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Das Vermächtnis

Der Regen peitschte seit einer Stunde auf die Windschutzscheibe, weswegen ich vorsichtshalber den VW-Beatle abbremste, um eine wetterbedingte Pause einzulegen, weil ich im stürmischen Treiben die Straße nicht mehr erkannte. So konnte ich dem Rausch des Prasselns, der fast schon ein musikalisches Ambiente zauberte, wenigstens etwas Positives abgewinnen.

Der Tod fuhr mit, wenn ich nicht endlich vom Gas ging. Das Prasseln schien mich immer mehr angetrieben zu haben, um von der Großstadt und all ihren hektischen Elementen zu verschwinden und abzutauchen. Freiheit wollte ich finden und fand sie doch nicht mitten in der Nacht auf einer wenig ausgeleuchteten Autobahn in Richtung Süden.

Müde legte ich den Kopf in den Nacken und versuchte die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen, die sich mit seinem Tod immer wieder durch mein Nebelhirn drängten:

Ja, ich liebte bisher den Rausch der Geschwindigkeit im quirligen Stadtleben, im aufreibenden Beruf und sogar in meiner ausgefüllten Partnerschaft. Leider hatte unsere Ehe vor fast einem Jahr ein jähes Ende genommen, als mein Mann überraschend verstarb, was niemand in seinem Alter erwartet hatte. Er stand – so wie ich – immer inmitten von Terminen und Konferenzen, mit dem Handy am Ohr. Konnten wir nicht vor Ort sein, wurden die Meetings der verschiedensten Länder der Welt per Videokonferenz in unser Büro übertragen. Die Technik machte es uns möglich, trieb uns aber immer zu schnelleren und kurzfristigeren Vertragsabschlüssen an, dass wenig Zeit für uns persönlich blieb. Unser Leben glich einem Hype, einer Flucht vor dem Hier und Jetzt. Seit wenigen Monaten war ich nun allein, mit einem Kleinkind, das gerade im Kindersitz im nächtlichen Schlaf an seinem Daumen nuckelte, als schien das im Moment das Wichtigste in seinem Leben zu sein.

Ruhe erfasste mich, als ich unseren Wonneproppen betrachtete. Ohne unseren Kleinen hätte ich Bens Tod nicht überstanden. Der kleine Benjamin brauchte mich und ich ihn, sodass ich, statt in eine tiefe Depression zu verfallen, dem Leben wieder schönere Seiten abgewinnen wollte und den Blick nach vorne richtete auf mich und unseren kleinen Piepmatz. Er war das Wichtigste, das mir von meinem geliebten Mann geblieben war und mich täglich an ihn erinnerte.

Als ich die privaten Unterlagen von ihm nach einer langen Trauerphase endlich durchgesehen hatte, fand ich seinen Brief, den er mir Wochen vor seinem überraschenden Tod geschrieben hatte. Sein Geschenk oder wohl inzwischen eher sein Vermächtnis an mich lag in der Schweiz, schrieb er. Er benannte es nicht weiter, denn es sollte eine Überraschung sein. Immer wollte er mit mir dorthin fahren, um ein paar Tage zu entspannen. Doch leider hatten der Alltag und die Arbeit uns beide aufgefressen, sodass wir nie dazu gekommen waren. Aus dem Grund wollte ich diese Tage jetzt für einen Kurzurlaub nutzen.

Wie gesagt, unser kurzes gemeinsames Leben war gekennzeichnet von Arbeit, Stress und Terminen, die auch nach Benjamins Geburt nicht aufgehört hatten und erst mit Bens Tod bei mir zu einem Umdenken geführt hatten. Das Leben war zu kurz, um es ausschließlich in den Dienst der Wirtschaft zu stellen, während man selbst auf der Strecke blieb. So interpretierte ich seinen unnötigen Absturz mit seiner Jessna.

Gestern war meine Entscheidung gefallen: Ich wollte mir den Platz, den Ben für unsere Auszeit ausgesucht hatte, ansehen und hoffte, dass ich ihm dadurch wieder ein wenig näher war. So sehr vermisste ich ihn immer noch. Wie mochte seine Überraschung aussehen?

Nach einem Kaffee aus der mitgebrachten Thermoskanne fuhr ich wesentlich langsamer weiter, um mich in der Dunkelheit auf der viel befahrenen A5 in Richtung Basel weiter in den Süden zu bewegen.

Nach mehreren Stunden konnte ich den Sonnenaufgang inmitten der kurvenreichen Passstraße in der Schweiz tatsächlich genießen. Ein neuer Tag für mich und unseren kleinen Sohn, der nach seinem Fläschchen erneut eingeschlafen war und so leider unsere Ankunft am frühen Morgen komplett verschlief.

Der See, von dem mein Mann immer geschwärmt hatte, befand sich direkt vor mir. Ich erinnerte mich noch deutlich an den Glanz in seinen Augen, wenn er davon gesprochen hatte. Mehr verriet er mir nie, denn es sollte sein Geheimnis bleiben!

Ich riss die Augen auf, als ich sah, wie die Sonne ihren hellen Schein auf dem Wasser hinterließ. Schmetterlinge tanzten von Blume zu Blume und wenige muntere Bienen surrten durch die frische Bergluft. Ich hielt überrascht den Atem an, als ich dieses wunderschöne Bild in mich aufnahm. Diese Natürlichkeit konnte ich inmitten der Stadt nie entdecken.

Nur der westliche Rand von den Bergen warf ein wenig Schatten auf die Landschaft, sodass es hier auch im Sommer nie zu heiß werden würde.

Wie von einem Magneten angezogen stieg ich aus und blickte mit einem Lächeln im Gesicht in diese malerische Landschaft. Eine Wärme und Zufriedenheit erfasste mich, die ich seit Jahren im Stadtleben nicht mehr gespürt hatte.

Die Ruhe, die hier lag, zog mich völlig in den Bann. Nur leicht erklang das Rauschen der Bäume im Hintergrund. Ich drehte mich zur Seite und erkannte das Holzhaus, das Ben für uns ausgesucht hatte.

Langsam schlenderte ich über den Uferweg in Richtung des Hauses, das sich fast majestätisch vor mir erhob.

In Gedanken sah ich uns auf der großzügigen Terrasse bei Kerzenschein ein Glas Wein trinken und schloss kurz die Augen, bevor ich mich zur Haustür bewegte. Vor mir lag ein Traum von einem Holzhaus in einer idyllischen Landschaft.

Der Schlüssel lag, wie ich aus Bens Brief bereits wusste, auf dem Türrahmen, sodass ich ohne fremde Hilfe aufschließen konnte. Innen roch es frisch, als wäre alles für seine neuen Besucher vorbereitet. Ob hier regelmäßig eine Zugehfrau aktiv war? Ben wäre es zuzutrauen, dass er das organisiert hatte.

Ich atmete tief durch, als ich eintrat und schnüffelte nach dem Holzgeruch, der sich im Haus befand, so als wäre es erst frisch erbaut worden. Lange stand ich in der Türe und ließ das Flair auf mich einwirken. Die Sonne erhellte den großen Raum von der Seeseite und mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich die Weite sah, die mich erwartete. Die bequeme Polsterlandschaft mit Blick auf die Terrasse und der malerische See luden ein, sich niederzulassen. Ich hielt den Atem an, als ich die Farbe der Couch in meiner Lieblingsfarbe lindgrün wahrnahm, so als hätte Ben hierbei ebenfalls die Finger mit im Spiel gehabt.

Ehrfürchtig schritt ich durch den Raum und blickte hinter die einzelnen Türen, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Je mehr ich entdeckte, desto mehr wuchs meine Begeisterung. Selbst an eine kleine Sauna hatte Ben gedacht, die versteckt an der Hangseite eingebaut war.

Ich trat hinaus auf die Terrasse und blickte hinaus. Wie herrlich! Es war unfassbar. Mich flutete ein ungeheures Glücksgefühl, dass ich hier sein durfte.

Ben hatte uns dieses Haus als Vermächtnis hinterlassen. Ich drehte mich um die eigene Achse und wusste, dass dies hier unsere neue Heimat werden würde. Arbeiten konnte ich von überall aus und ich wollte, dass unser Zwerg nicht vom nächsten Auto inmitten der Großstadt überrollt wurde.

Mit geschlossenen Augen sah ich Ben vor mir, wie er mich anlächelte. Er wirkte so nah vor mir, dass ich glaubte, er stände direkt vor mir.

„Danke, Ben. Das hast du gut ausgesucht!“, flüsterte ich in die Weite und hoffte, dass er mich hier inmitten der prächtigen Bergwelt hören konnte.

Dabei erinnerte ich mich noch deutlich an seine Worte: „Vielleicht sollten wir für uns einen Platz suchen, an dem wir uns wohlfühlen. Wenn du magst, dann fahren wir nächsten Sommer hin, dann kannst du dir das Haus anschauen. Es ist wie für dich gemacht und soll für dich sein, mein Schatz.“ Dabei ging ich davon aus, dass er nur von einem Urlaub in diesem Haus sprach. Nein, er hatte es gekauft, wie ich jetzt mit einem Blick auf das Namensschild an der Haustür feststellte. Wunderschön!

Es war sein Vermächtnis an mich und unseren Sohn. In dem Moment wusste ich, dass ich hier bleiben würde. Am Rande des Waldes in einem Haus am See. Eine schönere Bleibe konnte ich mir für uns nicht mehr vorstellen.

In dem Moment hörte ich ein Stimmchen. Benjamin räkelte sich und bat um Aufmerksamkeit in seinem Kindersitz im Auto.

Das Leben ging weiter, aber mit diesem Haus wäre ich immer mit Ben verbunden, egal was mir das Leben noch anderes bringen würde ...

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 07.09.2018

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