So, gleich war das Essen fertig. Es würde zwar noch eine Viertelstunde dauern, bis wirklich gegessen werden konnte, aber es schadete ja nicht, wenn ich meine Lieblinge schon einmal vorwarnte. Bis die Information dort ankam, wo sie sollte, etwas sickern konnte und schlussendlich in eine praktische Aktion umgesetzt wurde dauerte das stets auch noch seine unbestimmte Zeit. Besonders bei Manfred, meinem Ehemann. So einen gewissen zeitlich verzögernden Unsicherheitsfaktor muss man bei einem Mann einfach immer mit ein rechnen.
Nur heute war es anders. Bereits nach sechseinhalb Minuten standen sie alle parat und beäugten mich bei meinen letzten Vorbereitungen. Mein großer Schatz Manfred und meine beiden kleinen Schätze Mona und Lisa, acht Jahre alt und Zwillinge, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Nicht nur optisch. Manchmal fragte ich mich, ob sie wirklich von den gleichen Eltern stammen konnten …
Ich mag es nicht bei der Arbeit mit Argusaugen beäugt zu werden, also ging ich zum Angriff über. „Und habt ihr alle schon schön die Hände gewaschen?“, sülzte ich mit liebenswürdigstem Mutterlächeln.
Hatten sie natürlich nicht und zogen seufzend von dannen. Ich schaute auf die Uhr. Gutes, richtig hygienisches Händewaschen dauert zweieinhalb Minuten, in acht Minuten wäre die Bagage also wieder zurück. Und genau dann wäre ich auch fertig mit meinem perfekten Abendessen. Ich trug die Suppe auf. Und schon saßen alle am Tisch und starrten mich erwartungsvoll an. Von richtig gutem, hygienischem Händewaschen konnte also keine Rede sein!
Aber gut, heute würde ich ihnen das einmal durchgehen lassen. Der Tag war bereits anstrengend genug, ich wollte mich nicht auch hier noch in aussichtslosen Grundsatz-Diskussionen aufreiben. Ich war wirklich müde und abgespannt vom Fenster, Bad und Toiletten putzen, Betten überziehen, Bettenmachen, Abstauben, Staubsaugen, Mobben, Parkett bohnern, Einkaufen, Besteck und Gläser polieren und Kochen. Ich habe zwar eine Haushaltshilfe, die fünf mal in der Woche kommt und für einigermaßen Ordnung sorgt. Aber einmal pro Woche muss ich einfach selbst Hand anlegen und so richtig ins Detail gehen. Nur so ist die immer wieder überall aufwallende Unordnung im Keim zu ersticken.
Ich war also wirklich ausgepowert. Außerdem schmerzten meine Brustwarzen. Ein eindeutiger Hinweis auf irgendein Unbill, das sich zusammenbraute. Ich beschloss daher die mangelnde Handwaschhygiene meiner Lieben mit keinem Wort zu erwähnen und nur mit einem Stirnrunzeln zu quittieren. Ich dachte an Brokkoli, wie mein Meditationslehrer es mir empfohlen hatte und atmete tief durch.
„Mona, sitz gerade!“ und „Fredi, lass doch bitte das Schlürfen!“, griff ich nur sanft regulierend in das Geschehen ein, um mich dann selber an den Genuss meiner köstlichen „Edelkastanien-Most-Suppe“ zu machen.
Als ich gerade den Löffel zum Mund führen wollte klingelte es an der Tür. Nein, kein noch so aufdringlich unverschämter Vertreter irgendeiner mehr oder weniger dringlich zu erwerbenden Unnotwendigkeit oder sonst eine aus welchem Grund auch immer sich präpotent zu gebärden im Recht zu sein überzeugte Person würde mich heute um den Genuss dieses grandiosen Abendessens und eines ruhigen, besinnlichen Familienabends bringen. Ich stürmte zum Eingang, wobei mir wieder meine schmerzenden Brustwarzen bewusst wurden. Dieser Amok-Klingler wollte ja gar nicht mehr aufhören sich lautstark bemerkbar zu machen. Der würde jetzt aber etwas zu hören bekommen, da half auch kein Denken an Brokkoli mehr!
Ich öffnete die Haustür. Aber noch bevor die Tür richtig offen war und ich meiner berechtigten Empörung auch nur ansatzweise Ausdruck verleihen konnte stürzte ein verschlampter, unrasierter Typ auf mich zu, drückte mich an sich, schmatzte mir links und rechts ziemlich feucht auf die Wangen, packte meine rechte Hand, schüttelte sie ziemlich euphorisch und quasselte drauf los: „Aber hallo, einen wunderschönen guten Abend auch! Wir sind eure neuen Nachbarn, die Tropies. Also Edeltraud und Norbert Tropie, E. und N. Tropie also sozusagen! Aber du kannst Trudi und Norbi zu uns sagen!“
Endlich entließ der Typ, samt seiner penetranten Ausdünstung aus Ungewaschenheit, Zigaretten- und Biergestank und schlechtem Deo mich aus seiner Umarmung, da hing mir auch schon die Frau, eine kleine, dürre Blondine mit dicker Schminkemaskierung, blonder, strähniger Wuschelfrisur und „billigster-aller-Diskonts-im-Abverkauf-Parfum“-Duft am Hals. „Ja, das freut mich auch ganz toll“, lispelte sie. „Wir sind heute morgen eingezogen, endlich können wir uns persönlich kennenlernen.“
„Tolle Hütte habt ihr da“, legte nun Norbert wieder los, und zog mich am Ärmel in die Garderobe. „Da musst du dann für uns eine kleine Führung machen. Alles so schön gediegen und ordentlich!“
„Ja also ...“, mehr fiel mir jetzt absolut nicht ein. Ja, ich war sprachlos. Das passiert mir wirklich nicht allzu oft. Das letzte Mal glaube ich, war ich sprachlos als Manfred am Gemüsemarkt in einen ungewaschenen Apfel biss … Aber Edeltraud nahm mir das Reden ab: „Ach Schätzchen, ist das schön hier drinnen, fast noch schöner als euer Garten. Du, wir sind draußen leider wohl etwas vom Weg abgekommen und in ein Blumenbeet getreten, tut uns echt leid ...“
Ich schaute auf die abgetretenen Schuhe unserer neuen Nachbarn, die schon jetzt eine deutliche Schmutzspur in unserer Diele hinterließen. Manfred und die Zwillinge standen im Durchgang zum Speisezimmer und starrten uns verdutzt an.
Norbert riss das Gespräch an sich: „Ist das eure Limousine, die dort in der Einfahrt steht? Bin vorhin etwas dagegen gestoßen … Die steht da mitten im Weg, hab vielleicht eine kleine Delle rein gedrückt, bestimmt nichts Schlimmes!“
Edeltraud drückte mir eine Tupperware-Dose in die Hände. „Schätzchen, den hab ich extra für euch gebacken. Schokokuchen. Ein altes Familienrezept!“
Mit einem Ruck zog sie den Deckel vom Behälter, eine Krümelwolke erfüllte den Vorraum.
„Ein bisschen bröselt er vielleicht, aber dafür ist er voll gut“, schwatzte die Blondine. Sie zwickte ein Stückchen vom Kuchen ab und steckte es sich in den rot lackierten Mund. Aber weil sie gerade beim Luftholen war löste das einen heftigen Hustenanfall aus, so dass sie mich jetzt mit vielen feuchten Schokokrümeln torpedierte. „Tut mir echt leid, Schätzchen“, quietschte Edeltraud und schleckte sich den Daumen und den Zeigefinger ab. „Mmh, aber wirklich voll gut!“
Jetzt stürmten die Tropies auf meine Familie los, welche immer noch wie gebannt im Durchgang stand, herzten, knuddelten und küssten sie, schüttelten Hände, streichelten Haare, Wangen und klopften Rücken. Wie in Zeitlupe sah ich Erdkrumen, Schokokuchenkrümel und Staubwolken wirbeln, Haare, Schuppen und Flusen sich verströmen und lautlos im Haus verteilen, Lurch um Lurch sich sammeln, paaren und vermehren, bis der Lurch die Weltherrschaft an sich gerissen hätte. Brokkoli!
Inzwischen verlagerte sich das Geschehen ins Esszimmer. Norbert löffelte aus dem Suppentopf und schmatzte anerkennend: „Mensch, was für ne gute Suppe!“, wischte sich den Mund am Tischtuch ab und stapfte pfeifend ins Wohnzimmer, während er sich eine Zigarette anzündete.
„Nicht mit den Schuhen auf den Tep...“, dachte ich, brachte aber immer noch kein Wort heraus.
„Das muss ich auch probieren“, quengelte Edeltraud, schnappte sich den Suppenlöffel, verlor ihn im Schwung aber wieder , sodass er gegen den Kristallluster flog, einige Teile aus dem Behang löste und auf den Teppich fiel. Ganz Kavalier bückte sich mein Manfred nach dem Löffel, wobei er auf halbem Wege mit seinem Kopf gegen den von Edeltraud stieß, welche getroffen rückwärts taumelte, nicht ohne sich dabei am Tischtuch festzuhalten, sodass sie mit einem Ruck den ganzen Esstisch abräumte.
„Ach ich kleiner Tollpatsch“, kicherte die Gestrauchelte und versuchte sich aufzurappeln. Sie stützte sich auf das Beistelltischchen, welches zur Seite kippte. Mutters gute Bleikristallvase fiel zu Boden und zerstob explosionsartig. Edeltraud seufzte: „Ach du Scheiße!“ und plumpste hart auf ihren kleinen, knochigen Hintern. Vom Tumult angezogen stürmte Norbert wieder ins Esszimmer.
„Schatzi, alles in Ordnung?“
„Nichts passiert“, flötete Edeltraud.
Norbert streckte die Hand nach ihr aus, übersah das umgestürzte Tischchen und stolperte darüber, prallte mit voller Wucht gegen die Empire-Kommode, welche durch den Stoß, während ächzend zwei ihrer Beine einknickten, so weit verrutschte, dass sie die Art-Deco-Stehlampe umstieß, die ihrerseits drei alte Meister von der Wand fegte und den Servierwagen zerstörte, während er selbst mit der anderen Hand einen Vorhang-Seitenteil packte und diesen, sowie die Edelmetall-Karniesenstange samt Gardinen mit sich riss.
Die Tropies rappelten sich ächzend wieder auf.
„Hui!“, entfuhr es Edeltraud kichernd. „Da haben wir aber mal Glück gehabt. Nichts passiert!“
Norbert stand ebenfalls wieder auf seinen Beinen und schüttelte einen Schwall von Holz- und Glassplittern, Krümeln und Undefinierbarem von sich ab.
„Ja, nichts passiert“, kommentierte auch er die Situation, nahm sein Schatzi an der Hand und machte sich mit ihr auf den Weg Richtung Haustür.
„ Danke für den schönen Abend! Wir vertschüssen uns dann jetzt. Kommt doch auch mal bei uns vorbei. Und keine Sorge wegen der paar Kleinigkeiten! Morgen holen wir uns einen Versicherungsvertreter ins Haus und schließen einen guten Vertrag ab!“
Brokkoli!
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2018
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