Claudia Friedwald saß auf der Terrasse, starrte in das Wasser des Sees, der an der Terrasse angrenzte, und dachte nach. Immer wieder spielte sie mit dem Kuli, immer wieder fiel ihr Blick auf den Kaufvertrag, den es nur noch zu unterschreiben galt.
Wie lange hatte sie gebraucht, endgültig diesen Schritt des Neuanfangs zu gehen? Was hatte sie so lange in dem anderen Leben gehalten? Sie wusste es nicht, nur, dass sie lange genug gebraucht hatte, sich von allem zu lösen und schon viel früher hätte weggehen sollen.
Claudia schaute kurz auf, als ein kleiner Spatz auf dem kleinen Tisch, der neben ihr stand, seinen Platz einnahm, sie kurz ansah und dann wieder das Weite suchte. Sie öffnete eine neue Flasche Rotwein, die schon zur Reserve bereitstand, nach und hing weiter ihren Gedanken nach.
Sechs Monate vorher …
„Frau Friedwald! Bitte kommen Sie umgehend in mein Büro!“ Claudia zuckte zusammen, als sie die barsche Stimme ihres Chefs vernahm. Ihre beiden anderen Kolleginnen, die neben und gegenüber ihr saßen, warfen sich Blicke zu, die sagten ‚Endlich wird sie zur Verantwortung gezogen‘. Ja, jetzt war es wohl soweit, und obwohl Claudia dies wusste, hatte sie ein dumpfes Gefühl in der Brust.
Zaghaft betrat sie das Büro von Herrn Stefano, der ihr mit einer schnellen und verärgerten Geste bedeutete, Platz zu nehmen. Einige Sekunden war es still in dem Raum, sie wagte nicht aufzusehen, und zuckte zusammen, als die laute Stimme von Herrn Stefano ertönte. „Ich muss mit Ihnen reden, Frau Friedwald“, dabei fuchtelte er mit einigen Papieren in der Luft, „schon wieder stimmt eine Lohnverrechnung nicht! Diesmal haben Sie die Überstunden der Reinigungskraft nicht berücksichtigt und bei Frau Müller ist die Verrechnung der Urlaubstage falsch!“ Er schnaufte kurz, setzte dann aber wieder an: „Außerdem“, er machte eine kurze Pause, „fehlen die 200 € aus der Kaffeekasse. Sie wurden beobachtet, wie Sie das Geld vorgestern Abend unbefugt entwendet haben! Zwei Kolleginnen haben das beobachtet und alles auf Video aufgenommen. Leugnen bringt also nichts!“ Er setzte sich und schaute Claudia mit vor Zorn geröteten Augen an. Er wartete auf eine Antwort.
Frau Friedwald hatte die ganze Zeit nur still zugehört, jetzt räusperte sie sich und stotterte: „Äh, ich … ähm, ich …“. Weiter kam sie nicht, da ihr der Chef das Wort abschnitt. „Ich und auch der Rest der Firma wissen, dass Sie es in den letzten Monaten nicht leicht hatten. Jeder weiß, dass Ihr Mann Sie mit einer Jüngeren betrügt, und er das Sorgerecht für Ihren 8-jährigen Sohn zugesprochen bekommen hat, weil Sie Ihr Alkoholproblem nicht im Griff haben. Es ist mir klar, dass das alles nicht leicht für Sie ist, und dennoch kann ich Ihr Verhalten nicht mehr länger dulden. Es ist firmenschädigend, da muss ich leider wirtschaftlich denken und kann keine Rücksicht auf persönliche Belange nehmen.“ Wieder machte er eine kurze Pause, dann mit voller Härte: „Sie sind fristlos entlassen!“ Herr Stefano legte ihr eine Mappe auf den Tisch, einen Kugelschreiber oben drauf, aber Claudia konnte das alles nicht mehr richtig erkennen, Tränen verschwammen ihr die Sicht. Obwohl sie es geahnt hatte, wurde ihr schlecht und sie wusste, dass sie verloren hatte, kein Wort etwas ändern würde und so nahm sie verkrampft und umständlich den Kuli in die Hand und unterschrieb jenes Papier, das sie ins Verderben stürzen würde.
Acht Jahre war sie in dem Lohnverrechnungsbüro beschäftigt, acht Jahre, die sie nur duldete, dulden musste, damit sie ihrem ungewollten Kind etwas bieten konnte, da Manfred, ihr Mann, lange arbeitslos war. Bis er vor zwei Jahren einen gut bezahlten Job als Kundenberater in einer Bank bekommen hatte, kaum noch daheim war, und die Ehe immer mehr ein Nebeneinander-Herleben war, weil er so viele Überstunden machen musste. Sie, Claudia, hätte da sofort kündigen können, kündigen müssen, um sich voll und ganz um Jonas kümmern zu können und der Ehe wieder den nötigen Pfiff zu verleihen. Aber sie blieb – trotz Kollegen, mit denen sie sich nicht verstand, und die es nicht erwarten konnten, Claudia ersetzt zu bekommen. Sie verstand selber nicht, warum sie sich dies antat, warum sie nicht einfach gegangen war. Irgendwann wurde aber dennoch der Druck zu viel, und Claudia griff zur Flasche. Anfangs war es nur ein Glas Wein zum oder nach dem Abendessen, später immer mehr, dann ein Whiskey in der Früh und schließlich erschien sie auch immer wieder mal betrunken in der Arbeit und machte mehr und mehr Fehler.
Und jetzt unterschrieb sie ihre fristlose Entlassung. Claudia ließ den Kuli entmutigt sinken und schaute beschämt auf. Noch immer starrte sie Herr Stefano an, und er ergriff wieder das Wort: „Ich bitte Sie jetzt, ihre Sachen schnellstmöglich zu packen!“ Damit gab es nichts mehr zu sagen, sie stand auf, ihre Knie zitterten und sie verließ den Raum.
Als sie in ihr Büro, in ihr ehemaliges Büro, zurückkehrte, hörte sie ihre beiden Kolleginnen tuscheln. Sie sagten nichts, und auch Claudia schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Viel zu packen hatte sie nicht und so war sie nach 15 Minuten fertig und verließ ohne ein einziges Wort des Abschieds das Bürogebäude für immer.
Mit dem Tag der Entlassung fiel Claudia endgültig in ein tiefes Loch. Sie verließ ihre Wohnung nicht mehr, zum Einkaufen schickte sie Nachbarn mit der Ausrede, sie sei hartnäckig erkältet, was kein Ende nehmen wollte, und tröstete sich immer mehr im Alkohol, mit einem Mix aus Tabletten, um sich still und heimlich das Leben nehmen zu können. Aber der Gedanke an Jonas, ihren Sohn, hielt sie aufrecht und so kotzte sie jedes Mal in die Kloschüssel, bevor sie darüber zusammenbrach.
Claudia wusste, dass sie neu beginnen musste und vor allen Dingen, dass sie Hilfe benötigte. Schon allein wegen ihrem Sohn und der Hoffnung, ihre Familie wieder zurück zu bekommen. Nur wie und wo sollte sie beginnen? In der Nacht drehte und wälzte sie sich im Bett hin und her und fand oft erst in den frühen Morgenstunden den Schlaf.
Eines Tages, als Claudia wieder einmal ihren Einkauf, der von einer Nachbarin wie immer vor der Tür abgestellt wurde, in die Wohnung trug, sah sie ihn. Einen dicken Katalog, der oben auf lag und als Cover Immobilien abgedruckt hatte. Sie las:
Hauser – unsere Wohnungen, Einfamilienhäuser & Ferienhäuschen. Zum Mieten & Kaufen.
Sie ließ die Einkaufstüte fallen, so fasziniert war sie von dem Katalog. Sie nahm auf dem nächsten Stuhl Platz und begann darin zu blättern.
Wunderschöne Domizile sprangen ihr entgegen, in den Bergen, außerhalb der Stadt, am Land, alles war dabei.
Besonders ein Häuschen hatte es ihr angetan. Es lag im Allgäu, in der Nähe von Kempten, und ein kleiner Badesee rundete das Plätzchen ab.
Beflügelt von einem plötzlichen Lebensmut wählte die Frau die Nummer, die unter der Anzeige vermerkt war und wartete geduldig, bis jemand am Ende der Leitung abhob. Nach dem zehnten Mal klingeln meldete sich eine tiefe Herrenstimme: „Hauser, guten Tag. Was kann ich für Sie tun? Claudia atmete tief durch und brachte ihr Anliegen eines schnellstmöglichen Besichtigungstermins hervor.
„Gerne, Frau Friedwald. Sie können gleich morgen vorbeikommen!“ Sie nickte euphorisch, was Herr Hauser natürlich nicht sehen konnte, so sagte sie. „Ähm, ja gerne.“ Die beiden machten sich noch alle wichtigen Daten aus und verabschiedeten sich dann.
Claudia war so beflügelt, dass sie sich zu Feier des Tages in ihr Lieblingskleid warf und auf sich selber anstieß.
Der Besichtigungstermin am nächsten Vormittag verlief ganz nach Claudias Vorstellungen. Sie hatte sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt. Helle, nach holz riechende Zimmer, die auch groß waren, eine Küche, die sie sich immer gewünscht hatte, und allgemein viel, viel Platz. ‚Viel Platz für Manfred, Jonas und mich‘, dachte sie, als sie nach der Besichtigung wieder auf die Terrasse trat und die frische Mittagsluft einatmete. Neugierig sah sie Herr Hauser an. „Und? Was sagen Sie?“ Claudia wusste nicht, wo sie zum Schwärmen anfangen sollte. So sagte sie: „Ich bin hin und weg. Ich habe mich auf den ersten Blick in das Haus verliebt.“ Der Immobilienmakler lächelte.
Claudia mietete sich das Häuschen erstmal für vier Monate, dann wollte sie weitersehen. Ohne noch eine Nacht darüber zu schlafen, unterschrieb sie den Mietvertrag. Herr Hauser lächelte noch immer, dann meinte er: „Wenn Sie nach diesen vier Monaten noch immer so verliebt sind, können Sie das Haus auch gerne kaufen. Den Vertrag lasse ich Ihnen auch schon mal hier!“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Herr Hauser und ließ eine befreite und glückliche Claudia zurück.
***
Jetzt wohnte sie schon drei Monate in dem Haus, das zu ihrem neuen, besseren Leben geworden war. Und sie war gespannt, was ihr dieses Leben bringen würde.
Claudia Friedwald machte nochmal einen tiefen Atemzug, ehe sie den Kugelschreiber in die Hand nahm und ihre Unterschrift unter den Kaufvertrag setzte, den sie gleich morgen bei der Post aufgeben würde.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2018
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