, aber du darfst niemals dichter als 20 Meter zu mir aufschließen. Das wäre ein tödlicher Fehler.“

„Und woran hast du erkannt, dass ich noch nie bei der Jagd war? Steht mir doch nicht auf der Stirn geschrieben, dass ich bisher einen anderen Sport gewählt habe?!“

„Quatsch, aber wer mit solchen Klamotten hier auftaucht wie du, wird das nächste Mal nicht erleben. Deine Hose ist zu hell und auf deine Jacke könntest du genauso gut eine Zielscheibe malen. Hier ist eine Pfütze, wälze dich drin herum, bis du als vollwertiger Dreckspatz durchgehst.“

 

In den nächsten Minuten kann man beobachten, wie ein Greis sich wie ein spielendes Kleinkind im Matsch suhlt.

„So gefällst du mir schon besser.“ Jakob wirft einen Blick auf seine Uhr. „Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, in fünfzehn Minuten wird die Jagd eröffnet. Dann müssen wir untergetaucht sein.“

Ohne sich nach ihm umzudrehen, marschiert Jakob los und Winfried hat Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Die Äste, die Winfried am Weiterkommen hindern, scheinen vor Jakob zurückzuweichen.

 

„Bleib hier stehen, Winfried, ich bin gleich zurück. In der Nähe ist ein Wasserfall, ich muss sicherstellen, dass die Luft rein ist. Die Nähe von Wasser ist immer gut.“

Winfried ist dankbar, einige Minuten ausruhen zu können. Lange hätte er dieses Tempo nicht mehr durchhalten können. Eine tiefe Stille umfängt ihn und er setzt sich auf den Boden, um auszuruhen und seinen zitternden Beinen eine Pause zu gönnen.

 

*****

 

„Bist du alleine?“

Winfried schaut sich um und kann niemanden entdecken. 

„Hey, wer ist denn da?“

„Ich bin Sieglinde, bist du alleine hier?“

Wieder schaut er sich erfolglos um.

„Nein, ich bin mit Jakob hier. Er schaut sich beim Wass…“ Winfried verstummt. Am Ende hätte er gar nichts über den Wasserfall verraten dürfen. 

„Verdammt!“ Eine Frau erhebt sich aus einem Gebüsch, kaum zwei Meter neben ihm. Sie ist  mindestens so alt wie Winfried. Ihre Tarnkleidung und das bemalte Gesicht lassen sie fast mit dem Hintergrund verschmelzen.

„Hat er also wieder einen Dummen gefunden.“

„Was meinst du damit?“  

„Das ist seine Masche. Er sucht sich ein Opfer unter den Erstlingen. Wenn’s dann brenzlig wird, wirft er den der Meute vor.“

„Was?!“ Winfried springt auf, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. „Was sagst du da?“

„Isso, und bisher ist seine Rechnung jedes Mal aufgegangen.“

„Du verarschst mich doch!“, entgegnet Winfried.

„Warum sollte ich. Geh mit ihm und du bist so gut wie tot. Er wird dich zwischen sich und den Wärmedetektor bringen. Bis sie dann mit dir fertig sind, hat er Zeit zu verschwinden.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Beten!“

„Und du? Wie schaffst du es zu überleben?“

„Ich habe eine Höhle entdeckt, die niemand kennt.“

Winfried schaut sie ungläubig an. „Wieso erzählst du mir davon?“

„Ich kenne dich, du bist der Mann von Katharina.“

„Ich dich aber nicht. Und Katharina ist seit fünf Jahren nicht mehr am Leben.“

„Ich weiß, du warst der Letzte vor dem Cut, und sie war eine Runde hinter dir. Ich hab zugesehen.“

 

Winfried taumelt zurück. Plötzlich war alles wieder da. Niemals wird er verkraften, was damals passiert ist.

„Woher kanntest du sie?“

„Ich …“

Hundegebell kommt näher. Schüsse peitschen auf.

„Komm mit! Oder geh zu Jakob, er wird sich freuen.“

„Ich komme mit dir.“

Unvermittelt gleitet Sieglinde davon und so schnell ihn seine alten Füße tragen, folgt Winfried dieser Frau, die er nie zuvor gesehen hat, und die ihm dennoch Vertrauen einflößt. Weil sie Katharina kennt, oder vielmehr kannte. Irrational, denkt er sich, aber so ist es eben.

 

Es dauert nur fünf Minuten, bis sie einen Bach erreichen. Sie laufen einige hundert Meter in ihm, dann biegen sie rechts ab und erreichen die Höhle. Winfried sieht sie erst, als sie direkt davor stehen. Drinnen ist es stockdunkel.
„Es geht ein Stück abwärts, du musst springen.“

„Nein, du zuerst!“

„Du traust mir nicht.“ Keine Frage, eine Feststellung.

„Doch, aber …“

„Dann spring, ich muss den Eingang noch besser tarnen.“

Winfried fasst sich ein Herz und springt in die Dunkelheit.

 

Eiskaltes Wasser schlägt über ihm zusammen. Als er wieder auftaucht, japst er nach Luft. Diese falsche Schlange, denkt er, doch als Sieglinde direkt neben ihm ins Wasser plumpst und zügig ins Dunkel schwimmt, folgt er ihr. Nach zehn Schwimmzügen erreichen die beiden den Rand eines natürlichen Beckens und steigen aus dem Wasser.

„Hier ist ein Handtuch. Zieh dich aus und rubbel dich trocken!“

Sie hat gut vorgesorgt! In der tiefen Finsternis kann er nichts sehen, doch er hört, dass auch Sieglinde sich auszieht. Also folgt er ihrem Beispiel und reibt sich mit dem Handtuch trocken. Möglichst fest, damit die Durchblutung wieder in Gang kommt.

 

„Hier hast du eine Jogginghose, es ist meine, mit Gummizug.“

Er tastet umher, bis er ein Stück Stoff berührt, nimmt die Hose entgegen und zieht sie an. Plötzlich leuchtet ein Licht auf, und im Schein der Taschenlampe sieht Winfried, dass auch Sieglinde sich etwas übergestreift hat.

„Komm mit in den Schlafsack, wir müssen uns gegenseitig wärmen. Ich hab nicht genug Kleider für uns beide.“  

Dankbar nimmt er das Angebot an, denn es ist kalt. Sie liegen dicht beieinander, und spüren den Atem des anderen warm auf der Haut.

„Mist Quotenregelung!“, macht Winfried seinem Herzen Luft. „Die führen sich auf, als würden sie selber niemals alt. Jagen uns wie Freiwild.“

„Für jeden Abschuss gibt es ein Jahr Freistellung. Da hört die Menschlichkeit auf.“

„Und wie erfahren wir, dass es vorbei ist?“

„Wir können die Sirene hier gut hören. Genau wie die Schüsse.“

 

Erst jetzt registriert Winfried den Lärm, der langsam näher kommt. Das Hundegebell lässt ihn bis ins Mark erschrecken. Die Hunde! Sie werden den Eingang finden. Wie Fieberschauer läuft es durch seinen mageren Körper und er zittert wie Espenlaub.

„Keine Angst, ich habe unsere Spuren verwischt und unseren Geruch mit einem Spray überdeckt, das die Hunde verwirren wird. Doch jetzt still, sie haben auch Geräuschdetektoren dabei.“

 

Der Lärm über ihnen nimmt ständig zu, Schüsse fallen und bei jedem einzelnen zuckt Winfried zusammen, drängt sich noch näher an seine neue Freundin, die ihm beruhigend durchs Haar streift.

Stunden vergehen. Endlos scheint die Zeit.

 

Endlich das Signal, dass die Jagd beendet ist.

„Wie kommen wir wieder raus?“, will Winfried wissen.

„Folge mir!“

Mühsam wuchten die beiden sich hoch. Kalt ist ihnen nicht mehr.

„Wir können durchs Wasser zurück, oder wir müssen ziemlich lange durch einen niedrigen Gang kriechen. Was willst du lieber?“

„Nicht wieder das Wasser!“

„Dann geht es hier rein. Bleibe direkt hinter mir, und halte den Kopf immer dicht über dem Boden.“

Im Schein des funzeligen Lichts sieht Winfried, wie Sieglinde sich schlangengleich in ein Loch direkt am Boden windet. Sofort kriecht er hinterher und in den nächsten zwanzig Minuten hat er Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Alle Knochen tun ihm bereits weh, als plötzlich Tageslicht vor ihnen zu sehen ist.

„Jetzt musst du springen. Es geht etwa zwei Meter abwärts.“

Die Höhle ist am Ausgang etwas größer, sodass man sich halbwegs aufrichten kann. Sieglinde springt zuerst, dann traut sich auch Winfried. Jetzt sieht er, warum sie nicht diesen Zugang zur Höhle benutzt haben. Er ist vom Boden aus unerreichbar.

Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der Jakob Winfried zurückgelassen hat.

„Gehen wir nach Hause!“, schlägt Sieglinde vor, doch als sie drei Schritte zurückgelegt hat, stolpert sie über etwas im hohen Gras.

„Oh nein!“, stöhnt sie auf, und als Winfried näher kommt, sieht er, was ihren Schritt gehemmt hat. Es ist Jakob, dessen gebrochene Augen im angstverzerrten Gesicht von äußerstem Schrecken zeugen. Sein Identifikationsring um den Hals ist weg.

„Du hast ihm gefehlt“, kommentiert Sieglinde und nimmt Winfried bei der Hand.  

 

 ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2018

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