Esmeralda Siebenschläfer schauderte in dem Moment, an dem sie erwachte. Sie hing etwa 10 Meter über dem Dorfplatz in einem Käfig aus Stahl, der bei jeder Bewegung, die sie machte, hin und herschwang.
Ihr wurde übel, als sie hinunter blickte und in das schmierige Grinsen des Dorfsheriffs sah, der sie verhaftet hatte.
„John Foley!“, stotterte sie erst leise, doch dann schrie sie seinen Namen lauter: „John Foley! Ihr werdet alle sterben! Die Pest wird euch heimsuchen!“
Sie hörte ihn und andere lachen. „Dein letztes schönes Wochenende, verdammte Hexe!“, rief er zurück. „Spar dir deine Spucke, denn schon morgen wirst du verdurstet sein und nicht mehr unter uns weilen!“
Esmeralda setzte sich geschlagen auf den Boden ihres Käfigs. Wie war sie nur in diese Schräglage gekommen? „Wieder einmal zu schlau gewesen“, dachte sie bei sich. „Warum konnte ich diesem Geck nicht fernbleiben? Musste ihm die Wahrheit sagen? Ich hätte das für mich behalten sollen!“
Sie wischte sich eine Träne aus den Augen, die allerdings nicht aus Verzweiflung bestand, sondern vielmehr aus Wut über sich selbst.
Sie kannte sich mit Heilkunst aus und doch hatte auch diese Gabe ihre Grenzen. Es war ihr nicht möglich gewesen, John Foleys Frau zu retten. Sie starb gestern Morgen in seinen Armen.
Sie hatte versucht, ihn zu warnen, hatte geraten, die Kranken zu separieren- aber er hatte nicht auf sie gehört. John Foley hatte sie festgenommen und so grob ins Verlies gestoßen, dass sie erst in diesem Käfig wieder aufgewacht war.
Sie hätte fliehen können, vor Foley und auch vor der Krankheit, wenn sie geschwiegen hätte, aber sie wollte nicht gehen, sondern die retten, die noch zu retten waren.
Nicht nur Foleys Frau zierten markante Beulen, auch vielen anderen ging es bereits sehr schlecht. Die Pest war der Feind, nicht sie! Die Einzige, die vielleicht das Unglück etwas abmildern konnte. Leben erhalten, Schmerzen lindern, doch Foley gab ihr die Schuld an allem und bestrafte sie, für seine Unwissenheit.
Vermutlich hatte sie sich ohnehin längst infiziert, denn auch der Heilkundigen gab die Natur kein Mittel zur Heilung gegen diese Epidemie. Sie hatte davon gehört, hatte es sogar schon einmal gesehen, damals, als sie noch ein Kind gewesen ist, in ihrer Heimatstadt.
Irgendwer schrie. Panisch liefen die Menschen unter ihr umher. „Die Hexe hat schuld! Die Hexe! Wir hätten sie verbrennen sollen, nicht einsperren, verbrennen!“ Doch niemand unternahm den Versuch, ihren Käfig wieder hinunter zu lassen.
Esmeralda sah die Welt, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Gefangen zwischen Himmel und Hölle.
Unter ihr lauerte der schwarze Tod und über ihr tauchten die Sonnenstrahlen die Erde in ein wohlig warmes Licht. Die Stimmen wurden leiser und die Zeit schien für einen Moment stillzustehen.
Schweigend hing sie ihren Gedanken nach, befreite sich von den Sorgen, die sie sich um die Menschen machte- immer gemacht hatte- und spürte den Wind auf ihrer Haut wie ein zärtliches Streicheln.
In ihrem Leben war sie oft allein gewesen, immer mit der Natur verbunden, doch niemals mehr, als wie in diesem Moment, der einer Ewigkeit gleichkam.
Sie verspürte keinen Durst, auch keinen Hunger und bemerkte erst nach einer Weile, dass die Sonne längst versunken war und der Mond am Himmel stand. Die klare, dunkle Nacht war mild und freundlich. Sterne erhellten das Himmelszelt und sie konnte deutlich die Bilder erkennen:
„Die Stadt wird sterben“, flüsterte sie dem Wind leise zu. „Bitte nimm mich mit, trag mich fort in eine andere Welt. Eine Welt, die besser ist, als diese.“
Ende
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2018
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