Ungläubig hielt sie den Brief in der Hand und setzte sich auf den nächst gelegenen Stuhl.
„Könntest du hier wohnen?“ Was sollte das? Als ob Michael jemals so viel Geld für eine Luxushütte aufbringen könnte.
Michael. Vor drei Monaten war er sang- und klanglos aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört – und nun das – ein Brief von irgendwo, nur mit seiner Telefonnummer und dieser Frage versehen.
Eigentlich hatte sie sich geschworen, dass die gemeinsame Zeit mit Michael vorüber war und doch – tief in ihrem Herzen war sie dem Freigeist und Traumtänzer hoffnungslos erlegen. Ja, er fehlte ihr – trotz allem.
Nein, sie würde ihn nicht anrufen, ihm nicht antworten. Zumindest nicht in den nächsten fünf Minuten!
Immer wieder gelang es ihm, sie zu überraschen, sie zu überrumpeln und jetzt mit so einem verführerischen Angebot und doch, selbst wenn, wovon sollten sie dort Leben? Norwegen, sofern sie den Poststempel richtig deuten konnte, war weder günstig noch nah.
Sollte sie wirklich alles über Bord werfen für einen Mann, der im Großen und Ganzen gesehen nur ein Kindskopf war?
Nein. Natürlich nicht! Niemals! Sie würde ihm die Meinung sagen. Jetzt gleich am Telefon.
3 Monate später
Voller Erwartung stand sie in Strömstad am Hafen und hielt Ausschau nach Michael. Ihr Gepäck hatte sie unordentlich aufeinandergestapelt und mit einer gewissen Unsicherheit, ob der Berg dem aufkommenden Wind standhalten würde, setzte sie sich einfach oben drauf.
Die Leute, die sie flüchtig grüßten, beeilten sich ihre Boote gegen den immer stärker werdenden Wind zu sichern. Da saß sie nun, inmitten vieler beschäftigter Menschen und harrte der Dinge. Sie hatte bereits mehrfach versucht, Michael zu erreichen, doch gnadenlos teilte ihr eine Stimme: „the person you are calling is not available“ mit.
Zu ihrer Erleichterung fand sie in Sichtweite ein Café, in das sie bei nun einsetzendem Regen flüchten konnte. Sie packte ihre Habe zusammen, ging hinein und bestellte sich einen Tee. Unentwegt starrte sie auf den Platz, an dem sie sich treffen wollten, doch dieser Ort blieb leer.
Regen tropfte an die Scheiben des Lokals. Tränen füllten ihre Augen und mit jeder Stunde, die sie wartete, wurde die Gewissheit größer, dass er nicht mehr kommen würde. Dass er nie mehr kommen würde.
Er hatte ihr damals am Telefon erklärt, was geschehen war. Er, der kleine Buchhalter in einem großen Logistik Unternehmen, hatte Unregelmäßigkeiten festegestellt. Nach einigen Nachforschungen, die er allesamt für sich behalten hatte, wurde ihm klar, dass seine Firma sich auf Menschenhandel eingelassen hatte und Flüchtlinge über die Grenze schmuggelte.
Er hatte seine Unterlagen und Fotos der Polizei übergeben und wurde in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Melden durfte er sich bei ihr nicht. Bei niemandem. Aber er hatte das nicht ausgehalten und ihr diesen Brief geschickt.
Vor zwei Tagen hatten sie zum letzten Mal miteinander gesprochen. „Warum hast du das riskiert?“, hatte sie gefragt. Noch immer hörte sie sein Lächeln, sah seine strahlenden Augen: „Weil ich dich liebe.“
Ende
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2018
Alle Rechte vorbehalten