Stiche unter die Haut, die süchtig machen, die nicht schmerzen, jedenfalls nicht richtig. Oder, noch besser beschrieben, nur dann schmerzen, wenn sie einem zugefügt werden. Doch diese Schmerzen kann man ertragen. Es ist mehr wie ein leises Kribbeln, als wenn man zart über die Haut streicht oder wie ein leichter elektrischer Schlag. Ein Bienenstich ist schlimmer.
Ich liebe diese kribbelnden Stiche und das, was sie hinterlassen, das Bild der Erinnerung, das man sich selbst ausgesucht hat. Sie beruhigen mich, machen mich glücklich und erinnern mich, bringen mich aber auch zum Weinen, wenn die Erinnerungen daran zu schmerzlich sind.
Ja, Erinnerungen. Die kann einem niemand wegnehmen. Sie brennen sich ein ins Gedächtnis, auf ewig mit einem verbunden. Bis dass der Tod euch scheidet, spricht der Pfarrer weise, wenn ein Brautpaar vor ihm steht und sich trauen lässt. Er spricht von Liebe, Vertrauen, Gemeinsamkeit und gegenseitiger Akzeptanz.
So ist es auch mit den Stichen, die ein Bild unter der Haut hinterlassen. Bis dass der Tod uns scheidet. Eigentlich nicht einmal da, denn sie verlassen mit einem gemeinsam die Welt. Hat man sie einmal, hat man sie für immer, bis in alle Ewigkeit. Ich habe sie gewählt, für mich, nur für mich, für niemand anders. Auch wenn ich manchmal komisch angeschaut oder gefragt werde von Außenstehenden, die den Sinn der Bilder nicht verstehen. Müssen sie auch nicht. Sie müssen nicht damit leben, nur ich allein. Doch ich lebe gerne mit ihnen, denn sie sind ein Teil von mir, ein Teil meines Ichs.
Da gibt es Momente, Situationen oder auch nur ein Duft, ein Wort und schon sind sie da, die Erinnerungen. Manche, da denkt man gerne daran, aber manche, die will man nie wiedersehen, geschweige denn spüren.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich ihn sah, wie er leichenblass und an Maschinen angeschlossen auf dem Bett lag, mehr tot als lebendig. Ich stand da und wusste keine Worte, nur Tränen, Schmerz, unheimlich bitterer Schmerz durchzog mich. Doch ich blieb, auch wenn ich es kaum ertragen konnte. Ich durfte nicht gehen, ich musste bleiben, für ihn, der mehr in meinem Leben bedeutete, als alles, was vorher war. Nein, ich konnte nicht gehen, auch wenn sich alles in mir sträubte, ihn so liegen zu sehen. Ärzte standen um mich herum, erklärten, was geschehen war. Ich hörte kaum die Worte, die sie zu mir sprachen.
Ich fühlte mich leer, krank, ausgelaugt. Dabei war er es, der weitaus schlimmer dran war als ich, denn er musste gehen, für immer. Doch weinte er? Nein, das tat er nicht. Wusste er, dass seine Zeit zu Ende war? Diese Frage kann niemand beantworten, auch ich nicht und er nicht mehr.
Als es vorbei war, ich schrie, nein, ich will das nicht. Er soll bleiben, hier bei mir. Aber er musste gehen, weg von mir, irgendwohin, wo ich ihn nicht folgen konnte. Noch nicht, in vielen Jahren vielleicht, aber noch nicht jetzt.
Das Leben ging weiter, auch ohne ihn. Einfach so ging es weiter, als hätte es ihn nie gegeben. Ein Tag verging, dann noch einer und noch einer, bis der Monat wechselte.
Ich ließ mich stechen. Warum, ich weiß es nicht. Als Erinnerung? Ja, ganz bestimmt. Jetzt begleitet er mich, immer, solange ich lebe, solange ich atme. Niemand kann ihn mir jemals wieder nehmen, denn er ist da – unter meiner Haut.
Dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war ein Lichtblick am Horizont. Ein Lichtblick, den ich nie für möglich gehalten hätte. Lichter sind da, um einem den Weg zu erleuchten, es einem leichter zu machen. Sie verhindern, dass man stolpert auf dem oft so unebenen Weg, den man gehen muss.
Wir sahen uns an und wussten, da ist etwas, was wir nie für möglich gehalten hätten. Wir verbrachten Zeit miteinander. Doch die Zeit blieb nur sehr begrenzt. Er musste zurück und ich dorthin, wo ich herkam. Unsere Wege trennten sich wieder – für immer. Und erneut ließ ich mich stechen, zur Erinnerung, die bleiben würde, solange ich lebe. Doch dieser Schmerz tat nicht so weh. Ich wusste ja, er steht hinter mir, wenn auch unsichtbar. Auch er ist da, immer – unter meiner Haut, in meinen Gedanken, fern von mir, aber trotzdem nah.
Noch plötzlicher kam ein anderer, unscheinbarer Stern, der sich an meine Seite schlich und meinen Weg mit seinem Licht erhellte. Vorsichtig, um mich nicht zu verletzten. Er schlich sich ein, leise, aber beständig. Diesmal blieb er, der Stern. Die Tage und Monate vergingen, einer um den anderen. Das Jahr teilte sich. Der Stern blieb. Jeden Tag und jede Nacht war er da, immer an meiner Seite, mal hell, mal weniger hell, doch er war da.
Wir lachten zusammen, weinten zusammen, erinnerten uns an Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Taten wir das nicht auch? Natürlich! Schon viele Jahre war er da, der Stern. Nur sah ich ihn nie, erkannte nicht das Licht, das meinen Tag erhellen sollte. Immer standen andere Sterne im Weg, die seinen Blick auf mich verhinderten. Doch er konnte warten. Er wartete, sehr lange. So lange, bis die Gelegenheit günstig war und er endlich meinen Weg erhellen konnte.
Auch wenn unser Weg nicht immer leicht ist, wir gehen ihn gemeinsam. Er ist für mich da, ich für ihn, immer, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Sein Weg ist mein Weg, mein Weg ist sein Weg – es ist unser Weg. Er brachte mich wieder zum lachen, auch wenn mir es nicht immer zum lachen war, oder ich trauerte und wieder einmal in ein tiefes Loch fiel und in Melancholie versank.
Jetzt stehen wir vor einer gemeinsamen Entscheidung. Der Entwurf ist schon fertig. Zwei ineinander verschlungene Herzen mit den Initialen BB und HK, darunter ein Datum: 29.07.2014 – der Tag, an dem ich seine Frau wurde.
Bald werden wir sie spüren, die Stiche, die unter die Haut gehen. Doch sie werden uns nicht schmerzen, sie werden uns noch sehr viel mehr verbinden, als nur das Stück Papier, auf dem wir unsere Unterschriften setzten und das uns offiziell zu einem Ehepaar machte. Papier ist vergänglich, aber nicht die Stiche unter der Haut, die ein Bild zusammenfügen. Die werden bleiben. Für immer. Bis dass der Tod uns scheidet und noch weiter darüber hinaus.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2018
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