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Holz

Es war ein eigentlich sanftes Geräusch, eher schmatzend, als würde man den letzten Teil eines weichgekochten Eis aus der Schale löffeln. Auch als das Messer auf dem Schädelknochen kratzte, das Auge schließlich aus seiner Höhle glitt und zu Boden klatschte, klang das nicht bedrohlich. Das Erstaunlichste war daran, dass der Peiniger es hören konnte, obwohl sein Opfer trommelfellerschütternd brüllte und aus seinem Mund zwischendurch zischend Blut und Kotze spritzten. Kopfschüttelnd machte sich der Sadist über das zweite Auge her.

Ein anderes, sirrendes Geräusch ließ ihn aufblicken, und den Bruchteil eines Wimpernschlages später wurde sein Schädel vom Rumpf gerissen. Sein Gehirn glaubte noch zu sehen, wie das Blut, sein Blut, von seinem Halsstumpf nach oben spritzte, seine Nase glaubte noch, Pulverdampf zu riechen, seine Ohren meinten, noch einen Knall zu hören, bevor alles dunkel wurde.

Der Boden war schwarz von Blut. Abgeschlagene Gliedmaßen wirbelten durch die Luft und schlitterten durch den Modder aus Erbrochenem, Halbverdautem und schlichter Scheiße, der aus durchbohrten Mägen, aufgeschlitzten Därmen und abgehackten Hinterteilen stammte.

Waffengeklirre, Todesstöhnen, Wutschreie und das dumpfe Böllern der Mörser hinderten andere Landsknechte nicht daran, unter hysterischem Gelächter einen ergriffenen Feind zu pfählen. Zwei hielten die Arme fest, zwei spreizten die Beine des Opfers und ein fünfter rammte ihm genüsslich und mit aller Kraft einen Pferdespieß in den After. Dann richteten sie das jetzt nur noch röchelnde Etwas auf und versenkten das herausstehende Spießende in ein Bodenloch, während oben langsam das Leben aus dem geschundenen Körper tropfte.

Doch lange konnten sich die Mörder nicht ihrer Tat erfreuen, denn die aus dem Pulverdampf heran galoppierenden Schwertreiter hackten sie noch im Stehen buchstäblich in Stücke …

 

Sind Sie noch bei mir? Vielen Dank! Ich würde verstehen, wenn Sie das Papier einfach zusammenknüllen und ins Feuer werfen würden, richtiger gesagt, einfach löschen - es hätte nichts anderes verdient. Das ist wahrlich keine große Literatur, und mein Verleger hat nach der Einsendung meines ersten in dieser Machart geschriebenen Manuskriptes zu Recht den Kontakt zu mir abgebrochen.

Ab da konnte ich nur noch bei fragwürdigen Verlagen wie Weird Pulp, Graveyard oder auf Sado-Maso Portalen veröffentlichen.

Ich bin Schriftsteller aus Leidenschaft, ich brauche das. Aber es gibt einen exakten Zeitpunkt, ab dem ich nicht mehr schreiben, sondern nur noch das schreckliche Zeug produzieren konnte, von dem Sie gerade einen kleinen Auszug gelesen haben. Und der war wirklich harmlos, glauben Sie mir.

 

Alles fing damit an, dass ich an einer Schreibblockade litt. Mein letzter Roman lag schon seit Monaten in den Buchhandlungen, verkaufte sich auch ganz gut, ich hatte mit meiner Frau ein paar Wochen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff gemacht mit Ausflügen, Animationen, Shoppingtouren und dem ganzen Programm und war danach froh, wieder in meinem Schreibkämmerchen sitzen zu dürfen. Aber mir fiel nichts ein. Überhaupt nichts.

Ich wurde unerträglich und nervte meine Frau, bis ihr der Kragen platzte.

"Niemand hat dich gezwungen zur Kreuzfahrt, hab mich eh gewundert, dass du das mitgemacht hast, die ganzen Menschen und das Brimborium drumherum."

"Ja", bestätigte ich ihr, "es ist doch schockierend, wenn da mehrere dieser schwimmenden Hochhaussiedlungen im Hafen von Santorin oder Dubrovnik festmachen und dann wie ein Tsunami ihre Passagierflut über die kleinen Städtchen schwappen lassen! Von der Umweltbelastung der Rohöldampfer gar nicht zu reden. Und dann an Bord, diese eingebildeten Blödmänner mit ihren affektierten Weibern …" Ich weiß nicht, wie lange ich vor mich hin geschimpft habe. Meine Frau hat schließlich nur entnervt geseufzt und gesagt:

"Dann geh doch dorthin, wo keiner ist, am besten wo's kalt ist und still und dunkel, zum Donnerwetter!"

Sie hat recht, das ist es, was ich brauche!, dachte ich.

Gleich am nächsten Tag fuhr ich los, meine Frau sagte nicht einmal Tschüss. Nur ein paar Klamotten hatte ich dabei, Kreditkarte, Handy und das, was ich zum Schreiben brauchte. Eigentlich war es unerheblich, wohin es ging, Hauptsache nach Norden. Norwegen, Finnland, Schweden – egal. Und wichtig war, dass die Urlaubszeit und die Ferien vorbei waren. Keine ausgebuchten Motels, keine überlaufenen Campingplätze, keine kreuzfahrergeschädigten Hafenstädte. Ruhe, Einsamkeit, Stille, Natur – das waren meine Vorstellungen.

Aber ganz so einfach war das nicht. Auf den Campingplätzen, die auch Hütten vermieteten, waren immer noch – Leute. In den Hotels und Motels waren ebenfalls – Leute. Überall waren Leute, nicht viel, aber zu viel für mich. Nachsaison. Ich fuhr kreuz und quer, bis zufällig im Schaufenster irgendeines Ladens, ich glaube mit so Antik-Zeugs, Angebote einer Immobilienmaklerin klebten. Besonders eines hatte es mir angetan: Ein Holzhaus an einem der 100.000 Seen, mit Bootssteg, passendem Schuppen, offenem Kamin und obligatorischer Sauna. Letztere und Bootsschuppen interessierten mich nicht, auch der Preis war mir egal; was zählte war, dass die Hütte weit weg von der üblichen Zivilisationsgaudi lag. Und als Verbindung zu dem Rest der Zivilisation, den ich unbedingt brauchte, stand in der Nähe ein Mobilfunkmast, der mir Zugang zum Netz zwecks Recherche und Kommunikation mit meinem Verlag sicherte. Auch einer der gewaltigen Supermärkte, die sich in gewissen Abständen neben der Europastrasse befinden, auf der ich hier hoch gekommen war, war in akzeptabler Zeit mit dem Auto zu erreichen. In Supermärkten gibt es auch Menschen, aber die kann man betrachten wie Waren. Man muss nicht mit ihnen interagieren oder kommunizieren – ignorieren reicht.

Mit der Maklerin wurde ich schnell handelseinig, auch wenn sie kurz stockte, als ich ihr erklärte, dass ich die Hütte nicht nur drei Tage zum Angeln mieten wolle, sondern für unbestimmte längere Zeit.

"Könntest du in diesem Holzhaus leben?", fragte sie kryptisch in der für Skandinavien typischen direkten Art. Aber sie wartete keine Antwort ab, sondern dachte wohl: Time is money, more time, more money.

 

Das Haus war okay. Voll ausgestattet und möbliert. Die Möbel waren rustikal-spießig, aber das war mir egal. Der Bootsschuppen diente gleichzeitig als Holzlager für den Kamin und war gut gefüllt, und ein schwerer Schreibtisch stand am Fenster, durch das man direkt auf den einsamen, düsteren See blicken konnte. Dieser Schreibtisch war ein Detail, das die Scheußlichkeit der anderen Möbel aufwog.

Vom ersten Moment an war meine Schreibblockade verschwunden. Ich schrieb und schrieb, Tag für Tag, und ich war mit meinem ersten Projekt so schnell fertig, wie ich es vorher nie geschafft hatte.

Dann kam die Reaktion meines alten, vertrauten Verlegers. Zuerst konnte ich nicht verstehen, warum er meinen Vertrag kündigte, aber nach einiger Überlegung glaubte ich, es zu begreifen: Er war einfach ein Weichei. Ich hatte doch schon immer meine Träume in meine Geschichten eingebaut, und es hat ihm gefallen. Und ja, die Träume, die ich jetzt hatte, waren konkreter, sachlicher, nicht so gefühlsdusselig wie früher. Ja, härter, hart wie das Leben, das waren sie jetzt, hart wie der Tod. Aber das gefiel diesem Idioten anscheinend nicht.

Doch es gab ja auch andere Verleger, die meine Produkte schätzten, so what? Also schrieb ich weiter meinen neuen Stil.

Doch dann, eines Nachts – ich weiß nicht warum – erkannte ich plötzlich, dass das, was ich schrieb, irgendwie krank war, krank, wie meine Träume. Ich überflog meine Manuskripte und erschauderte vor mir selbst. Was für ein schräges, widerliches Zeug hatte ich da verfasst?!

Es war Gewalt. Üble, böse Gewaltphantasien. Und sie fanden ihre Leser. Es war dasselbe Prinzip, das Massen von Menschen in römische Kampfarenen gelockt hatte. Zerrissene Körper, Blut, Metzeleien, Todesschreie.

Aber daran ist Rom nicht untergegangen, zum Teufel, dachte ich dann jedoch, sondern an seiner Verweichlichung! Und ich schrieb wieder weiter an Geschichten, an denen die Nazi-Schlächter ihre helle Freude gehabt hätten.

Ich hatte keinen Kontakt mehr zur wirklichen Welt. Das letzte Mal hatte ich mit meiner Frau telefoniert, als ich gerade hier angekommen war. Und ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie lange das her war.

Ein kleines, unscheinbares Detail war es, was mich aus meiner verfluchten Welt herausriss: ein junger Elch. Er kam ab einem bestimmten Zeitpunkt jeden Abend an den See, trank, blickte kurz in meine Richtung und verschwand wieder im Wald.

Beim ersten Mal war ich ins Wohnzimmer geeilt, hatte die Flinte von der Wand gerissen und wollte das Tier erschießen, aber das Ding war natürlich nicht geladen, außerdem verrostet und nur ein Dekorationsstück.

Je öfter ich den Elch sah, desto – wie soll ich sagen – menschlicher wurde ich wieder. Ich sah in seine Augen und fühlte mich klein und verletzlich. Aber die entsetzlichen Träume blieben.

Und dann, eines Abends, blieb das Tier länger stehen, blickte mich wieder an und schüttelte dann sein Geweih, als wolle es zu mir sagen: Mensch, komm zu dir!

Ab da konnte ich nicht mehr aufschreiben, was mir meine grauenhaften Träume diktierten. Stattdessen begann ich zu recherchieren, ob etwas mit diesem Haus nicht stimmte. Es soll ja Orte der Kraft geben und auch Orte des Grauens. Aber über diesen friedlichen Wald fand ich nichts heraus. Ich suchte die Maklerin auf, und nach vielen Überredungsversuchen, die mir verdammt schwer fielen, und nach weiteren Recherchen über die Besitzer, Vorbesitzer und schließlich Erbauer dieses Hauses wurde mir eines klar: Keiner hat es lange hier ausgehalten. Die Liste der Eigentümer war ellenlang, obwohl das Haus noch nicht sehr alt war. Es war ein Holzgebäude, keine steinerne Burg mit grauenhafter Vorgeschichte. Und dann fand ich schließlich den Zimmerer, der das Haus errichtet hatte.

Er war schon sehr alt, lebte in einem Seniorenheim, aber er konnte sich noch sehr gut an das Gebäude erinnern, weil es immer wieder Unfälle in dem Forst gegeben hatte, aus dem das Holz für das Haus stammte. Ich forschte über dieses, etwa eine Autostunde südlich gelegene Waldstück nach, und dann wurde es mir klar.

Es wird gesagt, dass Mauersteine Unheil aufsaugen, das zwischen ihnen passiert und es dann immer wieder abgeben. Spukhäuser, Mordburgen, Schreckensgemäuer. Aber wenn Steine das können, um wie viel stärker muss das bei lebenden Wesen sein, bei Wesen, die ihre Lebenskraft aus dem Boden saugen, auf dem die grausamsten Taten begangen wurden? Ich fand heraus, dass genau dort, wo Jahrhunderte später die Bäume gewachsen sind, aus denen dieses Haus gebaut wurde, eine strategisch völlig unbedeutende und kleine aber gleichzeitig auch die brutalste und grausamste Schlacht der Nordischen Kriege stattgefunden hatte. Die Bäume haben das Grauen aufgesaugt. Sie haben es konserviert und es später, vielleicht als Rache für ihren eigenen Tod, wieder an die Bewohner dieses Hauses abgegeben. Nicht umsonst haben die Kelten jeden Baum vorher um Verzeihung gebeten, bevor sie ihn fällten. Die Germanen nicht. Keiner der Hausbewohner hat es so lange darin ausgehalten, wie ich. Sie konnten ihre Träume nicht verarbeiten. Und später wurde es nur immer für wenige Tage an Angler vermietet.

 

Dem habe ich ein Ende gesetzt. Davon war und bin ich überzeugt. Ich habe die verfluchte Hütte in Brand gesteckt, um die grauenhaften Erinnerungen ein für alle Mal auszulöschen. Ja, ich bin auch für die Folgeschäden verantwortlich, die der Brand in diesem unschuldigen Teil des Waldes angerichtet hat. In diesem Punkt bekenne ich mich für schuldig im Sinne der Anklage. Aber die Gründe für meine Brandstiftung werde ich vor Gericht für mich behalten; die Richter würden sie sowieso nicht glauben. Ich habe sie nur für Sie, lieber Leser, aufgeschrieben. Sie werden das alles natürlich als Hirngespinst oder schriftstellerische Freiheit betrachten, das sei Ihnen unbenommen. Aber ich bitte Sie: Haben Sie Respekt vor der Natur, behandeln Sie sie, wie Sie selbst behandelt werden wollen. Ich hoffe nur, dass diese etwas seltsame Internetplattform, an die ich dieses Manuskript unter Pseudonym geschickt hat, es auch veröffentlicht.

 

Das Haus war verflucht, davon bin ich überzeugt, und seinen Fluch hat es auf mich übertragen. Ich hoffe, dass wenigstens mein Psychiater mir glaubt. Denn warum sonst hätte ich meine Frau, die mich nach Monaten des Schweigens hier besucht hat zusammen mit der Maklerin, die sie hergefahren hat, brutal ermorden, zerstückeln und mit dem Haus verbrennen sollen, wie man mir vorwirft? Übrigens zwei Tage, nachdem ich mir ein richtiges Gewehr besorgt und diesen verdammten Elch endlich erschossen habe.

WARUM?

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.09.2018

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