Ich hab mir wirklich nie und nimmer etwas aus all diesen trendigen Körper-Verschlimmbesserungs-Methoden gemacht. Aufwendig designte Bärte oder Frisuren sind einfach nicht mein Fall. Ach, diese Bärte in allen Formen, Farben und Längen. Kinnlang, halslang, brustlang, knielang, bodenlang. Die reinsten Stolperfallen. Ebenso die Haarpracht in allen Variationen, Designs, Farben und Längen. Ratzeputz einfach abschneiden und fertig. Keine Zeit vergeuden etwas zu verschönern, was nicht zu verschönern ist. Bin so schon schön genug … Auch Halsketten, Ringe, Krawattennadeln, Manschettenknöpfe oder Armbanduhren wollte ich nie tragen. Warum diesen überflüssigen Ballast den ganzen Tag mit sich herumschleppen? Das Leben ist schwer genug! Und dann erst all die schmerzhaften „Verschönerungsmethoden“. Piercings an allen passenden und unpassenden Stellen. Faustgroße Löcher in den Ohrläppchen. Stacheldrahtarmbänder oder Lippenrasierklingen. Nein, das konnte mir alles gestohlen bleiben. Das konnte ich nicht und das wollte ich nicht! Und und zu schlechter Letzt noch diese unselige Tätowiererei. Wandelnde Kunstgalerien auf zwei Beinen. Man weiß oft wirklich nicht wohin man wegschauen soll, überall nur noch Tätowierte. Sogar Peter, mein bester Freund hat sich inzwischen zum illustrierten Mann entwickelt. Fast wäre unsere Freundschaft daran zerbrochen. Ich weigerte mich in der Öffentlichkeit mit dieser personifizierten Bilderflut gesehen zu werden. Die reinste Reizüberflutung. Illuminationen-Overkill. Er weigerte sich einen Schleier zu tragen. Von wegen gesetzliche Einschränkungen. Jetzt trinken wir uns Bier eben bei mir zuhause …
Und dann kam Anna. Für immer sollte es sein. Und für ewig. Liebe, Treue, Eierkuchen. Eine strahlende, glückliche Zukunft stand uns bevor. Ich liebte die Leichtigkeit, mit der sie durch ihr Leben flatterte. Und den Sonnenschein mit dem sie mein Leben erleuchtete. Der Nasenring, der ihr wie ein Tröpfchen von der Nase hing störte mich kaum. So ein süßes Tröpfchen! Und auch der kleine tätowierte Kolibri in ihrem Nacken war eigentlich ganz niedlich.
Und durch ihr liebliches Lächeln, ihre betörenden Wangengrübchen, ihre goldenen Locken und nach einigen innigen Küssen ließ ich mich von ihr also doch zu einem Tattoo überreden. Ein „Anna für immer!“, klassisch über meinen rechten Unterarm geschwungen. Mit einer Farbe, die in der Nacht fluoreszierte und sich auch an die Stimmung des Trägers anpasste. Der letzte Schrei! Schrecklich, aber was tut man nicht alles für die Liebe.
Der Tätowierer, selbst ein wandelndes Bilderbuch, glich einem unförmigen Waldschrat. Mit all den Attributen, die heutzutage einen richtigen Mann so ausmachen. Grüne Igelfrisur, Bart bis zum Nabel, gepiercte Augenbrauen und wer weiß sonst was noch alles. Nicht sehr mitteilungsbedürftig gab er nur die notwendigsten Anweisungen.
„Liegen oder sitzen?“
Nachdem ich der Ohnmacht schon ziemlich nahe war entschied ich mich fürs Liegen.
„Kann ich bitte eine Narkose haben?“, winselte ich unterwürfig. Dem Waldschrat entfuhr ein hämisches Fauchen.
„Oder wenigstens eine lokale Betäubung?“
Aber der Schrat war schon ganz in seine Kunst vertieft. Die Kunst des Quälens. Die Kunst möglichst viel Schmerz mit möglichst wenig Aufwand zu verursachen. Die Kuns ...
Als die Dunkelheit der Ohnmacht sich aufhellte saß Anna neben mir und hielt mir die Hand. Sie lächelte mich liebevoll an. Der Folterknecht werkte immer noch an meinem Unterarm. Nur der Schmerz war vergangen. Stattdessen breitete sich eine angenehme Euphorie in mir aus. Anna tupfte mir den Schweiß von der Stirn und fächelte mir Kühlung zu. Ich verlor mich in ihrem Anblick und in dem mich durchflutenden Hochgefühl.
Dann war das Kunstwerk fertig. Mein verschleierter Blick fiel auf den klassisch anmutenden Schriftzug. Ein gelb-violettes „Anna für immer“ prangte an meinem Unterarm. Gar nicht so übel eigentlich. Aber diese Schmerzerinnerung! Manchmal muss Liebe weh tun …
„Farbe pendelt sich noch ein“, murmelte der Waldschrat und folierte meinen Arm. „Folie kannst übermorgen abmachen.“
Am nächsten Tag war Anna weg. Auf und davon. Nur ein Zettel lag auf dem Küchentisch. Sie müsse endlich wieder weiterziehen und ich hätte ja jetzt eine bleibende Erinnerung. Sie würde mich vermissen.
Ich blieb zurück, einsam und verlassen. Mit meinem folierten Unterarm und meinem Anna-Tattoo. Für immer.
Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, also eine Woche später, begab ich mich noch einmal in die Höhle des Löwen. Wer so eine Beschriftung anbringen konnte, der musste sie doch auch entfernen können. War doch logisch!
„Geht nicht“, brummte der Waldschrat, nachdem ich ihm mein Leid geklagt hatte.
„Geht nicht?“
„Geht nicht!“
„Und warum soll das nicht gehen?“
„Spezialfarbe kann man nicht lasern. Explosionsgefahr!“
Mir wurde schwarz vor Augen. „Explosionsgefahr?“
„Wenn es zu heiß wird explodiert es. Nicht zu lange in die Sonne damit. Und kein Solarium.“
„Ok, danke für den Hinweis“, dachte ich, „der hätte jetzt aber auch leicht zu spät kommen können ...“
„Und was soll ich denn bitte jetzt tun?“, fragte ich flehentlich.
„Drüber schreiben. Ein Ganzkörpertattoo, dann fällt das nicht mehr so au ...“
Als die Dunkelheit der Ohnmacht sich aufhellte lag ich wieder auf der Pritsche. Der Schrat war über mich gebeugt und tätschelte mir die Wangen.
„Na?“, fragte er anteilnehmend.
Während ich Peter mein Leid klagte, kriegte der sich fast nicht mehr ein vor lauter lachen.
„Und das soll ein Problem sein?“, kicherte er schadenfreudig. „Kannst du dich noch an Lisa erinnern?“
„Ja, natürlich“, entgegnete ich, „aber was hat das jetzt damit zu tun?“
Peter schob sein T-Shirt in die Höhe. Über seine Brust geschwungen prangte ein weit geschweiftes „Lisa“.
„Oder kannst du dich noch an Petra erinnern oder an Magda oder an Maria?“
Peter drehte sich und hob das Shirt über den Rücken. Zwischen all den bunten Bildchen erkannte ich jetzt die Namen von Peters Ex-Freundinnen.
„Und erinnerst du dich an Dolores?“
Ich konnte gerade noch verhindern, dass Peter sich die Hose vom Hintern zog, auf dem wohl die letztgenannte verewigt war.
„Was ich damit sagen will“, murmelte Peter jetzt ernst und legte seinen Arm kumpelhaft auf meine Schulter, „du musst diese Gelegenheit als Chance nutzen. Leg dir auch so ein Hautregister deiner Verflossenen an. Dann haben diese ganzen Geschichten auch ihr Gutes!“
Ich konnte dieser Verewigung des Scheiterns nicht positives abgewinnen. Es musste doch noch eine andere Lösung geben.
Also gab ich in meiner Verzweiflung diese Kleinanzeige auf. Ein letzter Strohhalm.
„Suche Freundin!
Alter: Egal
Aussehen: Egal
Sprache: Egal
Herkunft: Egal
Name: Anna
Ich, 27, hab ein Tattooproblem“
Natürlich war das eine Schnapsidee. Ich rechnete nicht wirklich damit, dass diese Anzeige zur Lösung meines Problems beitragen konnte. Und es meldete sich verständlicherweise auch wirklich keine einzige Anna, die mir aus meiner Notlage helfen hätte wollen.
Bis eines Tages dieser Typ vor der Tür stand. Klein, mit leichtem Buckel. Ein Kopf, der zu groß für den schmächtigen Körper war. Eine Brille, die zu groß für den zu großen Kopf war. Und Ohren, die weit ab standen vom zu großen Kopf. Mit nervöser Fistelstimme fragte er: „Äh, sie haben ein Tattoo-Problem?“
Ich bejahte unwirsch und wollte die Tür schließen. Er schob schnell seinen kleinen schwarz beschuhten Fuß in den Türspalt. „Äh, ich kann ihnen vermutlich helfen ...“
Der kleine Großkopf stellte sich als Seifried Blum vor, seines Zeichens freier Erfinder und Problemlöser. Er habe, erklärte er umständlich, schon vor langer Zeit eine hautfarbene Tätowierfarbe entwickelt, die sich perfekt dem Hautteint des Trägers anpasse. So etwas wie unsichtbare Tätowiertinte …
„Und wofür soll das bitte gut sein, sich unsichtbar tätowieren zu lassen?“, fragte ich verblüfft.
„Äh, da gibt es verschiedene Möglichkeiten“, fistelte Seifried. „Da gibt es Schmerzjunkies die stehen voll drauf tätowiert zu werden, aber ohne sichtbare Auswirkungen davon tragen zu wollen. Oder denken sie an die Möglichkeiten für Geheimdienste. Informationen die mittels solcher unsichtbaren Tattoos unentdeckt geschmuggelt werden können. Oder die Möglichkeit unliebsame Farbtattoos unsichtbar zu machen ...“
Jetzt fiel bei mir endlich der Groschen.
„Sie können also mein Tattoo überschreiben, so dass man es nicht mehr sehen kann?“
„Äh, ja so in etwa stelle ich mir das vor.“
Ich zeigte Seifried meinen Unterarm. Freudig erregt tastete er über den Schriftzug.
„Sie meinen also sie bekommen das weg?“
„Äh, aber natürlich!“, antwortete er voller Zuversicht.
„Und müssen sie mich noch einmal tätowieren, also noch einmal ...“
„Äh, nein, nein“, fiepste Seifried und zückte eine kleine Injektionsnadel. „Ein Stich genügt. Das Infiltrat breitet sich dann in der Originaltätowierung aus und nimmt nach einiger Zeit die Farbe der Umgebungshaut an.“
Ich seufzte: „Ein einziger Stich ist zwar ein ganzer Stich zu viel. Aber das Auslöschen dieser unliebsamen Erinnerung sollte mir das wert sein ...“
Die Nadel näherte sich meinem Arm.
„Sagen sie, Seifried, wie funktioniert das eigentlich? Wie kann sich die Farbe der Haut angleichen?“
„Äh, das macht das Chamäleon-Extrakt“, murmelte Seifried, während er die Nadel in meinem Unterarm versenk ...
Als die Dunkelheit der Ohnmacht sich aufhellte war ich allein. Seifried hatte wohl die Flucht ergriffen. Wahrscheinlich war etwas schiefgegangen. Ich betrachtete eingehend meinen Arm und war verblüfft. Keine Spur vom Anna-Schriftzug. Kein Rand, keine Farbabweichung, keine irgendwie geartete Verfärbung. Endlich erlöst vom Tattoo des Grauens!
Vor dem Spiegel dann die Ernüchterung: Ein in Regenbogenfarben pulsierendes „Anna“ wanderte gemächlich über meine rechte Gesichtshälfte auf die Stirn und verschwand allmählich im Haaransatz. Dafür tauchte jetzt aus dem linken Ohr ein tiefschwarzes „für“ auf und glitt den Hals entlang hinab unter den Hemdkragen. Ich riss mir das Hemd vom Leib. Gerade kreuzte das „für“ den Weg eines grünen „immer!“. Beide verschwanden in Richtung Rücken. Aus der Hose kletterte das inzwischen gelbe Anna hoch um ebenfalls auf meine Rückseite zu wandern. Im Spiegel sah ich mein entsetztes Gesicht mit seinem weit geöffneten, schreienden Mund un …
Als die Dunkelheit der Ohnmacht sich aufhellte fasste ich einen verzweifelten Entschluss. Der Waldschrat war sichtlich gerührt mich wiederzusehen, während ich fühlte wie ein pinkes „immer! Anna“ über meine Stirn wanderte. Er verkniff sich ein lauthalses Lachen und führte mich zu meinem Stammplatz auf der Pritsche.
„Vollkörpertattoo?“, hauchte er einfühlsam.
„Vollkörpertat ...
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2018
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