Der Eingang lag versteckt in einem Hinterhof und wenn ich die Adresse nicht krampfhaft in der Hand gehalten und mehrmals überpüft hätte, wäre ich sofort umgekehrt.
Mein Herz raste, als ich vor dem Fenster stand, das von Blumen und abstrakten Bildern geschmückt war. Im Erdgeschoss, hinter dem Fabrikgelände inmitten eines Industriegebiets, das ich nach stundenlanger Fahrt endlich erreicht hatte.
Vorsichtig näherte ich mich dem Gebäude, von dem ich dieses Studio nie erwartet hätte.
„Lars Lander“ stand am Klingelschild. Genau der Name, der mir seit Tagen im Kopf herumspukte. Wundersame Märchen habe ich über ihn gehört, doch genau genommen kam mir das jetzt alles als eine Utopie vor, dass er mir helfen konnte.
Vorsichtig drückte ich auf den Klingelknopf und wusste nicht, ob ich wollte, dass er öffnete oder lieber, dass mir das Gespräch erspart bliebe.
Keine zehn Sekunden später öffnete mir ein kleines Mädchen, dessen Haarzopf schräg am Kopf hing und hinter ihr lag eine stinknormale Wohnung, die ich bestimmt nicht erwartet hätte.
„Lena!“, kam es barsch von hinten. „Du sollst doch nicht die Türe öffnen, wenn ich beschäftigt bin!“ Als ich das Alter der Kleinen auf vier geschätzt hatte, kam ein langhaariger Mann hinter einem Vorhang hervor, dessen Jeans unten zerfranst waren.
„Guten Tag“, meinte er zu mir und reichte mir die Hand. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich … äh … ich weiß nicht“, krächzte ich, als er in voller Größe vor mir stand.
Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er mich betrachtete und ich hätte am liebsten sofort kehrtgemacht. Mein Wunsch war zu groß, als dass ihn ein Mensch erfüllen konnte.
„Aber es gab doch sicher einen Grund, warum Sie bei mir geklingelt haben, oder?“
Ich schluckte und versuchte mir so schnell wie möglich eine Ausrede einfallen zu lassen, obwohl ich einzig und allein die Reise wegen ihm angetreten hatte, dem 3D-Künstler Lars Lander.
„Willst du von meinem Papa verschönert werden?“, plapperte die Kleine dazwischen.
Verlegen schielte ich auf meine Fußspitzen. Das würde ihm nicht gelingen, da war ich mir tausendprozentig sicher.
„Ich weiß nicht“, kam es murmelnd und die Idee einfach zu flüchten, war greifbar nahe.
„Vielleicht einfach mal gucken?“, schlug er vor. „Ich bin Lars und dieser Frechdachs ist meine Tochter. Eigentlich habe ich vor einer Stunde mit Besuch gerechnet, aber das macht jetzt nichts. Ich nehme noch die Nudeln vom Herd, dann kann ich dir alles zeigen und dir deine Fragen beantworten.“
Ich nickte, obwohl ich das eigentlich nicht wollte, so viel Schiss hatte ich vor einer Behandlung wie dieser. Die Idee hierher zu kommen, war idiotisch. 280 Kilometer, nur weil er angeblich der Beste in seinem Gebiet sein sollte.
Nachdenklich trat ich ein. Es roch nach Essen und sah ganz so aus, als hätte ich die kleine Familie gerade gestört.
„Ich kann auch später noch einmal wiederkommen, wenn es jetzt nicht passt.“
Er lächelte und eine kleine Zahnlücke wurde sichtbar. Süß sah das aus, auch wenn es nicht dem Schönheitsideal der Modewelt entsprach. Ihn schien es nicht zu stören.
„Wir essen jetzt erst einmal, dann stehe ich dir zur Verfügung, okay?“
Mein Nicken nahm er zur Kenntnis und verschwand in der danebenliegenden Küche, während ich versuchte, einen Blick in den Raum zu meiner Rechten zu werfen. Doch die Tür war zu weit angelehnt, sodass ich nur einen kleinen Spalt hineinspicken konnte. Blaue Wandfarbe, mehr erkannte ich nicht.
„Setz dich doch. Ich gebe dir auch ein paar Nudeln. Lena wollte heute Spaghetti, deswegen habe ich sie gerade gekocht.“
Die Kleine stieg auf einen Hocker, um Teller vom Regal zu holen, bevor sie sie eifrig abstellte.
Vor mir stellte sie ebenfalls einen hin, obwohl ich überhaupt keinen Appetit verspürte. Ein dicker Kloß hatte sich in meinen Hals breitgemacht und versperrte jegliches Hungergefühl.
„Orangensaft oder Wasser?“, wollte Lars wissen und hob die Flasche an.
„Ich weiß nicht …“
Mir war nicht gut, hier mir ihm zu sitzen. Erstens war ich eine Stunde zu spät, weil ich mich verfahren hatte und dann nicht mehr traute hier aufzutauchen, und zweitens wusste ich nicht, ob ich das alles behalten konnte, wenn ich jetzt noch etwas aß oder trank.
Lena deutete auf den Saft und ich nickte ihr leicht zu, sodass er mir davon einschenkte. Das Zittern meiner Hände entging ihm nicht, als ich davon trank und sein Blick ruhte lange auf mir.
Wenige Nudeln nahm ich zu mir und die rote Soße schmeckte wunderbar dazu. Lars lächelte, als er sah, dass ich mich ein wenig beruhigt hatte.
„Ist alles gut bei dir?“, wollte er wissen, als Lena in den Garten verschwand. Ich nickte nur und hätte auch nicht gewusst, was ich ihm sagen sollte. Viel zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum.
Als er mich in den Behandlungsraum in den hinteren Wohntrakt führte, erkannte ich, dass ich wohl am falschen Eingang geläutet hatte. Hier befanden sich abgetrennte Bereiche, in denen Liegen, Stühle und allerlei technisches Zubehört standen.
Fotos seiner Arbeiten hingen an den Wänden im Flur, und als ich nähertrat, hielt ich die Luft an. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ein Tattoo so lebensecht wirken konnte.
Eine Frau lachte auf einem Bild in die Kamera, dabei hielt sie eine Hand vor ihrer Brust, die aber nicht ganz verdeckt war, sodass die Brustwarze hervorlugte.
„Schau es dir genau an“, dabei reichte er ihr eine Lupe. „So kann es bei dir auch wieder aussehen, Nelly.“
Er wusste, wer ich war, schließlich hatten wir Tage zuvor telefoniert und er wusste, warum ich zu ihm kommen wollte.
Fassungslos starrte ich die Frau an.
„Sie hatte die gleiche Diagnose und wollte ihre Freundin damit überraschen.“
Mit aufgerissenen Augen starrte ich die Aufnahme an. Auf den ersten Blick würde niemand erkennen, dass dieser Künstler in 3D-Optik die Brustwarze wieder hergestellt hatte. Es sah aus wie echt.
Vor Aufregung hielt ich den Atem an.
„Schau mal, das sind die Dinge, die ich dabei brauche.“ Er zeigte ihr Nadeln, Pinsel, Farben und einiges andere und ich durfte alles berühren und mich damit vertraut machen.
„Ich weiß nicht, ob ich mich das traue“, gestand ich ihm. „Ich habe im Netz einige verpfuschte Tattoos gesehen, und wie schwer es war, etwas Neues darüber zu stechen oder es wegzulasern …“
Er nickte zustimmend.
„Das stimmt und das solltest du dir gut überlegen. Ich überrede dich zu nichts. Es ist deine Entscheidung … und vielleicht auch die deines Partners.“
Laut schluckte ich, denn mein Mann war seit der Brust-OP bereits damit zufrieden, dass ich den Eingriff überlebt habe und es mir gesundheitlich wieder gut ging. Natürlich würde es noch Jahre dauern, bis davon auszugehen ist, dass der Krebs besiegt war, aber im Grunde ging es mir jetzt körperlich wieder gut. Nur seelisch litt ich seit zwei Jahren darunter, dass Sylikon zwar wieder ein wenig vom Brustansatz hervorzaubern konnte, doch ohne Brustwarze fühlte ich mich nicht als Frau. Das hatte auch Auswirkungen auf unseren sexuellen Bereich, aber auch auf mein Hobby.
Denn gerade im Sport kam es vor, dass ich mich umziehen und mit den Blicken der anderen Frauen rechnen musste. Mein Körper empfand ich so nicht mehr als schön und ich hätte gern, dass es zumindest so aussah, als wäre alles in Ordnung, sodass ich mich nicht für mein Äußeres schämte. Ich wollte ohne negative Gedanken an mein Aussehen wieder vor anderen Menschen stehen können.
Ob das an meiner Eitelkeit lag? Ich wollte mich in meinem Körper wieder wohlfühlen, sodass ich mich im Spiegel wieder ohne Würgreiz ...
Meine Entscheidung war getroffen.
Lars besah sich meinen Oberkörper, tastete mich vorsichtig ab und machte Fotos von mir. Beim Gedanken, dass er mich bald stechen würde, wurde mir mulmig.
„Ich gebe dir noch ein paar Infos mit, und wenn du Fragen hast, dann ruf mich an, Nelly, ja? Scheu dich nicht, es ist dein Körper, um den es geht. Es ist auch kein Problem, wenn du abbrechen möchtest oder wir ein paar Tage mehr einplanen. Du bestimmst und ich gebe mir die größte Mühe, dass du dich wieder lieben kannst.“
Tränen stiegen mir in die Augen. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Kommt dein Mann mit?“
Ich zuckte die Achseln. „Ich habe es ihm gesagt, aber ich weiß es noch nicht. Vielleicht überrasche ich ihn einfach und nehme mir für diese Zeit hier ein Zimmer.“
Lars nickte zustimmend. „Komm mit dem Zug hierher. Denn Autofahren ist am Anfang etwas unangenehm mit Sicherheitsgurte …“
Ich nickte. Gut, dass er an solche Kleinigkeiten dachte.
„Danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast“, murmelte ich. Lena spielte draußen mit einer Nachbarin und deren Tochter im Garten.
„Gerne. Ich möchte, dass es dir wieder gutgeht, okay?“
Vollkommen zufrieden drehte ich mich zur Türe. Er konnte alle Fragen zu meiner Zufriedenheit beantworten und hatte mir medizinische Hinweise mitgegeben.
„Danke, Lars. Dr. Maurer hat mir dich empfohlen und er hat gesagt, dass du Wunderhände hast. Ich vertraue dir.“
Lars schmunzelte. „Wunderhände, die gleich noch im Garten buddeln müssen“, zwinkerte er mir zu. „Rufe mich an und dann machen wir uns daran.“
Als die Haustür leise ins Schloss fiel, hatte ich meine Entscheidung getroffen. Nächste Woche wollte ich damit anfangen. Meinem Mann würde es bestimmt genauso gefallen wie mir. Ich freute mich darauf.
3D-Tattoos können Menschen das Leben retten, indem sie sich wieder in ihrer Haut wohlfühlen.
Dabei erinnerte ich mich an die Fotos aus der Gesichtschirurgie, Verbrennungen, Narben und Verätzungen von Männern und Frauen, denen diese Kunstart half, um sich wieder ansehen zu können.
Mit einem zufriedenen Seufzer fuhr ich wieder zurück, um mit meinem Mann alles zu besprechen. Nicht für ihn wollte ich es machen, sondern für uns. Es sollte für uns ein neues Leben beginnen und diese Überraschung wollte ich uns gönnen.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2018
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